Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet. Die angefochtenen Verwaltungsakte des Beklagten, nämlich der Bescheid vom 19.01.2012 und der Widerspruchsbescheid vom 20.04.2012, sind rechtswidrig und beschweren die Klägerin im Sinne von § 54
Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG), weil der Beklagte mit diesen Bescheiden zu Unrecht die Leistungsbewilligung vom 07.05.2009 zurückgenommen hat. Die streitgegenständlichen Bescheide waren danach aufzuheben.
Als Rechtsgrundlage für den Rücknahmebescheid vom 19.01.2012 kommt allein § 45
SGB X in Betracht, da hier ein von Anfang an rechtswidriger Bewilligungsbescheid zurückgenommen werden soll. Der nach Auffassung des Beklagten zur Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheids führende Umstand, nämlich die Möglichkeit einer abschlagsfreien Altersrente, bestand schon vor Erlass des Bewilligungsbescheids. Die Klägerin konnte ab Vollendung ihres 60. Lebensjahres, d.h. ab 01.04.2009 in Altersrente gehen. Der Bewilligungsbescheid, der von dem Beklagten zurückgenommen wurde, datiert auf den 07.05.2009.
§ 44
SGB X ist - entgegen der Ansicht des Beklagten - hingegen nicht einschlägig, da diese Regelung alleine die Rücknahme von belastenden Verwaltungsakten betrifft. Der Bewilligungsbescheid vom 07.05.2009 ist freilich für die Klägerin begünstigend. Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), von Anfang an rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur gemäß § 45
SGB X ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
Im vorliegenden Fall war die Übernahme der Werkstattkosten im Bescheid vom 07.05.2009 bis zum 31.03.2014 im Rahmen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung bereits nicht rechtswidrig (siehe unten 1.). Außerdem fehlt es an der für § 45
SGB X erforderlichen Ermessensausübung (siehe unten 2.).
1. Ein Anspruch auf Eingliederungshilfe haben nach
§ 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von
§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt wird. Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es nach § 53
Abs. 3
SGB XII, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört vor allem, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. Leistungen der Eingliederungshilfe sind u.a. Leistungen nach
§ 41 SGB IX. Gemäß § 41
SGB IX erhalten behinderte Menschen, bei denen eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder in Betracht kommen, Leistungen im Arbeitsbereich einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM).
Die Klägerin erfüllt die personenbezogenen Voraussetzungen des § 53
Abs. 1 Satz 1
SGB XII und des § 41
Abs. 1
SGB IX. Sie ist wegen ihrer geistigen Behinderung wesentlich behindert. Ebenfalls kommt bei ihr wegen Art
bzw. Schwere ihrer Behinderung eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht in Betracht; sie kann aber - wie sie jahrelang in der WfbM gezeigt hat - wenigstens ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen, wie es nach § 41
Abs. 1
SGB IX erforderlich ist. Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.
Bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen ist ein Anspruch auf Leistungen im Arbeitsbereich einer WfbM begründet. Er wird nicht durch das Alter der aktuell 63-jährigen Klägerin oder den Umstand, dass sie seit dem 60. Lebensjahr einen Anspruch auf abschlagsfreie Altersrente hat, ausgeschlossen. Die Aufgabe der Eingliederungshilfe ist darauf gerichtet, behinderte Menschen in die Gesellschaft einzugliedern und ihnen zu einer Lebensgestaltung zu verhelfen, auf die im gesellschaftlichen Leben generell ein Anspruch besteht. Eine ausdrücklich geregelte Altersgrenze für die Beschäftigung in der Werkstatt gibt es nicht. Vor dem Hintergrund des hohen verfassungsrechtlichen Ranges der Teilhabeleistungen kann auch keine Altersgrenze in die Vorschrift des § 53
Abs. 1 Satz 1
SGB XII hineingelesen werden. Denkbar ist allenfalls, die Zielrichtung der Eingliederungshilfe zu ändern, nämlich mit Vollendung des 65. Lebensjahres nicht mehr auf die Eingliederung in den Arbeitsmarkt abzustellen, sondern auf die Verrichtung einer angemessenen Ruhestandsbeschäftigung (Wehrhahn in: jurisPK-SGB XII, § 53 SGB Rn. 41). Da mit dem Erreichen der rentenversicherungsrechtlichen Altersgrenze üblicherweise das Arbeitsleben endet, entfällt damit auch der spezifische Zweck der Teilhabe am Arbeitsleben mit Erreichen der Ruhestandgrenze (Boller in: jurisPK-SGB IX, § 137 Rn. 23). Ein Leistungsausschluss vor dem 65. Lebensjahr, wie es der Beklagte hier erreichen will, kann aber nicht angenommen werden (
vgl. hierzu auch
BVerwG, Urteil vom 21.12.2005, Az.
5 C 26/04; SG Trier, Beschluss vom 25.02.2009, Az.
S 3 SO 13/09 ER).
Die vom Beklagten angeführte Möglichkeit der Klägerin zur abschlagsfreien Altersrente seit ihrem 60. Lebensjahr führt ebenfalls nicht zu einem Wegfall des Anspruchs auf Beschäftigung in einer WfbM, da die Klägerin diese Rentenmöglichkeit nur aufgrund ihrer Behinderung erlangt hat. Menschen ohne Behinderungen können abschlagsfrei erst mit Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 65. Lebensjahres
bzw. mit Erreichen der Regelaltersgrenze in Altersrente gehen (
vgl. § 77
Abs. 2
SGB VI). Die Aufgaben der Eingliederungshilfe, nämlich eine drohende Behinderung zu verhüten, eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und sie einzugliedern, bestehen unabhängig von einem abschlagsfreien Rentenanspruch fort.
Danach war die ursprüngliche Bewilligung von Eingliederungshilfeleistungen in Form von Leistungen für die Beschäftigung im Arbeitsbereich einer WfbM bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres bereits nicht rechtswidrig und durfte von dem Beklagten nicht zurückgenommen werden.
2. Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass der Beklagte bei seiner Rücknahmeentscheidung im Bescheid vom 19.01.2012 das durch § 45
Abs. 1
SGB X eröffnete Ermessen nicht ausgeübt hat. Bei der Prüfung des § 45
SGB X ist von der Behörde sowohl bei der Entscheidung über die Rücknahme für die Zukunft als auch bei der Entscheidung über die Rücknahme für die Vergangenheit Ermessen auszuüben (
vgl. Steinwedel in Kasseler Kommentar, Stand: Oktober 2011, § 45
SGB X, Rn. 50
ff. m.w.N.). In dem Bescheid vom 19.01.2012 sowie dem Widerspruchsbescheid vom 20.04.2012 fehlt eine solche Ermessensausübung. Gründe für eine Ermessensreduzierung auf Null sind weder erkennbar noch vorgetragen.
Nach alledem war die Rücknahmeentscheidung aufzuheben mit der Folge, dass der Klägerin aufgrund der Bewilligungsentscheidung des Beklagten vom 07.05.2009 weiterhin die Werkstattkosten bis zum 31.03.2014 im Rahmen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung übernommen werden müssen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193
SGG.