Der Bescheid des Beklagten vom 30.09.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 23.03.2010 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt der Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kostenschuldner darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn der Kostengläubiger nicht zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Berufung und die Revision werden zugelassen.
Der am ... geborene Kläger ist wegen Sehminderung bei Retinitis pigmentosa mit einem Grad der Behinderung von 100 als schwerbehinderter Mensch anerkannt. Er ist Physiotherapeut und arbeitet seit dem ... bei der Klinikum F-Stadt in F-Stadt.
Mit Schreiben vom 25.04.2009 beantragte der Kläger beim Beklagten die Bezuschussung einer fünfjährigen Osteopathie-Ausbildung speziell für Blinde und Sehbehinderte beim ...werk in G-Stadt. Er trug vor, die Osteopathie finde immer mehr Zuspruch bei Ärzten und Patienten. Angesichts des enormen Konkurrenzdruckes unter den Physiotherapeuten strebe auch er eine solche Ausbildung an, die schon viele seiner nicht sehbehinderten Kollegen absolviert hätten. Überdies hege er auch ein großes persönliches Interesse für dieses Gebiet.
Am 19.05.2009 teilte die Arbeitgeberin des Klägers in einem Gespräch mit dem Kläger, den betrieblichen Interessenvertretungen und dem ... mit, dass man die Kenntnisse einer Osteopathie-Ausbildung in ihrem Unternehmen nicht einsetzen könne. Die Behandlungsmethode würde von den Krankenkassen nicht bezahlt und ein Angebot für Selbstzahler gebe es nicht.
Mit Schreiben vom 25.08.2009 bestätigte die Arbeitgeberin des Klägers dem Beklagten auf Nachfrage noch einmal, dass das Absolvieren eines Osteopathiekurses durch den Kläger im Hinblick auf die von ihm praktizierte Physikalische Therapie nicht erforderlich und sein Arbeitsverhältnis ohne Osteopathiekurs auch nicht gefährdet sei.
Daraufhin hörte der Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 31.08.2009 zu der beabsichtigten Ablehnung seines Antrages an. Dieser äußerte sich mit Schreiben vom 18.09.2009 dahingehend, dass er sich marktgerecht, integrationsvorsorgend und nachfrageorientiert fortbilden wolle, um sich so langfristig vor drohender Arbeitslosigkeit abzusichern. Niemand könne darauf bauen, seine derzeitige Anstellung dauerhaft zu behalten. Daher bestehe für ihn die Erforderlichkeit, seine beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu erweitern.
Mit Bescheid vom 30.09.2009, abgesandt am selben Tag, lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers ab. Zur Begründung wurde vorgetragen, die Förderung einer Leistung zum beruflichen Aufstieg gemäß
§ 24 SchwbAV sei nur möglich, wenn die vermittelten Fertigkeiten und Kenntnisse in absehbarer Zeit beim Arbeitgeber sinnvoll und tätigkeitsbezogen eingesetzt werden könnten. Angesichts der von der Arbeitgeberin abgegebenen Stellungnahme sei davon jedoch nicht auszugehen. Die vom Kläger angestrebte Maßnahme diene nicht zur langfristigen Sicherung seines Arbeitsverhältnisses, da dieses ohne die Ausbildung nicht gefährdet sei.
Der Kläger legte gegen den Ablehnungsbescheid Widerspruch ein, der am 29.10.2009 beim Beklagten einging. Darin trug er vor, dass es ihm unverständlich sei, dass die Entscheidung bezüglich einer Bezuschussung der Ausbildung von den Einlassungen seiner derzeitigen Arbeitgeberin abhängig gemacht worden sei. Seines Erachtens verfolge § 24
SchwbAV das Ziel, dem einzelnen Behinderten individuelle Hilfen auch zum beruflichen Aufstieg an die Hand zu geben.
Mit Widerspruchsbescheid vom 23.03.2010, der dem Kläger am 25.03.2010 zugestellt wurde, wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Leistungen der Integrationsämter nur eine Sicherungs- und Stützungsfunktion in Bezug auf das bestehende Arbeitsverhältnis hätten. Da die Ausbildung zum Osteopathen nach den Angaben der Arbeitgeberin für die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit nicht erforderlich sei, fehle der für eine Bezuschussung erforderliche Bezug zum bestehenden Arbeitsverhältnis.
Mit seiner am 20.04.2010 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Zur Begründung vertieft er sein Vorbringen im Verwaltungsverfahren und trägt ergänzend vor, dass er die Osteopathieausbildung am XX.09.2009 begonnen habe. Die Gesamtkosten für die Ausbildung seien auf 21.485,80
EUR zu beziffern. Die Kosten für Unterkunft und Verpflegung beliefen sich für das Jahr 2009 auf 26,96
EUR pro Tag.
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger ergänzend angegeben, dass die Klinikum F-Stadt mit Wirkung zum nächsten Jahr u.a. die Physiotherapieleistungen an eine Drittfirma auslagern werde. Er könne derzeit noch nicht sagen, ob er von dieser Firma übernommen oder aber von seiner bisherigen Arbeitgeberin an diese ausgeliehen werde.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides des ... bei dem Beklagten vom 30.09.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.03.2010 zu verpflichten, den Antrag des Klägers vom 25.04.2009 auf Gewährung eines Zuschusses für die fünfjährige Osteopathieausbildung beim ...werk G-Stadt, Zentrum für ..., H-Straße, G-Stadt, mit dem Abschluss "Osteopath" unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht er sich auf die Begründung der angegriffenen Bescheide und vertieft diese.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die vorgelegte Behördenakte des Beklagten sowie auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.
Die zulässige Klage ist begründet. Der vom Kläger mit seiner Klage angegriffene Bescheid des Beklagten vom 30.09.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.03.2010 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er ist daher gemäß § 113
Abs. 1
S. 1
VwGO aufzuheben. Zugleich ist der Beklagte zu verpflichten, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden (§ 113
Abs. 5
S. 2
VwGO).
Es bedarf im Rahmen des vorliegenden Verfahrens keiner abschließenden Entscheidung darüber, ob der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Förderung seiner Ausbildung zum Osteopathen bereits aus
§ 102 Abs. 3 Nr. 1 e) SGB IX folgt. § 102
SGB IX umschreibt die dem Integrationsamt obliegenden Aufgaben im Rahmen der Ausführung des Sozialgesetzbuches IX. Hierzu gehört unter anderem die begleitende Hilfe im Arbeitsleben (§ 102
Abs. 1
Nr. 3
SGB IX). Diese soll gemäß § 102
Abs. 2
S. 2
SGB IX dahin wirken, dass die schwerbehinderten Menschen in ihrer sozialen Stellung nicht absinken, auf Arbeitsplätzen beschäftigt werden, auf denen sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse voll verwerten und weiterentwickeln können sowie durch Leistungen der Rehabilitationsträger und Maßnahmen der Arbeitgeber befähigt werden, sich am Arbeitsplatz und im Wettbewerb mit nichtbehinderten Menschen zu behaupten. Nach § 102
Abs. 3
Nr. 1 e)
SGB IX kann das Integrationsamt im Rahmen seiner Zuständigkeit für die begleitende Hilfe im Arbeitsleben aus den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln auch Geldleistungen erbringen, insbesondere an schwerbehinderte Menschen zur Teilnahme an Maßnahmen zur Erhaltung und Erweiterung beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten. Nach herrschender Meinung handelt es sich bei § 102
SGB IX um eine reine Zuständigkeitsregelung, so dass aus dieser Vorschrift nicht entnommen werden kann, ob auf eine der genannten Leistungen ein Rechtsanspruch besteht oder nicht (
vgl. nur Pahlen, in: Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen, Sozialgesetzbuch IX, 12. Aufl. 2010, § 102
SGB IX Rdnr. 7 m.w.Nachw.).
Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch folgt jedoch dem Grunde nach aus § 24 der Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung (
SchwbAV) vom 23.03.1988 (BGBl. I
S. 484), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.12.2008 (BGBl. I
S. 2959). Nach Satz 1 dieser Vorschrift können schwerbehinderte Menschen, die an inner- oder außerbetrieblichen Maßnahmen der beruflichen Bildung zur Erhaltung und Erweiterung ihrer beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten oder zur Anpassung an die technische Entwicklung teilnehmen, vor allem an besonderen Fortbildungs- und Anpassungsmaßnahmen, die nach Art, Umfang und Dauer den Bedürfnissen dieser schwerbehinderten Menschen entsprechen, Zuschüsse bis zur Höhe der ihnen durch die Teilnahme an diesen Maßnahmen entstehenden Aufwendungen erhalten. Nach § 24
S. 2
SchwbAV können Hilfen auch zum beruflichen Aufstieg erbracht werden. Entgegen der Rechtsansicht des Beklagten sind Leistungen nach § 24
SchwbAV - und auch nach § 102
Abs. 3
Nr. 3 e)
SGB IX, sofern man in dieser Vorschrift eine Anspruchsgrundlage sehen würde - nicht auf den von einem Schwerbehinderten konkret eingenommenen Arbeitsplatz bezogen. Abgesehen davon, dass die Aufzählung von förderungsfähigen beruflichen Bildungsmaßnahmen in § 24
S. 1
SchwbAV nur beispielhaft ist, folgt aus
S. 2 dieser Vorschrift auch die grundsätzliche Förderungsfähigkeit von Bildungsmaßnahmen zum beruflichen Aufstieg (
vgl. OVG Münster, Beschluss vom 05.07.2006 -
12 A 2228/06 - juris; Beschluss vom 21.12.2007 -
12 A 2269/07, NDV-RD 2008, 63; Pahlen, a.a.O., § 24
SchwbAV Rdnr. 3). Dass es sich insoweit nur um einen beruflichen Aufstieg im Rahmen des Betriebs, in dem der Schwerbehinderte beschäftigt ist, handeln könnte, lässt sich dieser Vorschrift nicht entnehmen. Vielmehr folgt aus
§ 18 Abs. 2 SchwbAV, dass bei einer Entscheidung über einen Förderungsantrag eines schwerbehinderten Arbeitnehmers auf begleitende Hilfe im Arbeitsleben auch eine arbeitsmarktbezogene Betrachtung zu erfolgen hat. Danach können entsprechende Leistungen unter anderem erbracht werden, wenn die Teilhabe am Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Berücksichtigung von Art und Schwere der Behinderung auf besondere Schwierigkeiten stößt und durch die Leistungen ermöglicht, erleichtert oder gesichert werden kann.
Zur Überzeugung der erkennenden Kammer steht fest, dass der 43 Jahre alte Kläger mit der von ihm aufgenommenen fünfjährigen Fortbildung zum Osteopathen nach deren erfolgreichem Abschluss langfristig seine Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt deutlich steigern würde und er deshalb damit rechnen könnte, bis zum regulären Eintritt in den Ruhestand am Arbeitsleben teilhaben zu können. Gerade im Gesundheitssektor ist in den zurückliegenden Jahren eine dynamische Entwicklung zu verzeichnen. Schließungen
bzw. Zusammenlegungen und Privatisierungen von bislang in öffentlicher oder gemeinnütziger Trägerschaft befindlichen Krankenhäusern sowie die Auslagerung von bestimmten Gesundheitsdienstleistungen an externe Anbieter kennzeichnen das Bild. So werden aller Voraussicht nach bisher von der Arbeitgeberin des Klägers erbrachte physiotherapeutische Leistungen im Frühjahr nächsten Jahres an eine Fremdfirma vergeben, wobei noch unklar ist, ob der Kläger bei dieser eine neue Anstellung findet oder aber von seiner bisherigen Arbeitgeberin an die Fremdfirma ausgeliehen wird. Die Dynamik dieses Arbeitsmarktsegments gebietet es geradezu, sich als Schwerbehinderter nicht nur in dem bisher ausgeübten Beruf fortzubilden, sondern auch Zusatzqualifikationen zu erwerben, um sich langfristig bessere Beschäftigungschancen - gegebenenfalls auch bei einem anderen Arbeitgeber - zu sichern. Daher kommt es entgegen der Ansicht des Beklagten nicht darauf an, dass die Arbeitgeberin des Klägers derzeit keinen Bedarf an einer Fachkraft mit Osteopathie-Ausbildung hat. Somit ist die von dem Kläger aufgenommene Weiterbildung zum Osteopathen grundsätzlich nach § 24
SchwbAV förderungsfähig.
Damit der Beklagte das ihm obliegende Ermessen sachgerecht ausüben kann, wird er zu ermitteln haben, ob tatsächlich, wie vom Kläger in der mündlichen Verhandlung behauptet, die Weiterbildung von anderen Schwerbehinderten zum Osteopathen gefördert worden ist oder gefördert wird. Insoweit obliegt es dem Kläger, seine Behauptung substanziell zu untermauern, indem er entsprechende Vergleichsfälle benennt. Der Beklagte wird zudem zu berücksichtigen haben, dass zwischen der vom Kläger derzeit ausgeübten Tätigkeit als Physiotherapeut und der eines Osteopathen ein enger fachlicher Zusammenhang besteht. Schließlich wird gemäß § 18
Abs. 2
SchwbAV zu prüfen sein, ob und inwieweit es dem Kläger zuzumuten ist, eigene Leistungen für die Weiterbildungsmaßnahme zu erbringen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154
Abs. 1
VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 188
VwGO).
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167
VwGO i.V. mit §§ 708, 711.
Die Berufung ist zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 124
Abs. 2
Nr. 3
VwGO). Aus demselben Grunde ist auch die Revision zuzulassen (§ 134 i.V. mit § 132
Abs. 2
Nr. 1
VwGO).