Urteil
Zweitversorgung mit Therapiestuhl für den Besuch einer Kindertagesstätte eines behinderten Kindes ist notwendig

Gericht:

LSG Nordrhein-Westfalen 16. Senat


Aktenzeichen:

L 16 KR 185/09


Urteil vom:

20.01.2011


Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 29.07.2009 geändert. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 3.555,59 Euro zuzüglich 4 % Zinsen aus 3.555,- Euro ab 01.02.2006 zu zahlen. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Die Revision wird zugelassen. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 3.555,59 Euro festgesetzt.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die beklagte Krankenkasse dem Sozialhilfeträger die Kosten für eine Zweitversorgung eines Kindes mit einem Therapiestuhl zu erstatten hat, der für den Besuch einer Kindertagesstätte benötigt wurde.

Die am 00.00.2002 geborene und bei der Beklagten krankenversicherte L. (Versicherte) leidet an schwerwiegenden Entwicklungsstörungen bei u.a. einem Anfallsleiden. Seit 2003 ist sie deshalb von der Beklagten u.a. mit einem Therapiestuhl ("Gamma 2") versorgt, der in der Wohnung eingesetzt wird und über 17 kg wiegt. Seit 2005 bis zur Einschulung in eine Förderschule im August 2008 besuchte sie eine heilpädagogische Kindertagesstätte. Die Kosten der heilpädagogischen Leistung einschließlich der Kosten für die Fahrten zwischen Wohnung und Einrichtung übernahm der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Kläger) nach § 54 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII), § 55 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX).

Am 03.05.2005 beantragte die Versicherte unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung und eines Kostenvoranschlages bei der Beklagten, ihr einen weiteren Therapiestuhl ("Wombat Upgrade" mit Zubehör) für den Besuch der Kindertagesstätte zur Verfügung zu stellen. Die Beklagte leitete den Antrag mit Schreiben vom 17.05.2005 an den Kläger weiter, da eine Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht gegeben sei. Der Kläger versorgte daraufhin die Versicherte für den Besuch der Kindertagesstätte mit einem im Dezember 2005 bezahlten Therapiestuhl, der in seinem Eigentum verblieb, und machte am 12.10.2005 gegenüber der Beklagten einen Erstattungsanspruch gemäß § 14 Abs. 4 SGB IX in Höhe von 3.555,59 Euro geltend, dessen Erfüllung die Beklagte unter Hinweis auf eine Entscheidung des Sozialgerichts Neuruppin ablehnte.

Mit der am 22.11.2006 zum Sozialgericht Münster (SG) erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung hat er vorgetragen: Die Versicherte benötige zum Besuch der Kindertagesstätte einen zweiten Therapiestuhl, da sie ohne Therapiestuhl nicht sitzen könne und der ihr zu Hause zur Verfügung stehende Therapiestuhl für einen täglichen Transport und einen Außeneinsatz nicht geeignet sei. Der Besuch einer Kindertagesstätte sei zur Vorbereitung des Schulbesuchs und zur Erlangung der Schulreife erforderlich. Die Ermöglichung der Integration unter Gleichaltrigen gehöre zu den Grundbedürfnissen, zu deren Sicherstellung die GKV im Rahmen der notwendigen Krankenversorgung und Hilfsmittelversorgung nach § 33 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) verpflichtet sei. Die Leistungsverweigerung der Beklagten verletze die sozialen Rechte des Kindes und gefährde hierdurch dessen körperliche und geistige Entwicklung.

Die Beklagte hat dem entgegen gehalten: Beim Behinderungsausgleich nach der dritten Alternative des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V seien nicht sämtliche direkten und indirekten Folgen einer Behinderung auszugleichen. In der GKV sei allein der Bereich der medizinischen Rehabilitation abzudecken. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation, die auch die Versorgung mit Hilfsmitteln umfassen könne, sei Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Als Hilfsmittel der GKV würden solche angesehen, die die Auswirkungen der Behinderung nicht nur in einem bestimmten Lebensbereich sondern im gesamten täglichen Leben beseitigen oder mildern und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betreffen. In diesem Sinne sei die (Erst-)Versorgung der Versicherten mit einem Therapiestuhl erfolgt. Zu den Grundbedürfnissen gehörten auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen zur Vermeidung von Vereinsamung sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens. Nach der Rechtsprechung handele es sich aber ausschließlich um Schulwissen im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht. Höchstrichterlich sei stets auch die weitergehende Hilfsmittelversorgung für Studierende verneint worden. Nichts anderes könne für die Zeit vor Beginn der Schulpflicht gelten.

Mit Urteil vom 29.07.2009 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten, die für die Zweitversorgung der Versicherten mit einem Therapiestuhl angefallen seien. Die Schulfähigkeit bzw. der Erwerb einer elementaren Schulausbildung seien als allgemeines Grundbedürfnis eines Schülers anerkannt. Die Schulfähigkeit sei aber nur insoweit als allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens im Sinne des § 33 SGB V anzusehen, als es um die Vermittlung von grundlegendem schulischen Allgemeinwissen an Schüler im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht gehe. Die GKV sei jedoch zu einer über die Schulpflicht hinausgehenden Herstellung und Sicherung der Schulfähigkeit nicht verpflichtet. Die GKV sei daher lediglich zum Ausgleich einer Behinderung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zuständig. Bei einer über die allgemeine Schulpflicht hinausgehenden Schul- und Berufsausbildung sei GKV zum Ausgleich einer Behinderung nicht verpflichtet, um die Schulfähigkeit herzustellen oder zu sichern. Dies gelte auch für den Besuch eines Kindergartens oder einer Kindertagesstätte, der dem Schulbesuch im Rahmen einer allgemeinen Schulpflicht bzw. Sonderschulpflicht vorausgehe.

Gegen das ihm am 14.08.2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 08.09.2009 die vom SG zugelassene Berufung eingelegt. Zur Begründung wiederholt er sein Vorbringen aus dem Klageverfahren. Wenn die Erlangung von Basiswissen beziehungsweise die Sicherung der Schulfähigkeit unbestritten zu den Aufgaben der GKV gehöre, müsse das doch gerade dann gelten, wenn schwerstbehinderte Kinder in einer Kindertagesstätte auf die Schule vorbereitet werden.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 29.07.2009 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an ihn 3555,59 Euro zuzüglich 4 % Zinsen aus 3555,- Euro ab dem 01.02.2006 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und betont, dass der Kindergartenbesuch durch die Versicherte eine freiwillige Maßnahme sei, die auf der Entscheidung der Kindeseltern beruhe, nicht auf einer allgemeinen Kindergartenpflicht.

Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass im Falle einer Verurteilung der Beklagten zur Erstattung des Kaufpreises der Kläger verpflichtet wäre, den in Frage stehenden Therapiestuhl Zug um Zug gegen Zahlung des Rechnungsbetrages zu übereignen; es bedürfe insoweit keines entsprechenden Vorbehaltes im Urteil. Auch besteht Einigkeit bzgl. des Zeitraumes, ab dem eine Verzinsung der vom Kläger geltend gemachten Forderung in Betracht kommt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Streitakten und der Verwaltungsakten des Klägers und der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Rechtsweg:

SG Münster Urteil vom 29.07.2009 - S 9 KR 142/06
BSG Urteil vom 03.11.2011 - B 3 KR 8/11 R

Quelle:

Justizportal des Landes NRW

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet.

Der Kläger hat aus § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX gegen die Beklagte Anspruch auf Erstattung der für den Therapiestuhl "Wombat Upgrade" aufgewandten Kosten in Höhe von 3555,59 Euro.

Wird nach Bewilligung der Leistung durch einen Rehabilitationsträger nach § 14 Abs. 1 Satz 2 bis 4 SGB IX festgestellt, dass ein anderer Rehabilitationsträger für die Leistung zuständig ist, erstattet dieser gemäß § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX dem Rehabilitationsträger, der die Leistung erbracht hat, dessen Aufwendungen nach den für diesen geltenden Rechtsvorschriften.

Die Voraussetzungen dieser Vorschrift, die dem "zweitangegangenen Träger" einen spezialgesetzlichen Erstattungsanspruch gegen den materiell-rechtlich originär zuständigen Rehabilitationsträger einräumt, der den allgemeinen Erstattungsansprüchen nach dem SGB X vorgeht und begründet ist, soweit der Versicherte von diesem die gewährte Maßnahme hätte beanspruchen können (vgl. z.B. Bundessozilagericht (BSG), Urteil vom 20.11.2008 - B 3 KR 16/08 R (Kraftknoten) m.w.N.), sind hier erfüllt. Der Kläger hat die notwendige Versorgung der Versicherten mit dem Therapiestuhl als zweitangegangener Rehabilitationsträger nach § 14 Abs. 1 Satz 1 - 4 SGB IX bewilligt, die Beklagte hat als selbständige öffentlich-rechtliche Körperschaft den Antrag an den Kläger im Sinne dieser Vorschrift weitergeleitet und für die Versorgung war ferner originär - vorrangig - die Beklagte zuständig.

Der Kläger hat der Versicherten in der heilpädagogischen Kindertagesstätte Leistungen der Eingliederungshilfe (§ 54 SGB XII iVm §§ 55 Abs. 2 Nr. 2 , 56 SGB IX) gewährt. Die Gewährung dieser heilpädagogische Maßnahmen, auf die jedes schwerstbehinderte noch nicht eingeschulte Kind Anspruch hat, fällt in die Zuständigkeit des Klägers. Zu diesen Leistungen im Vorschulalter rechnet u.a. der Transport des Kindes in die Einrichtung. Ob auch die Stellung eines Therapiestuhls als nach §§ 31, 26 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX u.a. zu gewährendes Hilfsmitteln dazu zählen könnte, weil ohne einen im Einzelfall erforderlichen individuellen Therapiestuhl, der als individuelles Hilfsmittel von der Einrichtung nicht gestellt werden muss, die Leistungen in der Tageseinrichtung, auf die das schwerst-behinderte Kind Anspruch hat, nicht erbracht werden könnten, kann hier dahin gestellt bleiben. Eine insoweit bestehende Leistungsverpflichtung des Klägers nach dem SGB XII wäre nämlich gemäß § 2 Abs. 2 SGB XII nachrangig gegenüber der hier nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V bestehenden Leistungsverpflichtung der Beklagten.

Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V in der zum Zeitpunkt der Leistungsversorgung geltenden Fassung des Art. 1 Nr. 20 lit. a bb des Gesetzes zur Modernisierung der GKV vom 14.11.2003 (BGBl I S. 2190 (§ 33 SGB V aF)) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 ausgeschlossen sind.

Die Versicherte hatte nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V aF Anspruch auf einen (zweiten) Therapiestuhl zur Nutzung in der heilpädagogischen Tageseinrichtung, weil dieser für den von der Krankenkasse geschuldeten Behinderungsausgleich im Rahmen des Notwendigen und Wirtschaftlichen (§ 12 Abs. 1 SGB V) erforderlich gewesen ist, kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens ist (vgl. hierzu BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 26) und auch nicht nach § 34 Abs. 4 SGB V aus der GKV-Versorgung ausgeschlossen ist.

Werden, wie hier, Hilfsmittel zum Ausgleich von direkten und indirekten Folgen der Behinderung benötigt werden (sog. mittelbarer Behinderungsausgleich im Sinne der Rechtsprechung des BSG (vgl. BSG SozR 4-2500 § 36 Nr. 2)) sind die Krankenkassen nach ständiger Rechtsprechung des BSG, der der Senat folgt, nur für einen Basisausgleich von Behinderungsfolgen eintrittspflichtig: Es geht insoweit nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Denn Aufgabe der GKV ist in allen Fällen allein die medizinische Rehabilitation (vgl. § 1 SGB V sowie § 6 Abs. 1 Nr. 1 iVm § 5 Nr. 1 und 3 SGB IX), also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist von der GKV deshalb nur dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Zu diesen allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehören nach ständiger Rechtsprechung des BSG das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (BSG SozR 4-2500 § 33 Nrn. 3, 7; BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 14). Bei der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Mobilitätshilfen reicht die Verantwortung der GKV über die Erschließung des Nahbereichs der Wohnung hinaus. Zu den Aufgaben der Krankenkassen gehört nämlich auch die Herstellung und die Sicherung der Schulfähigkeit eines Schülers bzw. der Erwerb einer elementaren Schulausbildung (vgl. BSG SozR 2200 § 182 Nr. 73; BSG SozR 2200 § 182b Nr. 28; BSG SozR 3-2500 § 33 Nrn. 22 und 40). Steht die Schulausbildung im Dienst der Vermittlung von grundlegendem schulischem Allgemeinwissen an Schüler im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht oder der Sonderschulpflicht (vgl. dazu BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 6), so hat ihn die Krankenkasse mit einem entsprechend geeigneten Hilfsmittel zu versorgen.

Der Besuch der Kindertagesstätte durch ein schwerstbehindertes Kind, für den hier wegen der mangelnden Transporteignung unstreitig ein zweiter Therapiestuhl benötigt wurde, dient zur Überzeugung des Senats, wie der Besuch eines Kindergartens für behinderte Dreijährige überhaupt, der Befriedigung von Grundbedürfnissen im vorbezeichneten Sinne, nämlich der Integration des Kindes wie seiner Vorbereitung auf den Erwerb schulischen Allgemeinwissens (vgl. auch LSG NRW, Urteil vom 23.09.2010 - L 5 KR 117/09 (Revision anhängig: B 3 KR 13/10 R); SG Karlsruhe, Urteil vom 08.08.2007 - S 5 KR 5364/06; SG Würzburg, Urteil vom 13.04.2010 - S 4 KR 426/08).

Nach § 24 SGB VIII besteht für Kinder ab dem vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schulbesuch Anspruch auf den Besuch einer Tageseinrichtung. Die ganz überwiegende Zahl der mehr als drei Jahre alten Kinder macht davon inzwischen auch Gebrauch. So lag nach der Bundesjugendstatistik 2006 die Betreuungsquote in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege der Bundesländer für Kinder von 3 bis unter 6 Jahren bei rd. 87 % im Bundesdurchschnitt. Tageseinrichtungen für Kinder und Kindertagespflege sollen nach § 22 Abs. 2 SGB VIII die Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit fördern, die Erziehung und Bildung in der Familie unterstützen und ergänzen und den Eltern dabei helfen, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser miteinander vereinbaren zu können. Der Förderungsauftrag umfasst nach § 22 Abs. 3 SGB VIII Erziehung, Bildung und Betreuung des Kindes und bezieht sich auf die soziale, emotionale, körperliche und geistige Entwicklung des Kindes. Er schließt die Vermittlung orientierender Werte und Regeln ein. Die Förderung soll sich am Alter und Entwicklungsstand, den sprachlichen und sonstigen Fähigkeiten, der Lebenssituation sowie den Interessen und Bedürfnissen des einzelnen Kindes orientieren und seine ethnische Herkunft berücksichtigen. Nach heutigem Verständnis ist der Kindergarten also auch eine Bildungseinrichtung (vgl. Struck in Wiesner, SGB VIII, 3. Aufl. 2006, vor § 22 Rz. 20). Über dieses Merkmal ist er mit der Schule verbunden, auf deren Besuch er vorbereitet. Dieser Umstand sowie die Formulierung eines Rechtsanspruchs in § 24 SGB VIII und der sehr hohe Grad der Inanspruchnahme der Einrichtungen belegen den Stellenwert des Kindergartenbesuchs und zeigen, dass er unter Berücksichtigung gesellschaftlicher wie staatlicher Einschätzung wie der Schulbesuch zum Erwerb eines schulischen Grundwissens, dem er regelmäßig und offenbar mit zunehmender Notwendigkeit vorausgeht, als Grundbedürfnis im Sinne der eingangs zitierten Rechtsprechung des BSG zum Hilfsmittelrecht zu qualifizieren ist.

Wie das BSG (SozR 3-2500 § 37 Nr. 5 (zur häuslichen Krankenpflege)) zudem betont, dienen nach § 2 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) die sozialen Rechte der Erfüllung der in § 1 SGB I genannten Aufgaben, insbesondere der Schaffung gleicher Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit junger Menschen dienten. Dazu gehört bei Kindern die Wiederherstellung und Sicherung der Möglichkeit zur sozialen Integration unter Gleichaltrigen (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 27) in einem Kindergarten bzw. in einer Kindertagesstätte sowie der Schulfähigkeit nach Eintritt der Schulpflicht (BSG SozR 2200 § 182 Nr. 73; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 22). Wenn bereits bei nicht behinderten Kindern der Besuch eines Kindergartens offenbar regelmäßig (s.o.) als zur Vorbereitung auf die Schule geboten angesehen wird, muss dies für schwerstbehinderte Kinder mit erheblichen Entwicklungsverzögerungen wie die Versicherte erst recht gelten und zwar nicht nur unter dem Aspekt der Herstellung von Schulreife, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Integration. Kinder, die wie die Versicherte in ihrer Mobilität behinderungsbedingt stark eingeschränkt sind, können nur unter Schwierigkeiten und erheblichem (u.a. Transport-) Aufwand für die Eltern Kontakt zu Gleichaltrigen pflegen und sind mehr als nicht behinderte Kinder auf organisierte und betreute Kontaktgelegenheiten, wie sie Tageseinrichtungen bieten, angewiesen. Wenn gleichzeitig beachtet wird, dass inzwischen ca. 87 % der Kinder zwischen 3 und 6 Jahren in Deutschland einen Kindergarten o.ä. besuchen (s.o.), reduziert sich die Möglichkeit zu Kontakt und Integration für ein Kinder mit Behinderung weiter. Es würde zu einer Isolierung des behinderten Kindes kommen, wenn es selbst eine solche Einrichtung nicht besuchen kann, denn die in Betracht kommenden gleichaltrigen Kontaktpersonen halten sich im Kindergarten auf und sind deshalb weitgehend nicht erreichbar.

Die Einwendungen der Beklagten und ihre Hinweise auf die Rechtsprechung des BSG zur Limitierung des Grundbedürfnisse auf Bildung auf den durch die Schulpflicht vorgegebenen Rahmen überzeugen nicht. Eine schulische Bildung nach Erfüllung der Schulpflicht oder ein Studium mögen mit der Rechtsprechung des BSG (BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 6) kein Grundbedürfnis im Sinne der mehrfach zitierten Rechtsprechung zum Hilfsmittelrecht darstellen, weil die GKV nur das staatlicherseits als Minimum angesehene Maß an Bildung zu fördern habe. Auch trifft es zu, dass es eine Kindergartenpflicht trotz entsprechender verschiedentlicher Vorstöße weiterhin nicht gibt (vgl. dazu bei Struck in Wiesner, SGB VIII, 3. Aufl. 2006, vor § 22 Rz. 12). Die Beklagte übersieht aber, dass nicht die Erfüllung der Schulpflicht das Grundbedürfnis ist, sondern der Erwerb elementarer Grundkenntnisse, und dass ein Kindergartenbesuch vor Beginn der Schulpflicht und z.B. ein Studium nach ihrer Erfüllung nicht gleich zu bewerten sind. Die Phase der Befriedigung des fraglichen Grundbedürfnisses beginnt nämlich heute, wie oben ausgeführt, nicht erst in der Schule, sondern bereits im Kindergarten bzw. in der Kindertagesstätte. Der dem Schulbesuch vorausgehende Kindergartenbesuch bereitet auf den Schulbesuch vor und soll namentlich die Schulfähigkeit gewährleisten. Er ermöglicht den Erwerb des staatlicherseits als Minimum angesehenen Maßes an Bildung und dient damit wie der Schulbesuch der Befriedigung des Grundbedürfnisses und geht, anders als ein Studium, nicht darüber hinaus.

Weil danach der Besuch der Kindertagesstätte als Grundbedürfnis anzuerkennen war, die Versicherte dazu eines Therapiestuhles bedurfte, dieser kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand ist und der der Klägerin 2003 für die Wohnung zur Verfügung gestellte Therapiestuhl zum täglichen Transport nicht geeignet war, hätte die Beklagte die Versicherte mit einem zweiten Therapiestuhl zu Lasten der GKV versorgen müssen. Der Kläger, der diese Verpflichtung für die vorrangig verpflichtete Beklagte erfüllt hat, beansprucht deshalb zu Recht die Erstattung des Kaufpreises.

Der Zinsanspruch findet seine Rechtsgrundlage in § 108 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) iVm § 44 Abs. 3 Satz 1 SGB I. Hiernach haben die Sozialhilfeträger und die anderen in § 108 Abs. 2 SGB X genannten Träger - und nur diese (vgl. BSG SozR 4-2500 § 19 Nr. 4 RdNr. 29 m.w.N.) - auf Antrag Anspruch auf Verzinsung eines Erstattungsanspruchs mit 4 v.H. für den Zeitraum nach Ablauf eines Kalendermonats nach Eingang des vollständigen, den gesamten Erstattungszeitraum umfassenden Erstattungsantrages beim zuständigen Erstattungsverpflichteten bis zum Ablauf des Kalendermonats vor der Zahlung (§ 108 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB X). Verzinst werden aber nur volle Euro-Beträge (§ 44 Abs. 3 Satz 1 SGB I). Diese Vorschriften gelten für Erstattungsansprüche nach § 14 Abs. 4 SGB IX entsprechend. § 14 Abs. 4 SGB IX begründet einen spezialgesetzlichen Erstattungsanspruch, der den allgemeinen Erstattungsansprüchen nach dem SGB X vorgeht (BSGE 98, 267, 277, 279). Soweit dessen Regelungen nicht vorgreiflich sind, gelten deshalb im Erstattungsstreit zwischen den Rehabilitationsträgern die allgemeinen Vorschriften des SGB X und damit auch die Zinsregelung des § 108 Abs 2 SGB X (BSG Urt. vom 20.11.2008 - B 3 KR 16/08 R).

Der auf volle Euro abgerundete Anspruch des Klägers auf Erstattung der Kosten des von ihm im Dezember 2005 bezahlten Therapiestuhls ist danach mit 4 % dem 01.02.2006 zu verzinsen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung.

Der Senat hat dem Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung beigemessen und deshalb die Revision zugelassen.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 1 Nr. 4 iVm § 52 Abs. 1 und 3 Gerichtskostengesetz und entspricht der Höhe des geltend gemachten Erstattungsanspruchs.

Referenznummer:

R/R4963


Informationsstand: 13.07.2011