Urteil
Anspruch auf Teilnahme an einer Arbeitserprobungsmaßnahme im Berufsförderungswerk - Bewilligung und Aufhebung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung

Gericht:

LSG Niedersachsen-Bremen 7. Senat


Aktenzeichen:

L 7 AL 203/03 ER


Urteil vom:

07.08.2003


Tenor:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Beschwerde zu erstatten.

Tatbestand:

Der Antragsteller verlangt im Wege vorläufigen Rechtsschutzes eine Kostenzusage der Antragsgegnerin für eine Arbeitserprobung beim Berufsförderungswerk F. mit Internatsunterbringung.

Der im Jahr 1968 geborene Antragsteller bezog nach Erschöpfung des Arbeitslosengeld(Alg)-Anspruchs am 29. Juli 2001 mit Wirkung ab 30. Juli 2001 Arbeitslosenhilfe (Alhi) mit Unterbrechungen bis zum 25. November 2002 (Bewilligungsbescheid vom 21. August 2001, Weiterbewilligungsbescheid vom 13. September 2002.

Im April 1996 hatte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin Leistungen zu seiner beruflichen Rehabilitation beantragt. Im Rahmen des Reha-Verfahrens nahm der Antragsteller nach einer Berufsfindung und Arbeitserprobung an einer Maßnahme der beruflichen Vorbereitung sowie an einer beruflichen Trainingsmaßnahme im Berufsförderungswerk G. teil. Die Teilnahme an beiden Maßnahmen wurde von den Maßnahmeträgern vorzeitig beendet.

Mit Schreiben vom 12. Juni 2002 teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, dass in Übereinstimmung mit dem Betreuer des Antragstellers eine gezielte Berufsfindung/Arbeitserprobung (BF/AP) im Berufsförderungswerk F. in der Zeit ab 4. November 2002 durchgeführt werden solle. Das Ergebnis dieser Maßnahme werde Grundlage für die weiteren Entscheidungen für eine Förderung sein. Unter dem gleichen Datum meldete die Antragsgegnerin den Antragsteller beim Berufsförderungswerk F. an. Dieses bestätigte die Anmeldung gegenüber dem Antragsteller mit Schreiben vom 16. August 2002.

Mit Schreiben vom 21. August 2002 teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, dass dieser im Rahmen der Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben für die Teilnahme an der Maßnahme Arbeitserprobung vom 14. November bis 13. Dezember 2002 beim Berufsförderungswerk F. mit Internatsunterbringung vorgesehen sei und bat um die Vorlage weiterer Unterlagen.

Weil die Landesversicherungsanstalt (LVA) H. die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 14. November 2002 darüber informierte, dass sie dem Antragsteller mit Wirkung ab 1. Juli 2002 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt habe, lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben ab. Durch die rückwirkende Bewilligung der Rente wegen voller Erwerbsminderung mit Wirkung ab 1. Juli 2002 sei festgestellt, dass er dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehe. Daher seien Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht mehr durchführbar. Mit einem weiteren Schreiben vom 9. Dezember 2002 wies die Antragsgegnerin den Antragsteller darauf hin, dass sie nun nur noch die Möglichkeit sehe, direkt bei der LVA H. Förderung zu beantragen. Da der Antragsteller im laufenden Rentenbezug sei, liege nunmehr dort die Zuständigkeit, auch über die Möglichkeiten der beruflichen Reha zu entscheiden. Hiergegen wandte sich der Antragsteller mit Schreiben vom 4., 11. und 19. Dezember 2002. Unter dem 6. Januar 2003 teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, dass eine Kostenübernahmeerklärung nicht erfolgen könne, weil er, der Antragsteller, dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehe und keinen Anspruch auf Leistungen habe. Daher seien Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben durch die Antragsgegnerin nicht zu erbringen. Die LVA H. habe seine volle Erwerbsminderung festgestellt.

Mit Schreiben vom 6. Januar 2003 nahm der Antragsteller seinen Rentenantrag gegenüber der LVA H. zurück. Daraufhin hob die LVA H. ihren Rentenbewilligungsbescheid vom 14. November 2002 durch Bescheid vom 15. Januar 2003 mit Wirkung ab 1. Juli 2002 nach § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) auf.

Der Antragsteller hat am 16. Januar 2003 beim Sozialgericht (SG) Stade um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gebeten und von der Antragsgegnerin eine Kostenzusage für eine Arbeitserprobung beim Berufsförderungswerk F. mit Internatsunterbringung verlangt. Auf Grund der Aufhebung des Rentenbescheides vom 14. November 2002 durch Bescheid der LVA H. vom 15. Januar 2003 bestehe für die Antragsgegnerin keine Grundlagen für die Feststellung einer etwaigen Erwerbsunfähigkeit. Da zudem neue Gutachten nicht eingeholt worden seien und keinerlei neue Erkenntnisse bezüglich seines gesundheitlichen Zustandes vorlägen, sei sie an ihre ursprüngliche erteilte Kostenzusage gebunden. Die Eilbedürftigkeit folge aus dem Umstand, dass eine rechtskräftige Entscheidung erst in mehreren Monaten vorliege und er nach Antragsrücknahme über keinerlei Einnahmen mehr verfüge.

Das SG Stade hat der Antragsgegnerin durch Beschluss vom 1. April 2003 aufgegeben, dem Antragsteller im Wege der einstweiligen Anordnung eine Kostenzusage für eine Arbeitserprobung beim Berufsförderungswerk F. zum nächst möglichen Zeitpunkt zu erteilen. Die Antragsgegnerin habe in Kenntnis der Erkrankung des Antragstellers die Teilnahme an einer Berufsfindungsmaßnahme beim Berufsförderungswerk F. für sinnvoll gehalten. Sie habe damit das ihr eingeräumte Ermessen ausgeübt. Eine grundlegende Änderung durch die Rentenbewilligung durch die LVA H. sei hierdurch nicht erfolgt. Auf Grund der Aufhebung des Rentenbescheides durch die LVA bestehe keine Tatbestandswirkung des Renten-Bewilligungsbescheids vom 14. November 2002 mehr. Die Antragsgegnerin habe trotz bestehender Zweifel daran, ob eine Berufsfindungsmaßnahme sinnvoll sei, die Notwendigkeit einer Berufsförderungsmaßnahme im Juni/August 2002 dem Grunde nach anerkannt. Da die Klärung der Frage, ob eine berufliche Rehabilitation erst nach einer medizinischen Rehabilitation möglich sei, nur im Hauptsacheverfahren geklärt werden könne, sei es für den Antragsteller im Hinblick darauf, dass erhebliche Anhaltspunkte für einen Anspruch des Antragstellers auf die Teilnahme an der Berufsfindungsmaßnahme sprächen, unzumutbar, die Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren abzuwarten.

Gegen den am 3. April 2003 zugestellten Beschluss führt die Antragsgegnerin am 22. April 2003 Beschwerde. Die Rücknahme der Rentenbewilligung könne keine Tatbestandswirkung dahingehend entfalten, dass darin auch eine bindende Feststellung über den Gesundheitszustand und die Leistungsfähigkeit des Antragstellers liege mit der Folge, dass sie, die Antragsgegnerin, ohne Berücksichtigung weiterer Umstände die Teilnahme an der Berufsfindungsmaßnahme fördern müsse. Ihre Einschätzung des stabilen Gesundheitszustands des Antragstellers mit der Folge der Annahme einer positiv verlaufenden Teilnahme an der Maßnahme müsse im Hinblick darauf relativiert werden, dass zeitgleich zu der positiven Einschätzung des behandelnden Arztes die Erwerbsunfähigkeitsrente bewilligt worden sei. Eine weitere Aufklärung des medizinischen Sachverhalts sei daher dringend erforderlich. Daher habe die Antragsgegnerin bei ihrer weiteren Entscheidung über die Förderung der Maßnahme erneut Ermessen auszuüben. Sie sei durch die vorangegangene Entscheidung, die unter anderen Gegebenheiten erfolgt sei, nicht gebunden.

Im Übrigen sei ein Anordnungsgrund nicht ersichtlich, weil der früheste Termin für eine neue Berufsfindungsmaßnahme im Berufsförderungswerk F. der 15. September 2003 sei.

Der Antragsteller tritt dem Vorbringen der Antragsgegnerin entgegen.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die Prozessakte Bezug genommen. Die den Antragsteller betreffenden Leistungsakten (KundenNr. 217-A-193916 - Band II) sowie die den Antragsteller betreffenden Reha-Akten (2 Bände) und ein Heft Kopien ärztlicher Gutachten liegen vor und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Hinweis:

Einen Fachbeitrag zum Einstweiligen Rechtsschutz finden Sie im Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) unter:
http://www.reha-recht.de/fileadmin/download/foren/a/2013/A4-...

Rechtsweg:

SG Stade Urteil vom 03.04.2003 - S 6 AL 8/03 ER

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die Beschwerde ist gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und zulässig, jedoch nicht begründet.

Der Antragsteller kann im Wege der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes eine Kostenzusage der Antragsgegnerin für eine Teilnahme an der Berufsfindungsmaßnahme beim Berufsförderungswerk F. zum nächst möglichen Termin beanspruchen.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass der vom SG Stade durch Beschluss vom 1. April 2003 getroffenen einstweiligen Anordnung ist nötig in diesem Sinn.

Nach § 97 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) können behinderten Menschen, wie dem Antragsteller, Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben erbracht werden, die wegen Art und Schwere der Behinderung erforderlich sind, um ihre Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu bessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben zu sichern. Nach § 97 Abs. 2 Satz 2 SGB III schließt das Verfahren zur Auswahl der Leistungen zur beruflichen Eingliederung eine Abklärung der beruflichen Eignung oder Arbeitserprobung ein, soweit es erforderlich ist. Der Antragsteller beansprucht die Förderung der Teilnahme an einer derartigen Maßnahme im Berufsförderungswerk F ...

Nach der Regelung des § 97 Abs. 1 SGB III liegt die Entscheidung über die Förderung der Maßnahme im Ermessen der Antragsgegnerin. Das bedeutet, dass in diesen Fällen der Erlass einer einstweiligen Anordnung nur in den Fällen der sogenannten Ermessensreduzierung "auf Null” möglich ist. Hier ist überwiegend wahrscheinlich, dass eine derartige Ermessensreduzierung eingetreten ist. Auf Grund der Schreiben der Antragsgegnerin vom 12. Juni und 21. August 2002 durfte der Antragsteller davon ausgehen, dass die Antragsgegnerin die Notwendigkeit der Teilnahme an einer derartigen Maßnahme zur Abklärung der beruflichen Eignung und Arbeitserprobung für erforderlich hielt. Die Antragsgegnerin meldete den Antragsteller zudem beim Berufsförderungswerk F. unter dem 12. Juni 2002 für die Maßnahme an und sagte die Übernahme der Kosten zu. Dementsprechend wurde der Antragsteller vom Maßnahmeträger mit Schreiben vom 19. November 2002 zu der Maßnahme eingeladen. Die genannten Schreiben der Antragsgegnerin vom 12. Juni 2002 und 21. August 2002 waren nach dem Verständnis des Antragstellers als Zusicherung im Sinn des § 34 Abs. 1 SGB X zu verstehen mit der Folge, dass eine Bindung des Ermessens der Antragsgegnerin eingetreten ist. Allein die positive Entscheidung über die Förderung der Teilnahme an der Maßnahme ist daher ermessensgerecht.

Etwas anderes gilt nicht im Hinblick darauf, dass die LVA H. dem Antragsteller durch Bescheid vom 14. November 2002 mit Wirkung ab 1. Juli 2002 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt hat. Die rechtlichen Wirkungen dieser Bewilligung sind durch die Aufhebungsentscheidung der LVA H. vom 15. Januar 2003, auf deren Rechtmäßigkeit es nicht ankommt (BSG, Urteil vom 12.12.1991 - 7 RAr 24/91 - SozR 3-4100 § 118 Nr. 3) beseitigt. Die Antragsgegnerin kann nicht mit Erfolg geltend machen, durch die Entscheidung der LVA H. über das Vorliegen einer Erwerbsunfähigkeit beim Antragsteller sei eine Änderung der medizinischen Sachlage eingetreten. Vielmehr liegt der Entscheidung der LVA H. über die Erwerbsunfähigkeit des Antragstellers mit Wirkung ab 1. Juli 2002 eine Bewertung der gesundheitlichen Leistungsfähigkeit des Antragstellers zu Grunde, die von der nunmehr die die Antragsgegnerin getroffenen abweicht. Eine objektive Veränderung des Gesundheitszustands des Antragstellers ist nicht ersichtlich, zumal die LVA H. ihre Entscheidung über die Erwerbsunfähigkeit des Antragstellers im Juli 2002 und die Antragsgegnerin ihre Entscheidung über die Notwendigkeit der Fördermaßnahme im Juni/August, also etwa zur gleichen Zeit getroffen hat.

Das SG Stade hat in dem angefochtenen Beschluss vom 1. April 2003 zutreffend das Vorliegen eines Anordnungsgrundes angenommen; insoweit wird wegen der Einzelheiten in entsprechender Anwendung des § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts (S. 5) Bezug genommen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).

Referenznummer:

R/R4610


Informationsstand: 04.08.2010