Urteil
Klageerweiterung im Berufungsverfahren - wesentliche körperliche Behinderung - Maßnahme der Eingliederungshilfe - heilpädagogische Betreuung

Gericht:

BVerwG


Aktenzeichen:

5 C 36/84


Urteil vom:

16.01.1986


Grundlage:

  • GG Art 19 Abs 4 S 1 |
  • BSHG § 39 Abs 3 |
  • VwGO § 91 |
  • BSHG § 39 Abs 1 S 1 |
  • BSHG § 40 Abs 1 Nr 3 |
  • VwGO § 68 |
  • BSHG § 114 Abs 2 |
  • BSHG§47V § 1 Fassung 1975-02-01 |
  • BSHG§47V § 12 Fassung 1975-02-01 |
  • VwGO § 75

Leitsatz:

(Klageerweiterung im Berufungsverfahren - Eingliederungshilfe - wesentliche körperliche Behinderung - Begriff - Maßnahme der Eingliederungshilfe - Erforderlichkeit - Geeignetheit - Nachhilfeunterricht - heilpädagogische Betreuung)

1. Auch die Eingliederungshilfe ist keine rentengleiche wirtschaftliche Dauerleistung mit Versorgungscharakter. Für die gerichtliche Prüfung ist daher (regelmäßig) der letzte behördliche Bescheid maßgebend.

2. Zur Zulässigkeit der im Berufungsrechtszug erweiterten Klage unter dem Aspekt, daß zuvor das Vorverfahren durchgeführt worden sein muß.

Orientierungssatz:

1. Aus Gründen der Prozeßökonomie darf die Anwendung zwingenden Verfahrensrechts nicht unterbleiben. Daß es zunächst Sache der Verwaltung ist, sich mit (vermeintlichen) Ansprüchen eines einzelnen zu befassen, ergibt sich aus der Verfassung (Gewaltenteilung). Gerichte sind berufen, das Handeln der Verwaltung auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen. Der Zweck des Vorverfahrens würde verfehlt werden, würde das Verwaltungsgericht unter Berufung auf die Prozeßökonomie eine Sache an sich ziehen und an Stelle der Verwaltung regeln, was in Sozialhilfesachen zur weiteren Folge hätte, daß die sozial erfahrenen Personen nicht beratend beteiligt werden würden.

2. Der Umstand, daß eine Klageänderung zulässig ist, weil der Beklagte zugestimmt oder das Gericht sie als sachdienlich zugelassen hat, entbindet das Gericht nicht von der Verpflichtung, die Zulässigkeit der geänderten (erweiterten) Klage zu prüfen. Hierzu gehört ua, daß das Verwaltungsverfahren und das Vorverfahren durchgeführt worden sein müssen (es sei denn, daß die Voraussetzungen der VwGO § 75 vorliegen).

3. Selbst wenn aus schulischer Sicht sporadisch erteilter Nachhilfeunterricht - hier: 7 1/2 Stunden in zwei Monaten - für erforderlich und geeignet gehalten wird, muß unter dem Aspekt der Wechselwirkung von Behinderung und der zu ihrer Beseitigung oder Milderung ergriffenen Maßnahme gefragt werden, ob eine Behinderung wesentlich sein kann, wenn bereits eine einfach Maßnahme wie ein Nachhilfeunterricht, der für viele Kinder zum Schulalltag gehört, ausreicht, ihre Folgen zu beseitigen. Auf eine einwandfreie Feststellung der Wesentlichkeit der Behinderung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht kommt es an, weil ohne sie der Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe nicht besteht.

Diese Entscheidung wird zitiert von:

OVG Lüneburg 1988-02-11 4 B 94/88 So auch
OVG Münster 1989-08-01 13 A 1858/88 So auch

Rechtszug:

vorgehend VGH Kassel 1984-02-28 IX OE 136/81
vorgehend VG Frankfurt 1981-09-30 III/1 E 2613/81

Referenznummer:

WBRE102688603


Informationsstand: 01.01.1990