Der Senat konnte die Streitsache in Abwesenheit der Klägerin verhandeln und entscheiden, da sie mit der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 110
Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes -
SGG -; § 126
SGG).
Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Urteil des Sozialgerichts vom 15.12.1998 ist zu ändern und die Klage abzuweisen, da die Klägerin keinen Anspruch auf Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hat.
Nach § 44 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung - (
SGB VI) ist Rente zu bewilligen, wenn die Versicherte erwerbsunfähig ist, die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vorliegen und die Wartezeit erfüllt ist. Die besondere Wartezeitregelung des § 44
Abs. 3
SGB VI i. V. m. § 50
Abs. 3
SGB VI findet mangels einer ausreichenden Zahl von Kalendermonaten mit Beitragszeiten keine Anwendung. Im Falle der Klägerin genügt die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren nach § 44
Abs. 1
Nr. 3
SGB VI i. V. m. § 50
Abs. 1 Satz 1
Nr. 2
SGB VI nicht, da sie bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit während ihrer Tätigkeit in den B ... Werkstätten erwerbsunfähig war.
Die Erwerbsunfähigkeit der Klägerin ergibt sich allerdings nicht bereits aus der Tatsache, dass sie in einer Werkstatt für Behinderte tätig war. Die von den Behinderten in einer Werkstatt verrichtete Tätigkeit ist vielmehr nach Art, beruflichen Voraussetzungen und regelmäßig erreichten Sachertrag mit den durchschnittlichen Arbeitsergebnissen einer typgleichen Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu vergleichen und daraufhin abzuschätzen, ob die Fähigkeiten der Behinderten ausreichen würden, einen Arbeitsplatz der typgleichen Tätigkeit im Umfang des § 44
Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1
SGB VI - "gewisse Regelmäßigkeit" oder "Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt" - auszufüllen (wirtschaftliche Verwertbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt). Bei dieser Beurteilung der Erwerbsfähigkeit ist die in der Werkstatt von der Behinderten konkret verrichtete Tätigkeit zwingend zu berücksichtigen und zu beachten, dass die Tatsache der Ausübung einer konkreten Tätigkeit in der Regel einen stärkeren Beweiswert hat als scheinbar dies ausschließende medizinische Befunde (
BSG SozR 3-2600 § 44
Nr. 6
SGB VI;
BSG Urteil vom 23.02.2000 -
B 5 RJ 8/99 R -).
Zwar ist eine Werkstatt für Behinderte nach § 54 des Schwerbehindertengesetzes (
SchwbG) eine Einrichtung, welche denjenigen Behinderten, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, einen Arbeitsplatz oder Gelegenheit zur Ausübung einer geeigneten Tätigkeit bieten soll. Unter Berücksichtigung der Vielfalt der Arten und Grade von Behinderungen sollen jedoch die Arbeits- und Beschäftigungsplätze in ihrer Ausstattung soweit wie möglich denjenigen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entsprechen (§ 5
Abs. 2 Werkstättenverordnung
SchwbG), so dass eine Verschiedenartigkeit der Tätigkeiten von Behinderten in den einzelnen Aufgabensparten der Werkstatt für Behinderte gegeben ist. In einigen Arbeitsbereichen einer Werkstatt für Behinderte kann es daher vorkommen, dass sich die durchgeführten Arbeiten in ihren charakteristischen Merkmalen mit einem Tätigkeitstyp decken, der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt anzutreffen ist (
BSG SozR 3-2200 § 1247
Nr. 1).
Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Die auf der Grundlage der Zeugenvernehmung der Sozialarbeiterin Frau S ... getroffene gegenteilige Feststellung des Sozialgerichts lässt sich nach dem Ergebnis der weiteren Beweisaufnahme im Berufungsverfahren nicht mehr aufrecht erhalten. Die Auswertung der regelmäßig erstellten Beobachtungs- und Beurteilungsbögen und die Zeugenaussage des Werkstattleiters N ... hat ergeben, dass die von der Klägerin im Arbeitsbereich Verpackung/Montage durchgeführten Tätigkeiten in Teilschritte des auf dem vergleichbaren allgemeinen Arbeitsmarkt üblichen Gesamtvorganges aufgeteilt werden. Die Arbeiten waren daher nach den äußeren Umständen ihrer Durchführung nicht mit einem auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt anzutreffenden Tätigkeitstyp gleichzustellen.
Es ist auch davon auszugehen, dass diese von den B ... Werkstätten im Arbeitsbereich der Klägerin vorgenommene Aufteilung der konkreten Arbeitsvorgänge notwendig war, da es sich um einen dem Leistungsvermögen der Klägerin entsprechenden durchschnittlich schwierigen Arbeitsplatz im Werkstattbereich handelte. Zwar sind die Angaben der Zeugin S ... zur Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit der Klägerin im wesentlichen durch den Zeugen N ... und den Inhalt der beigezogenen Beobachtungs- und Bewertungsbögen bestätigt worden. Im Bereich der Selbständigkeit hielten die betreuenden Mitarbeiter der B ... Werkstätten die Klägerin ausweislich der Beurteilungsbögen vom 05.07.1984, 15.11.1985 und 24.09.1988 jedoch nur für fähig, andere gleichartige Aufgaben zu erledigen. Sie sahen sich nicht imstande, der Klägerin eine Selbständigkeit
bzw. vollkommene Selbständigkeit zu bestätigen, mit welcher die Beherrschung anderer
bzw. verschieden schwieriger Aufgaben verbunden wäre. Zudem wurde die Arbeitsleistung der Klägerin in dem als durchschnittlich schwierig angesehenen Arbeitsbereich durchgehend nur als "langsam" bewertet.
Zusammenfassend äußert der Zeuge N ... die Einschätzung, bei einem Vergleich mit anderen Mitarbeitern der B .. . Werkstätten habe die Klägerin ohne große Veränderungen in ihrer Arbeitsleistung durchgängig durchschnittliche Leistungen (Tendenz etwas besser) erbracht. Der Zeuge N ... betreute die Klägerin seit 1983 regelmäßig am Arbeitsplatz und war daher zu einer differenzierten Einschätzung ihrer Arbeitsleistung in der Lage. Im Gegensatz zu der Zeugin S ..., die als Sozialarbeiterin nur bei Konflikten im Arbeitsbereich und den monatlichen Besprechungen über die Qualität der arbeitsmäßigen Belastung der Klägerin Kenntnis erlangen konnte, beruht seine Aussage auf einer fundierten Grundlage. Die Aussage des Zeugen N ... wird durch den Inhalt des nach Abschluss des Einarbeitungstraining er stellten Beobachtungsbogens vom 08.03.1984 bestätigt. Dieser enthält die Angabe, dass die Klägerin gut in einer Werkstatt für Behinderte einsetzbar sei. Eine Vermittlung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei hingegen unter keinen Umständen möglich.
Schließlich werden die Feststellungen zur Arbeitsleistung der Klägerin während ihrer Werkstattbeschäftigung auch durch das Gutachten des in erster Instanz gehörten Sachverständigen H ... bestärkt. Er hat nicht nur Vermutungen geäußert, sondern seine Aussagen nach Auswertung der umfangreichen Entwicklungsberichte des Heilpädagogischen Heims B ... getroffen. Er hat auf Defizite im Verhaltensbereich der Klägerin hingewiesen, die sich auch am Arbeitsplatz bei der geforderten Selbständigkeit und der Zusammenarbeit mit anderen Werkstattbeschäftigten auswirkt. Seine Feststellung, dass die Erkrankung der Klägerin einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entgegenstehe, wird durch die Angaben von
Dr. S ... bestätigt, welche eine zeitweise begrenzte Steuerbarkeit der Klägerin beschrieb.
Entgegen der Auffassung der Klägerin verstößt § 44
SGB VI in dem dargelegten Verständnis nicht gegen
Art. 3
Abs. 3 Satz 2
GG, wonach "niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" darf. Die Vorschrift will verhindern, dass der Einzelne durch die Einordnung in eine durch Diskriminierung gefährdete Gruppe stigmatisiert und benachteiligt wird. Durch die Regelung des § 44
Abs. 3
SGB VI wird indessen eine solche Diskriminierung nicht herbeigeführt oder gefördert. Behinderten wird mit dieser Vorschrift in Ausnahme von dem allgemeinen Grundsatz die Möglichkeit eröffnet, trotz Vorliegens von Erwerbsunfähigkeit den Zugang zu einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu erlangen. Im übrigen spiegelt die Rentenversicherung eine vom Gesetzgeber nicht herbeigeführte, sondern vorgefundene Ungleichheit, die er als solche akzeptieren muß, will er nicht gerade damit gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen, dass er Ungleiches gleich behandelt (
BSG SozR 3-2600 § 44
Nr. 6
SGB VI;
BSG, Urteil vom 23.02.2000 B 5 RJ 8/99 R -).
Nach allem konnte die Klage keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG.
Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil hierzu eine Veranlassung gemäß § 160
Abs. 2 Nrn. 1 und 2
SGG nicht gegeben war.