Urteil
Urlaubsabgeltung - Schwerbehindertenzusatzurlaub - Hinweispflicht

Gericht:

LAG Rheinland-Pfalz 5. Kammer


Aktenzeichen:

5 Sa 267/19


Urteil vom:

14.01.2021


Grundlage:

Leitsatz:

Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, jeden Arbeitnehmer anlasslos und gleichsam prophylaktisch auf den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen hinzuweisen. Solange er nicht weiß, dass der Arbeitnehmer ein schwerbehinderter Mensch ist, braucht er einen Zusatzurlaub nicht anzubieten.

Rechtsweg:

ArbG Trier, Urteil vom 15. Mai 2019 - 4 Ca 160/19
BAG - 9 AZR 143/21 (anhängig)

Quelle:

Landesrecht Rheinland-Pfalz

Tenor:

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Trier vom 15. Mai 2019, Az. 4 Ca 160/19, teilweise abgeändert und der Klageantrag zu 2) auf Zahlung von EUR 1.113,65 brutto nebst Zinsen abgewiesen.

2. Die Kosten erster Instanz werden gegeneinander aufgehoben. Die Kosten zweiter Instanz hat der Kläger zu tragen.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten zweitinstanzlich noch über die Abgeltung des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen.

Der 1956 geborene Kläger war vom 22. August 2016 bis zum 15. Februar 2019 bei der Beklagten als Sicherheitskraft beschäftigt. Die vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit betrug 46 Stunden, der Stundenlohn belief sich zuletzt auf EUR 10,08 brutto. Die Bundesagentur für Arbeit gewährte der Beklagten auf ihren Antrag einen Eingliederungszuschuss nach §§ 88 ff SGB III. Dem Kläger stand der gesetzliche Mindesturlaub zu. Er kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 3. Januar zum 15. Februar 2019 selbst.

Der Kläger ist seit Oktober 2014 als schwerbehinderter Mensch mit einem GdB von 50 anerkannt. Es ist streitig, ob der Beklagten bereits im August 2016 die Schwerbehinderung des Klägers bekannt war, weil sie einen Eingliederungszuschuss für schwerbehinderte Menschen beantragt hat.

Nach Ausspruch der Kündigung verlangte der Kläger mit Schreiben vom 23. Januar 2019 vergeblich die teilweise Gewährung und Abgeltung von zwölf Tagen Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen (für 2016 anteilig zwei Tage, für 2017 und 2018 jeweils fünf Tage) sowie von elf Tagen Erholungsurlaub. Soweit zweitinstanzlich noch von Interesse machte er in erster Instanz mit dem Klageantrag zu 2) Urlaubsabgeltung für insgesamt 23 Tage iHv. EUR 2.492,28 brutto geltend. Die Beklagte zahlte ihm nach Klageerhebung Urlaubsabgeltung iHv. EUR 649,89 brutto.

Das Arbeitsgericht Trier hat die Beklagte mit Urteil vom 15. Mai 2019 (Ziff. 2 des Tenors) verurteilt, an den Kläger EUR 1.113,65 brutto Urlaubsabgeltung für zwölf Tage Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen und sieben Tage Mindesturlaub (19 Tage x EUR 92,66 brutto = EUR 1.760,54 abzgl. gezahlter EUR 649,89) zu zahlen. Zur Begründung hat das Arbeitsgerichts im Wesentlichen ausgeführt, der Zusatzurlaub für die Jahre 2016 bis 2018 sei - wie der gesetzliche Mindesturlaub - am Ende des jeweiligen Kalenderjahrs nicht verfallen, weil die Beklagte den Kläger nicht über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt habe (vgl. BAG 19.02.2019 - 9 AZR 541/15). Es könne dahinstehen, ob der Beklagten die Schwerbehinderung des Klägers bekannt gewesen sei. Die durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union statuierte Hinweispflicht (vgl. EuGH 06.11.2018 - C-684/16) betreffe auch die Zusatzurlaubstage nach § 208 SGB IX nF bzw. § 125 SGB IX aF. Dem Arbeitgeber sei auch bei Unkenntnis von der Schwerbehinderung zumutbar, dem Arbeitnehmer mitzuteilen, dass ihm im Falle einer Schwerbehinderung fünf zusätzliche Urlaubstage zustehen und diese ebenfalls genommen werden müssen, um deren Verfall zu verhindern. Dadurch würde der Arbeitgeber sowohl seiner Hinweispflicht gerecht als auch dem Recht des Arbeitnehmers, seine Schwerbehinderung nicht zu offenbaren.

Gegen das am 8. Juli 2019 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit einem am 19. Juli 2019 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit einem am 3. September 2019 eingegangenen Schriftsatz begründet.

Sie trägt vor, sie habe erst im Januar 2019 von der Schwerbehinderung des Klägers Kenntnis erlangt. Den Eingliederungszuschuss habe sie im August 2016 beantragt, weil der Kläger längere Zeit arbeitslos gewesen sei. Der Kläger könne nicht, obwohl er ihr seine Schwerbehinderung verschwiegen habe, noch nach mehreren Jahren Zusatzurlaub beanspruchen. Eine generelle Pflicht des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer auf einen Zusatzurlaub hinzuweisen und zur Urlaubsnahme aufzufordern, obwohl ihm die Schwerbehinderung nicht bekannt sei, bestehe nicht. Die vom Arbeitsgericht angenommene Hinweispflicht gegenüber allen Arbeitnehmern, dass ihnen im Fall einer theoretisch vorhandenen Schwerbehinderung zusätzlicher Urlaub zustehe, der bis zum Jahresende genommen werden müsse, schieße über das Ziel hinaus.


Die Beklagte beantragt zweitinstanzlich,

das Urteil des Arbeitsgerichts Trier vom 15. Mai 2019, Az. 4 Ca 160/19, teilweise abzuändern und den Klageantrag zu 2) auf Zahlung von EUR 1.113,65 brutto Urlaubsabgeltung abzuweisen.


Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er trägt vor, die Beklagte habe bereits bei seiner Einstellung im August 2016 von seiner Schwerbehinderung gewusst, weil ihr von der Bundesagentur für Arbeit ein Eingliederungszuschuss für schwerbehinderte Menschen bewilligt worden sei. Letztlich sei die Kenntnis der Beklagten gleichgültig. Da der Zusatzurlaubsanspruch das Schicksal des gesetzlichen Mindesturlaubsanspruchs teile, könne bei fehlender Mitwirkung des Arbeitgebers auch der Zusatzurlaub nicht verfallen, selbst wenn - wie hier - der Arbeitgeber behaupte, angeblich nichts von der Schwerbehinderung gewusst zu haben.

Die Berufungskammer hat Beweis erhoben über die Behauptung des Klägers, der Geschäftsführer der Beklagten habe vor seiner Einstellung im August 2016 bei der Agentur für Arbeit einen Eingliederungszuschuss für schwerbehinderte Menschen beantragt; der Geschäftsführer selbst habe telefonischen Kontakt mit dem zuständigen Sachbearbeiter Reha/Schwerbehinderung des Arbeitgeberservice X. sowie der Reha-SB-Vermittlerin P. aufgenommen durch Einholung von schriftlichen Zeugenaussagen der vom Kläger als Zeugen benannten Sachbearbeiter.

Entscheidungsgründe:

I.

Die nach § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist gem. §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG iVm. §§ 519, 520 ZPO form- und fristgerecht eingelegt worden. Sie genügt den gesetzlichen Begründungsanforderungen des § 520 Abs. 3 Satz 2 ZPO und erweist sich auch sonst als zulässig.


II.

Die Berufung hat auch in der Sache Erfolg. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, dem Kläger nach § 7 Abs. 4 BUrlG zwölf Tage Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen aus den Jahren 2016 bis 2018 in rechnerisch unstreitiger Höhe von EUR 1.113,65 brutto nebst Zinsen abzugelten. Entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts ist der Zusatzurlaub nach § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG verfallen, weil ihn der Kläger nicht in den laufenden Kalenderjahren 2016, 2017 und 2018 genommen hat. Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 15. Februar 2019 bestanden die Zusatzurlaubsansprüche nicht mehr.

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, der die Berufungskammer folgt, erlischt der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub (§§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG) bei einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG nur dann am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 Satz 2 und Satz 4 BUrlG), wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Bei einem richtlinienkonformen Verständnis von § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG trifft den Arbeitgeber die Initiativlast bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Die Erfüllung der hieraus in richtlinienkonformer Auslegung abgeleiteten Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers ist grundsätzlich Voraussetzung für das Eingreifen des urlaubsrechtlichen Fristenregimes des § 7 Abs. 3 BUrlG. Der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat seine bisherige Rechtsprechung im Anschluss an das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 6. November 2018 (EuGH 06.11.2018 - C-684/16) dementsprechend weiterentwickelt (vgl. im Einzelnen BAG 19.02.2019 - 9 AZR 423/16 - Rn. 21 ff.; 26.05.2020 - 9 AZR 259/19 - Rn. 16 ff.).

2. Nach § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nF, § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aF haben schwerbehinderte Menschen Anspruch auf einen bezahlten zusätzlichen Urlaub von fünf Arbeitstagen im Urlaubsjahr. Auf diesen Zusatzurlaub sind die Vorschriften über die Entstehung, Übertragung, Kürzung und Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs anzuwenden. Der Zusatzurlaubsanspruch nach § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nF, § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aF teilt das rechtliche Schicksal des gesetzlichen Mindesturlaubsanspruchs (vgl. BAG 22.01.2019 - 9 AZR 45/16 - Rn. 24 mwN).

3. Im Streitfall ist die Beklagte ihren Mitwirkungsobliegenheiten für den gesetzlichen Mindesturlaub nicht nachgekommen. Entgegen der Ansicht des Klägers bedeutet dies nicht, dass deshalb der Verfall des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen nicht eingetreten ist.

Mitwirkungsobliegenheiten wegen des Zusatzurlaubs bestanden nicht deshalb, weil die Beklagte bereits bei der Einstellung im August 2016 wusste, dass der Kläger schwerbehindert ist. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hat der Kläger nicht zu beweisen vermocht, dass der Beklagten seit August 2016 seine Schwerbehinderung bekannt gewesen sei, weil ihr Geschäftsführer bei der Agentur für Arbeit einen Eingliederungszuschuss für schwerbehinderte Menschen beantragt hat. Der vom Kläger benannte Zeuge X., ein Sachbearbeiter Reha/Schwerbehinderung des Arbeitgeberservices der Arbeitsagentur, hat in seiner schriftlichen Aussage vom 3. August 2020 ausgeführt, er könne die Frage, ob der Beklagten vor Einstellung des Klägers im August 2016 dessen Schwerbehinderung bekannt gewesen sei, nicht beantworten. Er habe bei dieser Förderanfrage keinerlei Kontakt zur Beklagten gehabt. Auch die vom Kläger benannte Zeugin P., eine Reha-SB-Vermittlerin der Arbeitsagentur, konnte die Beweisfrage nicht beantworten. Sie hat in ihrer schriftlichen Zeugenaussage vom 31. Juli 2020 ausgeführt, der Kläger habe im Herbst 2019 seine Akte einsehen wollen. Sie könne sich erinnern, dass ein Telefonat mit der Beklagten stattgefunden habe. An den Inhalt könne sie sich jedoch nicht erinnern. Damit ist dem beweisbelasteten Kläger der Beweis nicht gelungen.

Im zur Akte gereichten Bewilligungsbescheid der Agentur für Arbeit zum Antrag der Beklagten auf Eingliederungszuschuss vom 5. September 2016 (Anlage B 4, Bl. 109 d.A.) ist der Förderungsgrund nicht genannt. Im Fragebogen zur Prüfung der Förderungsvoraussetzungen für die Gewährung eines Eingliederungszuschusses hat die Beklagte in der dafür vorgesehenen Rubrik fachliche Defizite des Klägers aufgeführt. Eine Schwerbehinderung des Klägers, die nach § 90 SGB III eine höhere Förderung und eine längere Förderungsdauer ermöglicht hätte, wird in keinem Dokument erwähnt.

4. In der Literatur wird angenommen, dass der Arbeitgeber einen Zusatzurlaub nicht anzubieten braucht, solange er nicht weiß, dass der Arbeitnehmer ein schwerbehinderter Mensch ist (vgl. Pahlen in Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben SGB IX 14. Aufl. § 208 Rn. 9). Der Arbeitgeber muss zwar im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 6. November 2018 (C-684/16) einen schwerbehinderten Arbeitnehmer auf dessen Zusatzurlaub nach § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nF hinweisen und konkret und in völliger Transparenz dafür sorgen, dass der schwerbehinderte Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen Urlaub zu nehmen (so auch LAG Niedersachsen 16.01.2019 - 2 Sa 567/18 - Rn. 95 ff). Er ist jedoch nicht verpflichtet, jeden Arbeitnehmer - anlasslos und gleichsam prophylaktisch - auf den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen hinzuweisen. Die Berufungskammer schließt sich dem an.

5. Die Beklagte hat die Nichtgewährung des Zusatzurlaubs mangels Kenntnis von der Schwerbehinderung des Klägers nicht zu vertreten. Bei Kenntniserlangung von der Schwerbehinderung im Januar 2019 war der Zusatzurlaubsanspruch aus den Vorjahren bereits verfallen.


III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1, § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Sie entspricht für das erstinstanzliche Verfahren bei einem Streitwert von EUR 3.628,70 dem anteiligen Obsiegen bzw. Unterliegen der Parteien.

Die Revision wird gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

Referenznummer:

R/R8761


Informationsstand: 17.09.2021