Urteil
Wahlanfechtung - Schwerbehindertenvertretung - Grundsatz der Chancengleichheit

Gericht:

LAG Hessen 16. Kammer


Aktenzeichen:

16 TaBV 147/19


Urteil vom:

25.05.2020


Grundlage:

Tenor:

Die Beschwerde der Beteiligten zu 5 gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 10. September 2019 - 24 BV 615/18 - wird zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit der am 8. Oktober 2018 durchgeführten Wahl einer Schwerbehindertenvertretung.

Der Arbeitgeber (Beteiligter zu 8) betreibt eine Fluggesellschaft. In deren für das Bodenpersonal in A bestehendem Betrieb sind die Antragsteller zu 1-4 beschäftigt. Dort ist eine Schwerbehindertenvertretung (Beteiligte zu 5) gebildet, deren 1. Stellvertreterin die Beteiligte zu 6 und 3. Stellvertreterin die Beteiligte zu 7 sind. 2. Stellvertreterin ist die Antragstellerin zu 2, 4. Stellvertreterin ist die Antragstellerin zu 4.

Mit Schreiben vom 15. August 2018 übersandte die damalige Schwerbehindertenvertretung an die privaten Email-Adressen der im Betrieb beschäftigten schwerbehinderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine Einladung zur Jahreshauptversammlung der Schwerbehindertenvertretung gemäß § 95 Abs. 6 SGB IX für den 25. September 2018, der ein Schreiben (Anl. AS 5, Bl. 19 der Akte) beigefügt war, dessen 4. Absatz lautet:

"Zum letzten Mal dürfen wir die Kollegen des fliegenden Personals bei unserer Versammlung begrüßen. Durch die Neuwahlen bei der Personalvertretung wurde die Voraussetzung für die Wahl einer eigenen Schwerbehindertenvertretung geschaffen. Die SBV-Wahl steht auch bei uns in Kürze an. Sie wird in Briefwahl durchgeführt. Sie erhalten ihre Wahlunterlagen Ende September per Post zugeschickt. Gewählt werden wieder eine Vertrauensperson und mehrere StellvertreterInnen. Die im Amt befindlichen treten wieder an und würden sich über ihr Vertrauen sehr freuen. Bitte nutzen Sie Ihr Recht zu wählen sehr zahlreich. Eine hohe Wahlbeteiligung dokumentiert das Interesse an unseren Themen."

Das Schreiben enthält sodann die Namen der (damaligen) Schwerbehindertenvertrauensperson und ihrer 1. Stellvertreterin.

Am 23. August 2018 erließ der Wahlvorstand das Wahlausschreiben (Anl. AS 1, Bl. 14f der Akte). Am 21. September 2018 versandte der Wahlvorstand die Wahlunterlagen an die Wahlberechtigten.

In der Zeit zwischen dem 20. und dem 27. September 2018 wandte sich die Antragstellerin zu 2 wiederholt an den Wahlvorstand, zunächst mit der Bitte einen "e-Flyer" der Kandidaten an die Wahlberechtigten zu versenden, sodann forderte sie Chancengleichheit der Wahlbewerber, die durch das Begleitschreiben der derzeitigen Amtsinhaber zur Einladung für die Jahreshauptversammlung verletzt sei. Der Wahlvorstand berief sich auf seine Verpflichtung zur Neutralität und wies darauf hin, dass die Geschäftsleitung bei der Betriebsrats-/Aufsichtsratswahl Werbeflächen an verschiedenen Coffeepoints und den Pool- und Aufenthaltsräumen zur Verfügung gestellt habe. Wegen der Einzelheiten der Korrespondenz zwischen der Antragstellerin zu 2 und dem Wahlvorstand wird auf die Anl. AS 6ff (Bl. 20 ff. der Akte) Bezug genommen.

Mit der Anl. AS 2 (Bl. 16 der Akte) wurden die Wahlbewerber im Betrieb bekannt gemacht, wobei streitig ist, ob dies am 24. oder erst am 28. September 2018 erfolgte. Die Auszählung der Stimmen fand am 8. Oktober 2018 statt. Wegen des Wahlergebnisses, das am 17. Oktober 2018 ausgehängt wurde, wird auf die Anl. AS 3 (Bl. 17 der Akte) verwiesen.

Mit einem am 22. Oktober 2018 beim Arbeitsgericht eingegangenen Anwaltsschriftsatz haben die Antragsteller die Wahl der Schwerbehindertenvertretung angefochten und (insbesondere) die Verletzung des Grundsatzes der Chancengleichheit gerügt.

Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Vorbringens der Beteiligten und der gestellten Anträge wird auf die Ausführungen des Arbeitsgerichts im Beschluss unter A. (Bl. 159-162 der Akte) verwiesen.

Im Anhörungstermin vom 10. September 2019 (Bl. 155 der Akte) hat die Vertreterin der Antragsteller erklärt, dass ausschließlich die Anfechtung, nicht aber die Nichtigkeit der streitgegenständlichen Wahl der Schwerbehindertenvertretung geltend gemacht wird.

Das Arbeitsgericht hat dem Antrag stattgegeben und die Wahl der Schwerbehindertenvertretung wegen Verletzung des Grundsatzes der Chancengleichheit für unwirksam erklärt. Wegen der Begründung wird auf die Ausführungen unter B. im Beschluss (Bl. 162ff der Akte) Bezug genommen.

Dieser Beschluss wurde dem Vertreter der Schwerbehindertenvertretung am 1. Oktober 2019 zugestellt, der dagegen am 22. Oktober 2019 Beschwerde eingelegt und diese nach Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist bis 2. Januar 2020 am 27. Dezember 2019 begründet hat.

Die Schwerbehindertenvertretung rügt, das Arbeitsgericht habe verkannt, dass nicht jede begleitende Stellungnahme Wahlwerbung darstelle. Vielmehr sei Wahlwerbung von der herkömmlichen Öffentlichkeits- und Amtsarbeit abzugrenzen. Das Arbeitsgericht habe sich mit dem Gesamtcharakter des Schreibens nicht ausreichend auseinandergesetzt. Die ersten 3 Absätze des Schreibens enthielten keine Wahlwerbung. Sodann werde in ebenso neutraler Art mitgeteilt, dass die im Amt Befindlichen wieder antreten und sich über das Vertrauen sehr freuen. Diesen Satz habe das Arbeitsgericht zu Unrecht als Wahlwerbung angesehen. Tatsächlich ermangele es jeder werbenden Aussage. Maßgeblich sei, dass die sich äußernde Person die ihr kraft Amtes gegebene Einflussmöglichkeit in einer Weise verwende, die mit ihrer der Allgemeinheit verpflichteten Aufgabe unvereinbar wäre. Dies sei hier nicht der Fall. In einem ersten Schritt müsse eine inhaltliche Abgrenzung zwischen Wahlwerbung und Information erfolgen. Dieser gehe hier deutlich zu Gunsten einer reinen Information aus. Auf der zweiten Ebene sei zu prüfen, ob das Innehaben des Amts eine Neutralität erfordere. Durch den Hinweis, dass sie wieder antritt, habe die Schwerbehindertenvertreterin ihr Amt nicht verletzt. Der genannte Satz sei schlichtweg Ausdruck des Persönlichkeitsrechts sowie der Meinungsfreiheit und stelle keine Wahlwerbung dar. Ferner sehe das Arbeitsgericht in dem Satz "die im Amt befindlichen treten wieder an..." eine unzulässige Wahlwerbung. Dabei verkenne es, dass Wahlwerbung grundsätzlich von Art. 5, 38 Grundgesetz gedeckt ist. Auch Art. 9 Abs. 3 GG schütze Wahlwerbung. Solange keine unzulässigen Mittel verwendet werden, sei eine Beeinflussung zulässig. Auch der Satz von Angela Merkel "Sie kennen mich" sei nicht als unzulässige Wahlwerbung zu werten. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts habe auch die erfolgte Briefwahl die Situation nicht verschlimmert. Schließlich meine das Arbeitsgericht fehlerhaft, aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles liege eine Wettbewerbsverzerrung vor, die die Chancenungleichheit verfestigt habe. Das Arbeitsgericht meine fehlerhaft, dass deshalb der Wahlvorstand aktiv in das Wahlgeschehen hätte eingreifen müssen. Es habe sich erkennbar an der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 28. November 2017 orientiert, obgleich der Sachverhalt mit dem Vorliegenden nicht vergleichbar sei. Der Wahlvorstand sei zu absoluter Neutralität verpflichtet. Deshalb dürfe er die Wahlwerbung einzelner Bewerber nicht fördern. In dem Fall des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg habe der Wahlvorstand einzelnen Bewerbern Vorrechte eingeräumt. Zudem habe die betriebsspezifische Besonderheit vorgelegen, dass die potentiellen Wähler des Leiharbeitnehmerüberlassungsunternehmens in örtlich unbekannten Kundenbetrieben eingesetzt waren. Dies sei hier anders. Alle Wahlberechtigten arbeiteten in der Betriebsstätte am A Flughafen. Der Betrieb verfüge über Intranet und die Möglichkeit, im Rahmen der Wahlen über einen Ansprechpartner beim Arbeitgeber Werbeflächen in Anspruch zu nehmen. Hierauf habe der Wahlvorstand mehrfach hingewiesen. Wenn es überhaupt zu einer Verletzung der Chancengleichheit gekommen wäre, dann von außerhalb des Wahlvorstands, nämlich über die Schwerbehindertenvertretung selbst. Nur bei einem Verstoß von innen sei der Wahlvorstand verantwortlich und müsse ausgleichend tätig werden. Der Wahlvorstand dürfe weder die Kontaktdaten der Wähler zur Verfügung stellen noch selbst Flyer versenden. Das Arbeitsgericht lege in seiner Entscheidung nicht dar, welche Maßnahme es als angemessen erachtet hätte, um den "Gefälleabbau" herbeizuführen. Die Herausgabe personenbezogener Daten wäre datenschutzrechtlich unzulässig gewesen. Ein Wahlabbruch wäre unverhältnismäßig gewesen. Aufgrund seiner Neutralitätspflicht habe der Wahlvorstand auch nicht einen E-Mail-Flyer der Antragstellerin zu 2 über das Intranet versenden dürfen. Vielmehr habe der Wahlvorstand mit E-Mail vom 20. September 2018, vom 25. September 2018 und vom 29. September 2018 (Anl. AS 6-8) auf die bestehenden Möglichkeiten der Wahlwerbung hingewiesen. Eine Versendung von Flyern durch den Wahlvorstand hätte gegen die Datenschutz Grundverordnung verstoßen. Für den Wahlvorstand würden dieselben Maßstäbe gelten, wie für den Arbeitgeber.

Das Arbeitsgericht habe verfahrensfehlerhaft festgestellt, die Schwerbehindertenvertretung habe "ins Blaue hinein" bestritten, die Antragstellerin verfüge nicht über private Anschriften, Telefonnummern und E-Mail Adressen der Wähler. Es ignoriere damit das Vorbringen der Schwerbehindertenvertretung auf Seiten 6 und 7 im Schriftsatz vom 9. Juli 2019 und Seiten 15 und 20 im Schriftsatz vom 28. Januar 2019). Ferner habe das Arbeitsgericht fehlerhaft angenommen, die Möglichkeit der Nutzung von Werbeflächen im Betrieb sei ungeeignet. Der Wahlvorstand habe auf diese Flächen hingewiesen. Die Antragstellerin zu 2 habe sie nicht wahrgenommen. Die Größe des Betriebs sei für die Frage der Erreichbarkeit der Wähler ohne Bedeutung. Zudem müsse sich die Antragstellerin zu 2 fragen lassen, warum sie nicht an der Jahresversammlung der Schwerbehindertenvertretung teilgenommen und das Wort ergriffen habe, um sich den Teilnehmern vorzustellen.

Das Arbeitsgericht habe zu Unrecht angenommen, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass das Wahlergebnis ohne Verletzung des Grundsatzes der Chancengleichheit anders ausgefallen wäre. Die angebotenen Beweise seien ausreichend gewesen, jedenfalls hätte es eines richterlichen Hinweises bedurft. Mit Schriftsatz vom 28. Januar 2019, Seite 22 oben (Bl. 78 der Akte) habe die Schwerbehindertenvertretung Beweis durch Vernehmung aller 424 Wahlberechtigten angeboten, dass sie so gewählt hätten, wie das Wahlergebnis auch ausgefallen ist. Ferner sei mit Schriftsatz vom 10. September 2019 ergänzend Beweis angetreten worden (Bl. 175 der Akte). Im Hinblick auf den Aufwand für die Einholung von Zustimmungserklärungen der Zeugen gemäß § 6 Datenschutz Grundverordnung zur Nutzung ihrer Adresse wäre es unverhältnismäßig gewesen, dies ohne vorherigen Hinweis des Gerichts zu tun. Ein solcher Hinweis sei nicht erfolgt. Im Übrigen sei aufgrund des überwältigenden Wahlergebnisses von einer Beweislastumkehr auszugehen. Wie das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 2. August 2017 -7 ABR 42/15- aufgezeigt habe, habe sich das Arbeitsgericht konkret mit Stimmendifferenzen im Wahlergebnis zu beschäftigen. Eine Beweisaufnahme hätte den Grundsatz der geheimen Wahl nicht verletzt. Das Arbeitsgericht hätte der Bitte um einen Hinweis zuletzt im Schriftsatz vom 10. September 2019 nachkommen müssen. Stattdessen sei es fehlerhaft von einem nicht ausreichenden Beweisangebot für die nicht gegebene Kausalität ausgegangen.

Mit Schriftsatz vom 16. März 2020 trägt die Schwerbehindertenvertretung ergänzend vor, dass der Vortrag der Antragsteller, die Stimmabgabe sei zu einem Zeitpunkt möglich gewesen, als die Bewerber noch nicht im Betrieb bekannt gemacht waren, unzutreffend sei. Die Behauptung, die seinerzeit amtierende Schwerbehindertenvertretung verfüge über private Anschriften, Telefonnummern und E-Mail Adressen sämtlicher wahlberechtigte Arbeitnehmer, mindestens eines Großteils davon, während dies auf die Antragsteller nicht zutreffe, werde erneut bestritten. Die Antragstellerin habe einen Großteil der privaten Anschriften, Telefonnummern und E-Mail Adressen der wahlberechtigten Arbeitnehmer. Sie habe in zahlreichen sozialen Medien mit verschiedenen wahlberechtigten Arbeitnehmern Kontakt aufgenommen. Sie sei im Vorfeld der Wahl und während dieser durchaus sehr aktiv gewesen.

Die Schwerbehindertenvertretung beantragt,

den Beschluss des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 10. September 2019 - 24 BV 615/18 - abzuändern und den Antrag der Antragsteller zurückzuweisen.

Die Antragsteller beantragen,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie verteidigen die Entscheidung des Arbeitsgerichts als zutreffend. Das Arbeitsgericht habe zu Recht erkannt, dass der Wahlvorstand bei der Wahl den Grundsatz der Chancengleichheit verletzt habe, da er es unterlassen habe, sämtlichen Wahlbewerbern die Möglichkeit zu geben, sich vor Beginn der Wahl bei den Wahlberechtigten in gleichem Maße als Wahlbewerber vorzustellen. Es gehe um einen Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit, nicht um einen Verstoß gegen das Verbot unzulässiger Wahlwerbung. Das Arbeitsgericht habe zutreffend erkannt, dass die Einladung zur Jahreshauptversammlung der Schwerbehindertenvertretung zur Wahlwerbung zweckentfremdet worden sei. Das Arbeitsgericht habe das Schreiben zutreffend ausgelegt und dabei auch den Gesamtcharakter des Begleitschreibens berücksichtigt. Dieses sei für sich genommen abschließend. Das Arbeitsgericht gehe auch zutreffend davon aus, dass die Werbung für den Empfänger auf den ersten Blick nicht als solche zu erkennen gewesen sei. Die Versendung der Wahlunterlagen sei am 21. September 2018 erfolgt, wobei streitig sei, ob der Wahlvorstand die Wahlbewerber am 24. oder am 28. September 2018 im Betrieb bekannt gegeben habe. Hieraus folge, dass jedenfalls vor der Bekanntgabe der Wahlbewerber eine Stimmabgabe möglich war. Das Arbeitsgericht gehe zutreffend davon aus, dass der Wahlvorstand den Grundsatz der Chancengleichheit durch Unterlassen verletzt habe, denn es hätte sämtlichen Wahlbewerber die Möglichkeit gegeben werden müssen, sich vor Beginn der Wahl bei den Wahlberechtigten in gleichem Maße als Wahlbewerber vorzustellen. Das Neutralitätsgebot sei auch verletzt, wenn der Wahlvorstand sehenden Auges einer Wettbewerbsverzerrung zusehe. Die betriebliche Situation sei durchaus mit der des Falles des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 28. November 2017 vergleichbar. Im Bereich B würden 6500 Mitarbeiter im Schichtdienst beschäftigt. Die 424 schwerbehinderten Mitarbeiter arbeiteten in 408 Schichten, das Wahlausschreiben sei an 17 verschiedenen Stellen im Betrieb auszuhängen gewesen. Dies zeige, wie schwer es für die Antragsteller war, Kontakt zu den Wählern aufzunehmen. Das Arbeitsgericht führe zutreffend aus, dass die Möglichkeit, über einen Ansprechpartner beim Arbeitgeber Werbeflächen in Anspruch zu nehmen, genauso wenig ausgereicht hätte, wie durch das Intranet Zugang zur Gesamtheit der Belegschaft zu bekommen. Der Fall des LAG Baden-Württemberg unterscheide sich vom vorliegenden auch nicht deshalb, weil dort der Verstoß vom Wahlvorstand direkt ausging. Der Wahlvorstand sei zur Beachtung der Wahlvorschriften verpflichtet, unabhängig davon, ob die Verletzung von ihm selbst oder einem Dritten herrührt. Der Wahlvorstand habe die Chancengleichheit im Übrigen dadurch verletzt, dass er nicht die notwendigen Ausgleichsmaßnahmen ergriff.

Das Arbeitsgericht sei auch zu Recht davon ausgegangen, dass das Bestreiten der Schwerbehindertenvertretung ohne irgendwelche Anhaltspunkte unerheblich war, denn es sei erfahrungsgemäß davon auszugehen, dass ein Arbeitnehmer nicht über die Kontaktdaten sämtlicher anderer Arbeitnehmer oder eines Großteils davon verfüge. Die Antragsteller hätten die Schwerbehindertenvertretung schriftsätzlich aufgefordert klarzustellen, was konkret mit Nichtwissen bestritten werden solle. Daraufhin habe diese mitgeteilt: Es werde bestritten, dass die Antragsteller nicht über private Anschriften, Telefonnummern und E-Mail Adressen sämtlicher wahlberechtigter Arbeitnehmer oder mindestens eines Großteils davon verfügen. Auch die Kausalität liege vor. Das Arbeitsgericht habe die hypothetische Betrachtung zutreffend vorgenommen. Einer Zeugenvernehmung habe es nicht bedurft, weil ein hypothetischer, anders gelagerter Parallelverlauf fingiert werden müsste. Auf die im Wahlergebnis dokumentierten Mehrheitsverhältnisse komme es nicht an.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Anhörungsprotokolle Bezug genommen.

Rechtsweg:

ArbG Frankfurt am Main, Beschluss vom 10.09.2019 - 24 BV 615/18

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Hessen

II.

1.

Die Beschwerde ist statthaft, § 87 Abs. 1 ArbGG, und zulässig, da sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet wurde, § 87 Abs. 2 S. 1, § 66 Abs. 1 S. 1, § 89 Abs. 1 und 2 ArbGG, § 594 ZPO.

2.

Die Wahl der Schwerbehindertenvertretung vom 8. Oktober 2018 ist unwirksam, § 177 Abs. 6 S. 2 SGB IX, § 19 Abs. 1 BetrVG. Dies hat das Arbeitsgericht zutreffend erkannt. Die Beschwerdekammer schließt sich der sehr sorgfältigen Begründung des Arbeitsgerichts an und nimmt hierauf Bezug. Das Vorbringen der Schwerbehindertenvertretung in der Beschwerdeinstanz führt zu keiner abweichenden Beurteilung.

Der Antrag ist nach § 177 Abs. 6 Satz 2 SGB IX iVm. § 19 BetrVG zulässig.

Die Antragsteller zu 1-4 sind nach § 177 Abs. 6 Satz 2 SGB IX iVm. § 19 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 BetrVG zur Wahlanfechtung berechtigt. Sie sind in dem Betrieb wahlberechtigte schwerbehinderte Menschen iSd. § 177 Abs. 2 SGB IX.

Die Wahl zur Schwerbehindertenvertretung ist rechtzeitig binnen zwei Wochen angefochten worden, nachdem das endgültige Wahlergebnis durch Aushang am 17. Oktober bekannt gegeben wurde, § 177 Abs. 6 Satz 2 SGB IX iVm. § 19 Abs. 2 Satz 2 BetrVG. Die Antragsschrift ist beim Arbeitsgericht am 22. Oktober 2018 eingegangen.

Der Antrag ist begründet. Die Wahl zur Schwerbehindertenvertretung ist nach § 177 Abs. 6 Satz 2 SGB IX iVm. § 19 Abs. 1 BetrVG unwirksam. Danach kann die Wahl zur Schwerbehindertenvertretung angefochten werden, wenn gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren verstoßen wurde und eine Berichtigung nicht erfolgt ist, es sei denn, dass durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht geändert oder beeinflusst werden konnte.

Es liegt eine Verletzung des ungeschriebenen Grundsatzes der Chancengleichheit der Wahlbewerber vor. Nach ihm soll jeder Wahlbewerber die gleichen Möglichkeiten im Wahlkampf und im Wahlverfahren und damit die gleiche Chance im Wettbewerb um die Wählerstimmen haben. Hierbei handelt es sich um ein notwendiges Element einer demokratischen Wahl und damit eine wesentliche Verfahrensvorschrift, die verletzt wird, wenn der Wahlvorstand einzelnen Bewerbern Vorrechte gegenüber anderen einräumt (zum Einblick eines Wahlbewerbers in die mit Stimmabgabevermerken versehene Wählerliste während des noch laufenden Wahlvorgangs: BAG 6. Dezember 2000 - 7 ABR 34/99 - Rn. 19, 30; zur Verpflichtung des Wahlvorstands die Einsatzorte der Wahlberechtigten den Wahlbewerbern mitzuteilen, damit diese Stützunterschriften sammeln können: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg 28. November 2017 -9 TaBV 4/17- Rn. 30ff; Richardi-Thüsing, Betriebsverfassungsgesetz, 16. Aufl., § 14 Rn. 18).

Dasselbe muss gelten, wenn einzelne Wahlbewerber sich selbst Vorrechte gegenüber Mitbewerbern herausnehmen. Auch hierdurch kann die Chancengleichheit der Wahlbewerber beeinträchtigt werden. Dies gilt sogar dann, wenn der Wahlvorstand dies nicht veranlasst hat, noch nach Bekanntwerden eines erfolgten Verstoßes durch auf Ausgleich bedachte Maßnahmen rückgängig machen kann. Dies ergibt sich daraus, dass der Wahlvorstand zwar für die ordnungsgemäße Durchführung der Wahl verantwortlich ist, aber Eingriffe in das Wahlverfahren durch sonstige Personen, insbesondere Wahlbewerber, denkbar sind, die die Chancengleichheit der Wahl beeinträchtigen.

Die amtierende Schwerbehindertenvertretung und ihre erste Stellvertreterin haben gegen den Grundsatz der Chancengleichheit verstoßen, indem sie unmittelbar vor der Wahl Wahlwerbung an die Wahlberechtigten versandten. Das Arbeitsgericht hat das der Einladung zur Jahreshauptversammlung der Schwerbehindertenvertretung vom 15. August 2018 beigefügte Schreiben (Anl. AS 5, Bl. 19 der Akte) zu Recht als Wahlwerbung der dieses Schreiben unterzeichnenden amtierenden Schwerbehindertenvertrauensperson und ihrer 1. Stellvertreterin angesehen. Dort wird im 4. Absatz in Zeile 3 zunächst darüber informiert, dass in Kürze die Wahl der Schwerbehindertenvertretung wieder ansteht, bevor nach Informationen zum Wahlverfahren (Briefwahl) und dem Ablauf der Wahl ausgeführt wird: "Die im Amt Befindlichen treten wieder an und würden sich über Ihr Vertrauen sehr freuen." Die amtierende Schwerbehindertenvertrauensperson und ihre Stellvertreterin nutzen damit gezielt ihren Amtsbonus aus, um bei den Wählern um Stimmen zu werben. Dies reicht aus, um das Schreiben insgesamt, auch wenn es sich letztlich nur um einen Satz im Gesamtkontext handelt, als Wahlwerbung zu qualifizieren. Dies ergibt sich daraus, dass der genannte Satz dem gesamten Schreiben sein Gepräge gibt.

Entgegen der Auffassung der Schwerbehindertenvertretung kommt es nicht darauf an, ob es sich hierbei um unzulässige Wahlwerbung handelte. Der Grundsatz der Chancengleichheit ist deshalb verletzt, weil für die Antragsteller keine Möglichkeit bestand, für ihre Kandidatur in vergleichbarer Weise zu werben. Dies ergibt sich daraus, dass das genannte Schreiben als Anlage zur Einladung zur Jahreshauptversammlung an die privaten Email-Adressen sämtlicher schwerbehinderten Menschen des Betriebes versandt wurde. Eine derartige Möglichkeit bestand für die Antragsteller nicht. Der Hinweis des Wahlvorstands, sich beim Arbeitgeber um Werbeflächen an den verschiedenen Coffeepoints und den Pool- und Aufenthaltsräumen zu bemühen, hätte eine vergleichbare Öffentlichkeitswirkung von vornherein nicht erreichen können. Eine direkte Ansprache per E-Mail oder durch ein Schreiben erreicht den Adressaten unmittelbar, während es ungewiss ist, ob Aushänge an einzelnen Stellen im Betrieb von den Wählern tatsächlich zur Kenntnis genommen werden. Darauf, ob es dem Wahlvorstand rechtlich überhaupt möglich gewesen wäre, den Antragstellern eine vergleichbare Öffentlichkeitswirkung einzuräumen, was im Hinblick auf eine Zurverfügungstellung von Adressen der Wähler an einzelne Kandidaten datenschutzrechtlich zweifelhaft ist (siehe dazu: LAG Baden-Württemberg 28. November 2017 - 9 TaBV 4/17 - Rn. 33), kommt es nicht entscheidend an. Entscheidend ist, dass es aufgrund der Vorgehensweise der Amtsinhaber, in einem der Einladung zur Jahreshauptversammlung der Schwerbehindertenvertretung beigefügten Schreiben für ihre Kandidatur zu werben, zu ungleichen Wahlchancen im Vergleich zu den übrigen Wahlbewerbern gekommen ist.

Soweit die Schwerbehindertenvertretung der Auffassung ist, die Antragsteller hätten ihrerseits die Wähler direkt anschreiben können, stand ihnen diese Möglichkeit nicht zur Verfügung. Den Amtsinhabern waren die Adressen sämtlicher 424 im Betrieb beschäftigten schwerbehinderten Menschen aufgrund ihrer Amtstätigkeit bekannt. Auf die Kandidaten für eine bevorstehende Wahl der Schwerbehindertenvertretung trifft dies nicht zu. Auch im Intranet oder Telefonverzeichnis werden üblicherweise schwerbehinderte Menschen nicht hiernach, sondern nach ihrem Namen und ihrer Funktion im Betrieb zugeordnet. Es erschließt sich also nicht, aus welchen Gründen die Antragsteller über die Adressen sämtlicher Wähler verfügten, wie die Schwerbehindertenvertretung pauschal behauptet. Soweit diese ferner vorträgt, aufgrund der Kommunikation der Antragsteller in sozialen Medien hätten diese zumindest über "einen Großteil" der Adressen verfügt, bleibt offen was hierunter zu verstehen ist, insbesondere zu wie vielen der 424 schwerbehinderten Menschen die Antragsteller Kontakt aufgenommen haben bzw. dies tun konnten.

Soweit die Schwerbehindertenvertretung rügt, das Arbeitsgericht lasse offen, welche Maßnahme es als angemessen erachtet hätte, um den "Gefälleabbau" herbeizuführen, wäre eine Versendung des "e-Flyers" der Antragsteller an die dienstlichen E-Mail-Adressen sämtlicher im Betrieb beschäftigter schwerbehinderten Menschen durch den Wahlvorstand in Betracht gekommen. Jedenfalls hätten insoweit keine datenschutzrechtlichen Bedenken bestanden. Das LAG Baden-Württemberg nimmt diese nur in Bezug auf die Weitergabe der Wohnanschriften der Wähler an (LAG Baden-Württemberg 28. November 2017 - 9 TaBV 4/17 - Rn. 33). Es erscheint allerdings zweifelhaft, ob ein Versand von Wahlwerbung an die dienstlichen E-Mail-Adressen dieselbe Wirkung wie ein solcher an die Privatadressen der Wähler (wie hier ausweislich der in Anhörungstermin vom 25. Mai 2020 erfolgten Äußerung der Beteiligten zu 5 feststeht), Bl. 411 R d.A. gehabt hätte. Letztlich bedarf dies keiner abschließenden Entscheidung. Denn es sind auch Mängel denkbar, die während des laufenden Wahlverfahrens nicht mehr korrigiert werden können und gleichwohl zur Anfechtbarkeit der Wahl führen.

Der Verfahrensverstoß war auch geeignet, das Wahlergebnis zu beeinflussen.

Nach § 177 Abs. 6 S. 2 SGB IX i.V.m. § 19 Abs. 1 letzter Halbsatz Betriebsverfassungsgesetz berechtigen Verstöße gegen wesentliche Wahlvorschriften nur dann nicht zur Anfechtung der Wahl, wenn die Verstöße das Wahlergebnis objektiv weder ändern noch beeinflussen konnten. Dabei ist entscheidend, ob bei einer hypothetischen Betrachtungsweise eine Wahl ohne den Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften unter Berücksichtigung der konkreten Umstände zwingend zu demselben Wahlergebnis geführt hätte. Eine verfahrensfehlerhafte Wahl muss nur dann nicht wiederholt werden, wenn sich konkret feststellen lässt, dass auch bei Einhaltung der Wahlvorschriften kein anderes Ergebnis erzielt worden wäre. Kann diese Feststellung nicht getroffen werden, bleibt es bei der Unwirksamkeit der Wahl (ständige Rechtsprechung: Bundesarbeitsgericht 25. Oktober 2017 -7 ABR 2/16- Rn. 43; 26. Oktober 2016 -7 ABR 4/15- Rn. 31; 10. Juli 2013 -7 ABR 83/11- Rn. 24; 18. Juli 2012 -7 ABR 21/11- Rn. 30).

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass wenn die amtierende Schwerbehindertenvertretung und ihre erste Stellvertreterin sich korrekt verhalten und keine Wahlwerbung als Begleitschreiben zur Einladung zur Jahreshauptversammlung der Schwerbehindertenvertretung an die Wahlberechtigten versandt hätten, die Wahl zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Soweit sich die Schwerbehindertenvertretung für ihren Vortrag, dass alle 424 Wahlberechtigten auch ohne den genannten Verstoß so gewählt hätten, wie das Wahlergebnis ausgefallen ist, auf die Vernehmung sämtlicher Wahlberechtigten berufen, ist dies unbeachtlich. Die Antragsteller weisen insoweit zu Recht darauf hin, dass im Rahmen dieser Zeugenvernehmung ein hypothetischer, anders gelagerter Parallelverlauf festgestellt werden müsste. Ein solcher ist einer Beweisaufnahme nicht zugänglich. Zeugen können nur zu einem tatsächlichen Geschehensablauf befragt werden, aber nicht dazu, wie sie sich verhalten hätten, wenn eine andere Tatsachenlage bestanden hätte.

Entgegen der Auffassung der Schwerbehindertenvertretung ist auch nicht "aufgrund des überwältigenden Wahlergebnisses" von einer Beweislastumkehr auszugehen. Eine solche wäre mit der klaren gesetzlichen Regelung des § 19 Abs. 1 letzter Halbsatz Betriebsverfassungsgesetz unvereinbar.

III.

Gründe, die Rechtsbeschwerde zuzulassen, liegen nicht vor, § 92 Abs. 1, § 72 ArbGG.

Referenznummer:

R/R8632


Informationsstand: 09.04.2021