Urteil
Wirksamkeit der Wahl der Vertrauensperson im Betrieb

Gericht:

AG Köln 18. Kammer


Aktenzeichen:

18 BV 177/22


Urteil vom:

12.04.2023


Tenor:

1. Der Antrag zu 1. wird zurückgewiesen.

2. Die Wahl zur Schwerbehindertenvertretung im Betrieb „R N“ der Beteiligten zu 12. vom 16.11.2022 wird für unwirksam erklärt.

Rechtsweg:

nachgehend LAG Köln, Urteil vom 17.11.2023 - 9 TaBV 31/23

Quelle:

Justiz NRW

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit der Wahl der Vertrauensperson im Betrieb „R N“ der Beteiligten zu 12. am 16.11.2022.

Die Beteiligte zu 12. betreibt deutschlandweit an rund 330 Standorten Baumärkte und Gartencenter. Über einen Zuordnungstarifvertrag nach § 3 BetrVG ist ein Betrieb „R N“ gebildet, in dem zum Zeitpunkt der angegriffenen Wahl 357 schwerbehinderte Arbeitnehmer beschäftigt waren. Die zehn Antragsteller sind Arbeitnehmer des Betriebs, schwerbehindert bzw. schwerbehinderten Menschen gleichgestellt und befanden sich auf der Wählerliste. Im Betrieb der Beteiligten zu 12. wurden im Jahr 2022 Betriebsratswahlen dergestalt durchgeführt, dass das Wahlvorstandsbüro im Betrieb der Zentrale eingerichtet war und die Wahl in Form der Briefwahl durchgeführt wurde. Bei der Übermittlung der Posteingänge an den Wahlvorstand kam es zu keinerlei Auffälligkeiten. Die Betriebsratswahl wurde erfolglos angefochten.

Die im vorliegenden Verfahren angegriffene Wahl der Vertrauensperson der schwerbehinderten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wurde auf Grundlage des Wahlausschreibens vom 04.10.2022 durchgeführt. Hierin heißt es unter anderem:

„5. Zu wählen sind die Vertrauensperson und vier stellvertretende Mitglieder. Vertrauensperson und stellvertretende Mitglieder werden in zwei getrennten Wahlgängen gewählt.

6. Wir bitten die Wahlberechtigten, innerhalb von zwei Wochen seit dem Erlass dieses Wahlausschreibens, also spätestens am 18. Oktober 2022 schriftliche Wahlvorschläge beim Wahlvorstand der SBV-Wahl t Baumarkt R N, Sc W Pe einzureichen. Nach diesem Termin eingehende Wahlvorschläge können nicht berücksichtigt werden.

Zur Wahl stehen nur die Bewerber, die in einem gültigen Wahlvorschlag vorgeschlagen worden sind.

Aus den Wahlvorschlägen muss sich eindeutig ergeben, wer als Vertrauensperson und wer als stellvertretendes Mitglied vorgeschlagen wird, für beide Ämter kann dieselbe Person vorgeschlagen werden. Jeder Bewerber kann nur in einem Wahlvorschlag benannt werden, es sei denn, dass sie/er in einem Wahlvorschlag als Vertrauensperson und im anderen als stellvertretendes Mitglied vorgeschlagen wird. Jeder Wahlberechtigte kann nur einen Wahlvorschlag für die Vertrauensperson und einen Wahlvorschlag für das stellvertretende Mitglied unterzeichnen. Jeder Wahlvorschlag muss von mindestens 18 Wahlberechtigten unterzeichnet sein und muss Familiennamen, Vornamen, Geburtsdatum, Art der Beschäftigung sowie erforderlichenfalls Betrieb oder Dienststelle der Bewerber angeben. Dem Wahlvorschlag ist die schriftliche Zustimmung der Bewerber im Original unterschrieben beizufügen. Auch die Stützunterschriften müssen im Original vorgelegt werden.

Formulare für Wahlvorschläge sind beim Wahlvorstand erhältlich; die Benutzung der Formulare ist aber nicht zwingend erforderlich.

Die Namen der Bewerber aus gültigen Wahlvorschlägen werden nach Ablauf der Frist zur Einreichung von Wahlvorschlägen bis zum Abschluss der Stimmabgabe an der gleichen Stelle wie dieses Wahlausschreiben ausgehängt.

7. Der Wahlvorstand hat generelle schriftliche Stimmabgabe beschlossen. Der Versand der Briefwahlunterlagen erfolgt ohne weitere Aufforderung. Die schriftliche Stimmabgabe (Briefwahl) endet am 16. November 2022 um 15 Uhr in der Bürgerschänke, Sc W 60 in 31224 Pe.

8. Die öffentliche Sitzung des Wahlvorstandes zur Auszählung der Stimmen und Feststellung des Wahlergebnisses findet statt am 16. November 2022, ab 15 Uhr, in der Bürgerschänke Sc W 60 in 31224 Pe.

9. Einsprüche, Wahlvorschläge und sonstige Erklärungen sind an den Wahlvorstand zu richten. Der Wahlvorstand ist an Arbeitstagen zu erreichen von 9.00 bis 17.00 Uhr

A (Vorsitz) — Tel. www — x

B (weiteres Mitglied) — Tel. yyy — z

Postadresse: Sc W 60, 31224 Pe“

Pe ist der Wohnort der Wahlvorstandsvorsitzenden und Beteiligten zu 11. An der Außenseite des Gebäudes der Bürgerschänke in Pe befanden sich zwei Briefkästen. Auf einem der Briefkästen war die Aufschrift „Wahlvorstand der SBV-Wahl t Baumarkt R-N“ angebracht. Dieser Briefkasten wurde regelmäßig von der Wahlvorstandsvorsitzenden und dem Wirt der Bürgerschenke geleert. Eine Vielzahl von stimmberechtigten Arbeitnehmern gaben im Wege einer Unterschriftensammlung kund, dass sie sich aufgrund datenschutzrechtlicher Bedenken bei der Versendung der Wahlunterlagen an die betriebsfremde Gaststätte in ihrem Wahlrecht eingeschränkt sehen und an der Wahl daher nicht teilnehmen wollten. Am 18.20.2022, 14.50 Uhr, wurden von Frau So Ha zwei gleichlautende Wahlvorschläge jeweils für eine Vertrauensperson und vier Stellvertreter eingereicht. Inhaltlich sind diese nicht zu unterscheiden. Beiden Dokumenten waren unterschiedliche Unterstützerunterschiften in ausreichender Anzahl beigefügt. Einem Dokument war die schriftliche Zustimmung des Kandidaten zur Wahl der Vertrauensperson beigefügt. Dem anderen Dokument waren die schriftlichen Zustimmungen der Kandidaten zur Wahl der stellvertretenden Mitglieder beigefügt.

Die Antragsteller meinen, dass die Wahl der „Bürgerschänke“, einem Hotel-Restaurant in Pe, als Anschrift des Wahlvorstands mit entsprechender Anbringung eines Briefkastens sowie Ort für die Auszählung der Briefwahlstimmen gegen wesentliche Wahlvorschriften verstoßen habe. Eine Gaststätte als Postadresse des Wahlvorstands und Wahllokal sei „anfälliger“ für Unkorrektheiten, da ein Einfluss durch den Wirt oder Dritte nicht ausgeschlossen erscheine. Die Wahl eines außerhalb der Betriebsstätte liegenden, privaten Raums sei von der Betriebsverfassung und den geltenden Wahlvorschriften überhaupt nicht in Betracht gezogen worden. Die hierfür gegebene Begründung, dass damit der Briefkasten für die in Pe wohnhafte Vorsitzende des Wahlvorstands „zeitnah erreichbar“ sei, erweise sich als sachfremd. Der Wahlort Pe sei augenscheinlich gewählt worden, um der Vorsitzenden möglichst kurze Wege zum Wahl-Briefkasten und daher eine möglichst hohe Bequemlichkeit für sie persönlich zu gewährleisten. Jedenfalls sei eine solche „zeitnahe Erreichbarkeit“ auch in dem nächstgelegenen Markt der Beteiligten zu 12. gewährleistet gewesen, der sich in etwa 37 Kilometer Entfernung in W befinde. Die Wahl der „Bürgerschänke“ als Adresse des Wahlvorstands habe außerdem dazu geführt, dass mit dem Wirt der Bürgerschenke ein externer, betriebsfremder Dritter Einsicht in die Tätigkeit des Wahlvorstands gehabt habe und sogar an dessen Aufgaben beteiligt worden sei. Dies verstoße gegen § 2 Abs. 1 SchwbVWO und das Wahlgeheimnis des § 177 Abs. 6 S. 1 SGB IX. Dabei gehe es auch um die Frage, ob jemand aufgrund seiner Eigenschaft als Schwerbehinderter oder Gleichgestellter zur Wahl berechtigt sei und seine Stimme abgegeben habe. Diese Informationen seien für den Wirt bei Leerung des Briefkastens ohne weiteres einsehbar gewesen, da die Briefumschläge mit Namen und Anschrift der wahlberechtigten Person als Absenderangaben versehen gewesen seien. Die Sorge vor einem mangelhaften Umgang mit den sensiblen personenbezogenen Daten der Wahlberechtigten sei der Grund dafür gewesen, dass insgesamt 76 wahlberechtigte Mitarbeiter nicht an der Wahl teilgenommen hätten.

Auch der für das Wahl- wie für das Wahlvorschlagsverfahren gleichermaßen geltende Öffentlichkeitsgrundsatz sei durch die Benennung der Bürgerschenke als Ort für die Einreichung der Wahlvorschläge sowie Abgabe der Stimmen verletzt: Es bestehe eine Hemmschwelle, in eine Gaststätte zu gehen, um eine Stimmauszählung zu beobachten. So könnten Arbeitnehmer, die nicht viel Geld haben, den Druck scheuen, etwas in der Gaststätte konsumieren zu müssen oder gar alkoholkranke Menschen von einer Teilnahme absehen, da in der Gaststätte unmittelbar die Konfrontation mit der Alkoholsucht drohe. Zudem habe der Wirt der Bürgerschenke bei der Auszählung das Wahllokal betreten. Weiter rügen die Antragsteller dass im Wahlausschreiben für die Abgabe von Wahlvorschlägen im Zeitraum vom 04.10.2022 bis 18.10.2022 Sprechzeiten und ein konkreter Raum in dem Hotel und Restaurant „Bürgerschenke“, in dem Vorschläge hätten eingereicht werden können, nicht benannt worden seien. Es sei nicht auszuschließen, dass bei Festlegung des Wahlvorstandsbüros an einer Betriebsstätte der Beteiligten zu 12., etwa in der Zentrale in K (wie bei den Betriebsratswahlen) oder bei ordnungsgemäßem Hinweis im Wahlausschreiben auf den konkreten Ort und die Zeiten für die Einreichung von Wahlvorschlägen mehr Wahlvorschläge eingereicht worden wären. Insofern sei auch ein anderer Ausgang des Wahlverfahrens durchaus denkbar gewesen. Dies umso mehr, als dass zahlreiche wahlberechtigte Mitarbeiter erklärt hätten, aus datenschutzrechtlichen Gründen von einer Übersendung von Wahlunterlagen an die Postadresse des Wahlvorstands abzusehen und an der Wahl nicht teilzunehmen, was auch das Einreichen von Wahlvorschlägen erfasse.

Weiterhin rügen die Antragsteller: Durch die Bestimmung einer allgemeinen Briefwahl sei gegen §§ 10, 11 SchwbVWO verstoßen worden, was die Wahl anfechtbar mache. Die schwerbehinderte Arbeitnehmerin Voll sei fehlerhaft nicht auf der Wählerliste geführt worden. Darüber hinaus sei die Zahl der zu wählenden Stellvertreter zu hoch angesetzt worden. Im Wahlausschreiben habe der notwendige Hinweis auf § 19 Abs. 3 S. 1 BetrVG i.V.m. § 177 Abs. 6 S. 2 SGB IX gefehlt. Es sei unklar, ob die Frist des § 6 Abs. 1 Satz 1 SchwbVWO in jeder Betriebsstätte eingehalten worden sei. Ein weiterer Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften liege in der Ablehnung des Wahlvorschlags der Frau So Ha.


Die Antragsteller beantragen:

1. Es wird festgestellt, dass die Wahl zur Schwerbehindertenvertretung im Betrieb „R N“ der t GmbH, Hstraße , K, vom 16.11.2022 nichtig ist.

Hilfsweise für den Fall des Unterliegens mit dem vorgenannten Antrag:

2. Die Wahl zur Schwerbehindertenvertretung im Betrieb „R N“ der t GmbH, Hstraße , K, vom 16.11.2022 wird für unwirksam erklärt.


Die Beteiligten zu 11. und 12. beantragen,

die Anträge zurückzuweisen.

Die Beteiligte zu 11. behauptet, dass Posteingänge in den Märkten und in der Zentrale der Beteiligten zu 12. nicht gegen unberechtigten Zugriff zu sichern seien. Der Posteingang in den Märkten finde in der Regel durch Übergabe der Briefe von der Post an die Hauptinformation (teilweise nur durch Ablage dort) statt. Zugriff hätten in diesem Fall alle Mitarbeiter des betreffenden Marktes. Die Briefkästen in den Baumärkten seien nur während der Öffnungszeiten der Filiale erreichbar. Bei der Anbringung eines zusätzlichen Briefkastens an einem Baumarkt sei die Beschickung für die Postmitarbeiter nicht so sicher möglich gewesen, wie an der Bürgerschänke. Immer wieder würden Posteingänge zudem falsch zugeordnet. Bei Posteingängen im Briefkasten an der Bürgerschenke hätten Betriebsfremde keine Einsicht in die Tätigkeit des Wahlvorstands gehabt. Die Mitwirkung des Wirtes habe lediglich in der Mitwirkung an der Dokumentation der Safebags bestanden. Er habe keine personenbezogenen Daten wahrnehmen können. Der Weg zum Wahllokal in der Bürgerschenke sei ausreichend beschildert gewesen.

Die Beteiligte zu 11. meint, dass ein sicherer Postzugang an den Wahlvorstand in den Märkten und in der Zentrale der Beteiligten zu 12. nicht habe gewährleistet werden können. Es genüge nicht, Briefwahlunterlagen mit „vertraulich“ zu kennzeichnen, um jeglichen Zugriff durch Betriebsangehörige und -fremde im Markt oder auch in der Zentrale auszuschließen. Für die Wahl der „Bürgerschänke“ in Pe als Wahllokal und Anschrift für die Wahlunterlagen habe zudem gesprochen, dass die Firmenzentrale in K und nicht zentral im Wahlgebiet liege (dieses erstreckt sich von No über Rh-Pf, NR, Nie bis nach Sch-H). Für die Mehrzahl der Wahlberechtigten sei das gewählte Wahllokal einfacher zu erreichen gewesen. Bei Posteingängen für den Wahlvorstand habe der Briefkasten zeitnah für die in Pe wohnhafte Wahlvorstandsvorsitzende erreichbar sein sollen, um einen sicheren Zugang beim Wahlvorstand zu ermöglichen. Ebenso habe auf dem Briefkasten die Telefonnummer des Wahlvorstands gestanden, um jederzeit eine persönliche Abgabe gewährleisten zu können. Es sei auch nicht denkbar, dass die von den Antragstellern angeführten vermeintlichen Verstöße gegen Wahlvorschriften zu einem anderen Wahlergebnis geführt hätten, da es lediglich einen Wahlvorschlag gegeben habe.

II.

1. Die Auslegung der Anträge ergibt – worauf die Beteiligten bereits im Gütetermin hingewiesen worden sind -, dass lediglich die Wahl der Vertrauensperson, nicht der Stellvertreter angegriffen ist.

Bei den getrennt anzufechtenden Wahlen der Vertrauensperson und der stellvertretenden Mitglieder der Schwerbehindertenvertretung muss den Beteiligten durch den fristgemäßen Anfechtungsantrag unzweifelhaft die Feststellung möglich sein, ob ihre Wahl angefochten werden soll. Dass sich die Anträge vom 30.11.2022 nur gegen die Wahl der Beteiligten zu 11. richteten, wird daran deutlich, dass im Rubrum der Antragsschrift ausdrücklich nur die „Schwerbehindertenvertretung des Betriebes “ bezeichnet ist. Dass hiermit die gewählte Vertrauensperson gemeint war und nicht - zumindest auch - die selbständig gewählten Stellvertreter, ergibt sich daraus, dass die als Beteiligte zu 11. bezeichnete Schwerbehindertenvertretung durch die „Vertrauensperson, Frau Ka Rü“ vertreten werden soll. Auf die Wahl der Stellvertreter bezieht sich demgegenüber weder der Anfechtungsantrag noch sind die Stellvertreter als Beteiligte im Rubrum der Antragsschrift bezeichnet. Deshalb lässt sich der auf „die Schwerbehindertenvertretung“ bezogene Antrag nicht dahin auslegen, dass neben der Wahl der Vertrauensperson auch die Stellvertreterwahl angefochten werden sollte (vgl. zu einer analogen Antragsgestaltung: BAG, Beschluss vom 23. Juli 2014 – 7 ABR 23/12 –, Rn. 37 - 38, juris).

2. Der auf Feststellung der Nichtigkeit der Wahl der Vertrauensperson gerichtete Antrag ist zulässig (vgl. allg. BAG, Beschluss vom 30. Juni 2021 – 7 ABR 24/20 –, Rn. 26, juris), aber unbegründet. Die Wahl ist nicht nichtig.

a) Zur Beurteilung der Frage der Nichtigkeit der Wahl kann die Rechtsprechung zur Nichtigkeit von Betriebsratswahlen herangezogen werden. Hiernach ist eine Betriebsratswahl nur in ganz besonderen Ausnahmefällen nichtig. Voraussetzung dafür ist ein so eklatanter Verstoß gegen allgemeine Grundsätze jeder ordnungsgemäßen Wahl, dass auch der Anschein einer dem Gesetz entsprechenden Wahl nicht mehr besteht. Wegen der weitreichenden Folgen einer von Anfang an unwirksamen Betriebsratswahl kann deren jederzeit feststellbare Nichtigkeit nur bei besonders gravierenden und krassen Wahlverstößen angenommen werden. Es muss sich um einen offensichtlichen und besonders groben Verstoß gegen Wahlvorschriften handeln, so dass ein Vertrauensschutz in die Gültigkeit der Wahl zu versagen ist. Die Betriebsratswahl muss „den Stempel der Nichtigkeit auf der Stirn tragen“ (st. Rspr. vgl. BAG, Beschluss vom 30. Juni 2021 – 7 ABR 24/20 –, Rn. 27 - 28, juris; zur Wahl nach § 177 SGB IX: Hess. LAG, Beschluss vom 15. Juni 2020 – 16 TaBV 116/19 –, Rn. 47, juris).

b) Ein derart grober Verstoß gegen allgemeine Grundsätze jeder ordnungsgemäßen Wahl ist nicht ersichtlich. Der Wahlvorstand hat die beiden von Frau So Ha vertretenen Wahlvorschläge (Anlagen 5 und 6 zum SS v. 29.03.2023, Bl. 153 ff. d.A.) zu Recht als ungültig bewertet: Beiden fehlten – teilweise – die nach § 6 Abs. 2 Satz 3 SchwbVWO erforderlichen schriftliche Zustimmungen der jeweils aufgeführten Bewerber. Eine Frist nach § 6 Abs. 3 Satz 2 SchwbVWO war den Bewerbern nicht zu setzen, da sie jeweils nur einmal eine Zustimmung erklärt hatten. Eine Pflicht des Wahlvorstands zu einer unverzüglichen umfassenden Prüfung der Wahlvorschläge und zur unverzüglichen Unterrichtung des Listenvertreters über sämtliche festgestellten Mängel bestand nicht (vgl. BAG, Beschluss vom 20. Januar 2010 – 7 ABR 39/08 –, BAGE 133, 114-128, Rn. 24 - 26).

3. Der damit zur Entscheidung anstehende Hilfsantrag ist zulässig und begründet. Die Wahl der Vertrauensperson ist nach § 177 Abs. 6 Satz 2 SGB IX iVm. § 19 Abs. 1 BetrVG unwirksam.

a) Der auf Unwirksamkeitserklärung gerichtete Antrag ist innerhalb der Frist des § 177 Abs. 6 Satz 2 SGB IX iVm. § 19 Abs. 2 Satz 2 BetrVG bei dem Arbeitsgericht eingegangen. Die zehn wahlberechtigten Antragsteller sind nach § 177 Abs. 6 Satz 2 SGB IX iVm. § 19 Abs. 2 Satz 1 BetrVG anfechtungsberechtigt.

b) Auch die materiellen Voraussetzungen einer Anfechtung nach § 19 Abs. 1 BetrVG sind gegeben:

aa) Der Wahlvorstand hat dadurch gegen wesentliche Wahlverfahrensvorschriften verstoßen, dass er eine betriebsfremde Adresse zur Einreichung der Wahlvorschläge sowie als Postanschrift für die Briefwahl bestimmt hat. Hierdurch war nach dem Dafürhalten der Kammer die Freiheit der Wahl beeinträchtigt.

Die Wahlfreiheit besteht darin, dass die Wählenden ihr Wahlrecht frei, das heißt ohne Zwang oder sonstige unzulässige Beeinflussung von außen ausüben können. Sie schützt jedoch nicht nur die freie Wahlbetätigung bei der Stimmabgabe. Zur Wahlfreiheit gehört auch ein grundsätzlich freies Wahlvorschlagsrecht für alle Wahlberechtigten (BVerfG, Beschluss vom 15. Februar 1978 – 2 BvR 134/76 –, BVerfGE 47, 253-285, Rn. 63).

Wie die mit der Antragsschrift zur Akte gereichten Anlagen zeigen (Bl. 11 ff. d.A.) hatte ein nicht unerheblicher Teil der Wahlberechtigten Bedenken gegen eine Übersendung von Wahlunterlagen an die Adresse des Wahlvorstands in der Bürgerschenke in Pe. Diese Bedenken erscheinen vor dem Hintergrund nachvollziehbar, dass den Wahlvorschlägen wie auch den den Stimmzetteln nach § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Nr. 4, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 SchwbVWO beizufügenden Unterlagen die jeweilige Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung der dort aufgeführten Personen zu entnehmen ist und bei einem Versand an eine betriebsfremde Adresse das Risiko der Kenntnisnahme betriebsfremder Dritter besteht. Der Beteiligten zu 11. ist zuzugestehen, dass auch bei einer Versendung der Wahlunterlagen an eine Adresse im Betrieb bei nicht sachgerechter Handhabung nicht ausgeschlossen werden kann, dass nicht Befugte Kenntnis der personenbezogenen Daten der Wahlberechtigten erhalten. Jedoch ist dies nach Dafürhalten der Kammer ein jeder Wahl innewohnendes, nicht grundsätzlich ausschließbares Risiko, welches die Wahlberechtigten zur Verwirklichung ihres Wahlrechts hinzunehmen haben. Allerdings ist bei Versand an eine betriebszugehörige Adresse regelmäßig nur die Kenntnisnahme durch betriebszugehörige Dritte zu besorgen, während nachvollziehbarerweise bei einem Postversand an eine betriebsfremde Adresse bei den Wahl- und Wahlvorschlagsberechtigten die Besorgnis der Kenntnisnahme auch durch Betriebsfremde bestehen kann. Da es sich bei der Frage der Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung um ein besonders sensibles Datum handelt, erweist sich die Wahl einer betriebsfremden Adresse für die Einreichung von Wahlvorschlägen und Stimmzetteln als unverhältnismäßiger Eingriff in das durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Recht auf informationelle Selbstbestimmung, zu dessen Wahrung auch der Wahlvorstand bei der Organisation der Wahl verpflichtet war. Die Sorge vor der Offenlegung der Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung – wie auch der Stimmabgabe selber - gegenüber betriebsfremden Dritten erscheint geeignet, Wahlberechtigte von Wahlhandlungen abzuhalten. Bei Festlegung einer betriebsinternen Postadresse für die Einreichung von Wahlvorschlägen und für die Einsendung von Stimmzetteln hätte nach Auffassung der Kammer dagegen das Risiko der Kenntnisnahme Unbefugter durch zumutbare Maßnahmen weitgehend minimiert werden können - unter Inanspruchnahme des zur Unterstützung verpflichteten Betriebsrats bzw. Arbeitgebers gesichert werden können (§ 179 Abs. 9 SGB IX; § 182 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Bei der in 2022 stattgefundenen Betriebsratswahl hat dies nach dem unwidersprochenen Vortrag der Antragsteller problemlos funktioniert.

bb) Es kann nicht im Sinne von § 19 Abs. 1 letzter Halbs. BetrVG davon ausgegangen werden, dass sich der Wahlverfahrensverstoß nicht auf das Ergebnis der Wahl ausgewirkt hat.

Nach dieser Vorschrift berechtigt ein Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften nicht zur Anfechtung der Wahl, wenn er das Wahlergebnis objektiv weder ändern noch beeinflussen konnte. Dafür ist entscheidend, ob bei einer hypothetischen Betrachtungsweise eine Wahl ohne den Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften unter Berücksichtigung der konkreten Umstände zwingend zu demselben Wahlergebnis geführt hätte. Eine verfahrensfehlerhafte Betriebsratswahl muss nur dann nicht wiederholt werden, wenn sich konkret feststellen lässt, dass auch bei der Einhaltung der Wahlvorschriften kein anderes Wahlergebnis erzielt worden wäre (BAG, Beschluss vom 16. März 2022 – 7 ABR 29/20 –, Rn. 41, juris).

Da nicht ausgeschlossen erscheint, dass bei Festlegung einer betriebsinternen Adresse zur Einreichung der Wahlvorschläge und Einsendung der Stimmzettel aufgrund der dann geminderten Besorgnis zur Preisgabe personenbezogener Daten ein weiterer (gültiger) Wahlvorschlag eingereicht worden wäre, kann auch eine Auswirkung auf das Wahlergebnis nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.

Referenznummer:

R/R9819


Informationsstand: 24.02.2025