Streitig ist, ob der Beklagte ab August 2002 weiterhin Kindergeld für die Tochter des Klägers leisten muss.
Der Kläger ist Vater einer 1957 geborenen Tochter. Nach den Feststellungen in einem Betreuungsverfahren vor dem Amtsgericht besteht bei der Tochter von Geburt an eine schwerste geistige und körperliche Behinderung aufgrund einer Chromosomenanomalie (Mongolismus). Sie ist auf ständige intensive Pflege und Betreuung angewiesen. Ihre geistigen Fähigkeiten entsprechen denen eines Kindes weit vor dem Schulalter. Laut Bescheid des Versorgungsamtes beträgt die Minderung der Erwerbsfähigkeit 100 %. Im Schwerbehindertenausweis sind die Merkzeichen G, H und RF ausgewiesen.
Die Tochter besucht seit 1977 die X-Werkstätten. In dieser teilstationären Einrichtung arbeitet sie an vier Tagen pro Woche, nämlich Montag bis Donnerstag. Als Arbeitsentgelt erhielt sie im Jahr 2002 monatlich 123,15
EUR. Für jeden Arbeitstag musste sie für das Mittagessen einen Kostenbeitrag in Höhe von 2,50
EUR leisten. Die Kosten für den Besuch dieser Einrichtung in Höhe von monatlich 1.018,48
EUR. übernimmt die Stadt im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 40
Abs. 1
Nr. 1 Bundessozialhilfegesetz ( BSHG) als Leistung in einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen nach § 41 Sozialgesetzbuch IX. Die Tochter wohnt in einer eigenen Wohnung, in der sie von ihren Eltern betreut wird. Ab dem 01.01.2002 erhielt die Tochter eine monatliche Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von 801,38
EUR., ab dem 01.07.2002 in Höhe von 818,67
EUR..
Mit Bescheid vom 17.07.2002 hob der Beklagte die bisherige Festsetzung des Kindergeldes für die Tochter ab August 2002 nach § 70
Abs. 3 Einkommensteuergesetz (EStG) auf und teilte mit, die Tochter sei durch eigene Einkünfte/Bezüge imstande, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Hiergegen legte der Kläger Einspruch ein, den der Beklagte mit Bescheid vom 16.09.2002 als unbegründet zurück wies. Er führte dabei aus, neben dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) könne ein behinderungsbedingter Mehrbedarf nur berücksichtigt werden, wenn keine Eingliederungshilfe nach § 40 BSHG gewährt werde. Die Bezüge seien wie folgt zu ermitteln:
Monatlicher Arbeitslohn 123,15
EUR.
- Arbeitnehmerpauschbetrag 87,00
EUR. 36,15
EUR.
monatliche Rente 818,67
EUR.
./. Kostenpauschale 15,00
EUR.
./. Werbungskosten 8,50
EUR. 795,17
EUR.
monatlich verfügbares Einkommen 831,32
EUR.
Der Grundbedarf in Höhe von 599
EUR. monatlich sei daher überschritten.
Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage. Der Kläger trägt vor, der für den Kindergeldanspruch maßgebliche Gesamtbedarf bestehe aus dem Grundbedarf und dem zusätzlichen behinderungsbedingten Mehrbedarf. Ihm und seiner Frau entstünden erhebliche zusätzliche finanzielle Belastungen insbesondere für Bekleidung, Hygieneartikel, Ernährung, Unterkunft, Hausrat, Heizung, Fahrtkosten und persönliche Bedürfnisse des persönlichen Lebens für ihre Tochter. Bei teilstationären Maßnahmen sei für die Ermittlung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs auf den Pauschbetrag
gem. § 33 b
Abs. 3 Satz 3 EStG zurückzugreifen. Der Behindertenpauschbetrag sei zu gewähren, weil er zusätzliche Betreuungsleistungen für seine Tochter erbringen müsse, welche mit der Gewährung der Eingliederungshilfe nicht gedeckt seien, denn diese diene lediglich der Abdeckung der Kosten für die Betreuung der Tochter in der Werkstatt. Hier werde die Tochter aber lediglich während der üblichen Arbeitszeiten betreut. Zu den übrigen Zeiten bedürfe sie aufgrund ihrer schwersten Behinderungen der ständigen Betreuung durch ihn und seine Frau. Es entstehe für die Tochter daher ein Mehrbedarf, der eben gerade nicht durch die Eingliederungshilfe gedeckt sei.
Bei Berücksichtigung des Grundbedarfs nebst anzuerkennendem Pauschbetrag
gem. § 33 b EStG in Höhe von 3.700
EUR. ergebe sich ein Gesamtbedarf von jährlich 10.888
EUR.. Dieser übersteige die - auch nach Berechnung des Beklagten - der Tochter jährlich zur Verfügung stehenden Mittel in Höhe von 9. 975
EUR.. Auch ab August 2002 bestehe daher ein Anspruch auf Kindergeld.
Im Übrigen seien auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt behinderte Beschäftigte auch nicht verpflichtet, ihren behinderungsbedingten Pauschbetrag einzusetzen, wenn sie für die Erreichung oder die Ausstattung ihres Arbeitsplatzes staatliche Leistungen in Anspruch nehmen müssten. Entsprechendes müsse insoweit auch für behinderte Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen gelten, da anderenfalls eine verfassungswidrige Benachteiligung im Sinne von
Art. 3
Abs. 3 Grundgesetz vorläge.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 17.07.2002 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 16.09.2002 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ab August 2002 weiterhin Kindergeld zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er nimmt Bezug auf seine Einspruchsentscheidung und führt weiter aus, bei teilstationärer Unterbringung des Kindes sei der Behindertenpauschbetrag nach § 33 b EStG nicht anzusetzen. Ein behinderungsbedingter Mehrbedarf könne nur insoweit anerkannt werden, als er im Einzelnen glaubhaft gemacht werde.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Klage- und Arbeitsamtsakte.
Die Klage ist begründet.
Gemäß § 32
Abs. 4 Satz 1
Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Ein behindertes Kind ist erst dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensbedarfs ausreicht. Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist folglich anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen, nämlich des gesamten Lebensbedarfs des Kindes einerseits sowie der finanziellen Mittel des Kindes andererseits, zu prüfen. Erst wenn sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes ergibt, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerliche Leistungsfähigkeit mindert
(
vgl. BVerfG-Beschluss vom 29. Mai 1990 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60, 87, BStBl II 1990, 653, 658 und BFH-Urteil vom 15.Oktober 1999,
VI R 40/98, BStBl II 2000, 75).
Demzufolge sind dem Lebensbedarf des Kindes seine finanziellen Mittel gegenüberzustellen. Der Lebensbedarf eines behinderten Kindes setzt sich nach der Entscheidung des BFH (BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999, VI R 40/ 98, BStBl II 2000, 75) typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf), der entsprechend dem Grenzbetrag in § 32
Abs. 4 Satz 2 EStG zu beziffern ist, und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Zum behinderungsbedingten Mehrbedarf gehören dabei alle mit einer Behinderung unmittelbar und typisch zusammen hängenden Belastungen,
z.B. Wäsche, Hilfeleistungen, Erholung, typische Erschwernisaufwendungen. Erfolgt insoweit seitens des Steuerpflichtigen kein Einzelnachweis, so kann der maßgebliche Behindertenpauschbetrag (§ 33 b
Abs. 1 bis 3 EStG) als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen (
vgl. BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999, VI R 40/98, BStBl II 2000, 75). Nach diesem Urteil des BFH soll dies jedoch regelmäßig nicht bei vollstationärer Unterbringung des Kindes gelten, da in den Heimkosten verschiedene Kostenbestandteile enthalten sind, die von dem Pauschbetrag des § 33 b
Abs. 3 EStG typisierend mit erfasst werden. Eine vollstationäre Unterbringung, die dem Abzug des Pauschbetrages für behinderungsbedingten Mehrbedarf entgegenstehen würde, liegt hier aber nicht vor. Vielmehr lebt die Tochter in einem eigenen Haushalt, in dem sie vom Kläger und dessen Ehefrau versorgt und betreut wird. Der Senat geht daher davon aus, dass erhebliche mit der Behinderung unmittelbar und typischerweise zusammenhängende Belastungen anfallen (
vgl. auch Urteil des FG Sachsen-Anhalt vom 3.April 2002, 2 K 131/99,
EFG 2000, 875). Dem steht die Abwesenheit der Tochter während der üblichen Arbeitszeiten aufgrund ihrer Tätigkeit in der Behindertenwerkstatt von Montag bis Donnerstag (abzüglich der Urlaubs- und Krankheitstage) nicht entgegen, denn für die verbleibende ( deutlich überwiegende) Zeit ist eine zusätzliche Versorgung und Betreuung erforderlich. Der Besuch der X- Werkstätten unterscheidet sich insoweit nicht von einer sonstigen Berufstätigkeit, die der Berücksichtigung des Pauschbetrages für behinderungsbedingten Mehrbedarf ebenfalls nicht entgegenstehen würde.
Bei der Ermittlung des existentiellen Lebensbedarfs ist daher neben dem Grundbedarf ein behinderungsbedingter Mehrbedarf zu berücksichtigen, der mangels Einzelnachweis mit dem Pauschbetrag nach § 33 b
Abs. 3
S. 3 EStG in Höhe von 3.700
EUR. jährlich anzusetzen ist.
Die Einkünfte und Bezüge der Tochter reichen nicht aus, ihren Grundbedarf und den behinderungsbedingten Mehrbedarf zu decken. Die monatlichen Bezüge betragen
lt. Berechnung des Beklagten ab dem 01.07.2002 831,32
EUR.. Die Leistungen der Stadt für die Eingliederungshilfe in der Behindertenwerkstatt sind nicht als Bezüge anzusetzen. Diese im Rahmen der Sozialhilfe geleisteten Beträge gehören nach der Rechtsprechung des BFH nicht zu den anrechenbaren anderen Bezügen, weil sie zweckgebunden gewährt werden und deshalb nicht zur Bestreitung des Unterhalts bestimmt oder geeignet sind (
vgl. BFH-Urteile vom 22. Juli 1988, III R 253/83, BStBl II 1988, 830 und vom 22. Juli 1988 III R 175/86, BStBl II 1988, 939 zur insoweit gleichlautenden Regelung der Ermittlung der anrechenbaren eigenen Einkünfte und Bezüge in § 33 a
Abs. 1 EStG). Die vorliegend von der Stadt geleistete Eingliederungshilfe wird
gem. § 40
Abs. 1
Nr. 7 BSHG als Leistung in einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen übernommen und ist demzufolge nicht zu berücksichtigen.
Als existentieller Lebensbedarf ergibt sich damit der Grundbedarf in Höhe von 7.188
EUR. und der behinderungsbedingte Mehrbedarf in Höhe von 3.700
EUR., insgesamt 10.888
EUR. jährlich, also 907,33
EUR. monatlich. Die monatlichen Einkünfte und Bezüge der Tochter in Höhe von 831, 32
EUR. übersteigen den existentiellen Lebensbedarf demzufolge nicht.
Die Bescheide über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung waren deshalb aufzuheben, sodass der Beklagte dem Kläger weiterhin Kindergeld für die Tochter zu leisten hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 FGO.
Die Entscheidungen über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruhen auf den §§ 151, 155 FGO
i.V.m. §§ 708
Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.