II.
1.
Die Beschwerde ist statthaft, § 87
Abs. 1
ArbGG, und zulässig, da sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet wurde, § 87
Abs. 2
S. 1, § 66
Abs. 1
S. 1, § 89
Abs. 1 und 2
ArbGG, § 594
ZPO.
2.
Die Wahl der Schwerbehindertenvertretung vom 8. Oktober 2018 ist unwirksam,
§ 177 Abs. 6 S. 2 SGB IX,
§ 19 Abs. 1 BetrVG. Dies hat das Arbeitsgericht zutreffend erkannt. Die Beschwerdekammer schließt sich der sehr sorgfältigen Begründung des Arbeitsgerichts an und nimmt hierauf Bezug. Das Vorbringen der Schwerbehindertenvertretung in der Beschwerdeinstanz führt zu keiner abweichenden Beurteilung.
Der Antrag ist nach § 177
Abs. 6 Satz 2
SGB IX iVm. § 19
BetrVG zulässig.
Die Antragsteller zu 1-4 sind nach § 177
Abs. 6 Satz 2
SGB IX iVm. § 19
Abs. 2 Satz 1 Alt. 1
BetrVG zur Wahlanfechtung berechtigt. Sie sind in dem Betrieb wahlberechtigte schwerbehinderte Menschen iSd. § 177
Abs. 2
SGB IX.
Die Wahl zur Schwerbehindertenvertretung ist rechtzeitig binnen zwei Wochen angefochten worden, nachdem das endgültige Wahlergebnis durch Aushang am 17. Oktober bekannt gegeben wurde, § 177
Abs. 6 Satz 2
SGB IX iVm. § 19
Abs. 2 Satz 2
BetrVG. Die Antragsschrift ist beim Arbeitsgericht am 22. Oktober 2018 eingegangen.
Der Antrag ist begründet. Die Wahl zur Schwerbehindertenvertretung ist nach § 177
Abs. 6 Satz 2
SGB IX iVm. § 19
Abs. 1
BetrVG unwirksam. Danach kann die Wahl zur Schwerbehindertenvertretung angefochten werden, wenn gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren verstoßen wurde und eine Berichtigung nicht erfolgt ist, es sei denn, dass durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht geändert oder beeinflusst werden konnte.
Es liegt eine Verletzung des ungeschriebenen Grundsatzes der Chancengleichheit der Wahlbewerber vor. Nach ihm soll jeder Wahlbewerber die gleichen Möglichkeiten im Wahlkampf und im Wahlverfahren und damit die gleiche Chance im Wettbewerb um die Wählerstimmen haben. Hierbei handelt es sich um ein notwendiges Element einer demokratischen Wahl und damit eine wesentliche Verfahrensvorschrift, die verletzt wird, wenn der Wahlvorstand einzelnen Bewerbern Vorrechte gegenüber anderen einräumt (zum Einblick eines Wahlbewerbers in die mit Stimmabgabevermerken versehene Wählerliste während des noch laufenden Wahlvorgangs:
BAG 6. Dezember 2000 -
7 ABR 34/99 - Rn. 19, 30; zur Verpflichtung des Wahlvorstands die Einsatzorte der Wahlberechtigten den Wahlbewerbern mitzuteilen, damit diese Stützunterschriften sammeln können: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg 28. November 2017 -
9 TaBV 4/17- Rn. 30ff; Richardi-Thüsing, Betriebsverfassungsgesetz, 16. Aufl., § 14 Rn. 18).
Dasselbe muss gelten, wenn einzelne Wahlbewerber sich selbst Vorrechte gegenüber Mitbewerbern herausnehmen. Auch hierdurch kann die Chancengleichheit der Wahlbewerber beeinträchtigt werden. Dies gilt sogar dann, wenn der Wahlvorstand dies nicht veranlasst hat, noch nach Bekanntwerden eines erfolgten Verstoßes durch auf Ausgleich bedachte Maßnahmen rückgängig machen kann. Dies ergibt sich daraus, dass der Wahlvorstand zwar für die ordnungsgemäße Durchführung der Wahl verantwortlich ist, aber Eingriffe in das Wahlverfahren durch sonstige Personen, insbesondere Wahlbewerber, denkbar sind, die die Chancengleichheit der Wahl beeinträchtigen.
Die amtierende Schwerbehindertenvertretung und ihre erste Stellvertreterin haben gegen den Grundsatz der Chancengleichheit verstoßen, indem sie unmittelbar vor der Wahl Wahlwerbung an die Wahlberechtigten versandten. Das Arbeitsgericht hat das der Einladung zur Jahreshauptversammlung der Schwerbehindertenvertretung vom 15. August 2018 beigefügte Schreiben (Anl. AS 5, Bl. 19 der Akte) zu Recht als Wahlwerbung der dieses Schreiben unterzeichnenden amtierenden Schwerbehindertenvertrauensperson und ihrer 1. Stellvertreterin angesehen. Dort wird im 4. Absatz in Zeile 3 zunächst darüber informiert, dass in Kürze die Wahl der Schwerbehindertenvertretung wieder ansteht, bevor nach Informationen zum Wahlverfahren (Briefwahl) und dem Ablauf der Wahl ausgeführt wird: "Die im Amt Befindlichen treten wieder an und würden sich über Ihr Vertrauen sehr freuen." Die amtierende Schwerbehindertenvertrauensperson und ihre Stellvertreterin nutzen damit gezielt ihren Amtsbonus aus, um bei den Wählern um Stimmen zu werben. Dies reicht aus, um das Schreiben insgesamt, auch wenn es sich letztlich nur um einen Satz im Gesamtkontext handelt, als Wahlwerbung zu qualifizieren. Dies ergibt sich daraus, dass der genannte Satz dem gesamten Schreiben sein Gepräge gibt.
Entgegen der Auffassung der Schwerbehindertenvertretung kommt es nicht darauf an, ob es sich hierbei um unzulässige Wahlwerbung handelte. Der Grundsatz der Chancengleichheit ist deshalb verletzt, weil für die Antragsteller keine Möglichkeit bestand, für ihre Kandidatur in vergleichbarer Weise zu werben. Dies ergibt sich daraus, dass das genannte Schreiben als Anlage zur Einladung zur Jahreshauptversammlung an die privaten Email-Adressen sämtlicher schwerbehinderten Menschen des Betriebes versandt wurde. Eine derartige Möglichkeit bestand für die Antragsteller nicht. Der Hinweis des Wahlvorstands, sich beim Arbeitgeber um Werbeflächen an den verschiedenen Coffeepoints und den Pool- und Aufenthaltsräumen zu bemühen, hätte eine vergleichbare Öffentlichkeitswirkung von vornherein nicht erreichen können. Eine direkte Ansprache per E-Mail oder durch ein Schreiben erreicht den Adressaten unmittelbar, während es ungewiss ist, ob Aushänge an einzelnen Stellen im Betrieb von den Wählern tatsächlich zur Kenntnis genommen werden. Darauf, ob es dem Wahlvorstand rechtlich überhaupt möglich gewesen wäre, den Antragstellern eine vergleichbare Öffentlichkeitswirkung einzuräumen, was im Hinblick auf eine Zurverfügungstellung von Adressen der Wähler an einzelne Kandidaten datenschutzrechtlich zweifelhaft ist (siehe dazu:
LAG Baden-Württemberg 28. November 2017 - 9 TaBV 4/17 - Rn. 33), kommt es nicht entscheidend an. Entscheidend ist, dass es aufgrund der Vorgehensweise der Amtsinhaber, in einem der Einladung zur Jahreshauptversammlung der Schwerbehindertenvertretung beigefügten Schreiben für ihre Kandidatur zu werben, zu ungleichen Wahlchancen im Vergleich zu den übrigen Wahlbewerbern gekommen ist.
Soweit die Schwerbehindertenvertretung der Auffassung ist, die Antragsteller hätten ihrerseits die Wähler direkt anschreiben können, stand ihnen diese Möglichkeit nicht zur Verfügung. Den Amtsinhabern waren die Adressen sämtlicher 424 im Betrieb beschäftigten schwerbehinderten Menschen aufgrund ihrer Amtstätigkeit bekannt. Auf die Kandidaten für eine bevorstehende Wahl der Schwerbehindertenvertretung trifft dies nicht zu. Auch im Intranet oder Telefonverzeichnis werden üblicherweise schwerbehinderte Menschen nicht hiernach, sondern nach ihrem Namen und ihrer Funktion im Betrieb zugeordnet. Es erschließt sich also nicht, aus welchen Gründen die Antragsteller über die Adressen sämtlicher Wähler verfügten, wie die Schwerbehindertenvertretung pauschal behauptet. Soweit diese ferner vorträgt, aufgrund der Kommunikation der Antragsteller in sozialen Medien hätten diese zumindest über "einen Großteil" der Adressen verfügt, bleibt offen was hierunter zu verstehen ist, insbesondere zu wie vielen der 424 schwerbehinderten Menschen die Antragsteller Kontakt aufgenommen haben
bzw. dies tun konnten.
Soweit die Schwerbehindertenvertretung rügt, das Arbeitsgericht lasse offen, welche Maßnahme es als angemessen erachtet hätte, um den "Gefälleabbau" herbeizuführen, wäre eine Versendung des "e-Flyers" der Antragsteller an die dienstlichen E-Mail-Adressen sämtlicher im Betrieb beschäftigter schwerbehinderten Menschen durch den Wahlvorstand in Betracht gekommen. Jedenfalls hätten insoweit keine datenschutzrechtlichen Bedenken bestanden. Das
LAG Baden-Württemberg nimmt diese nur in Bezug auf die Weitergabe der Wohnanschriften der Wähler an (
LAG Baden-Württemberg 28. November 2017 - 9 TaBV 4/17 - Rn. 33). Es erscheint allerdings zweifelhaft, ob ein Versand von Wahlwerbung an die dienstlichen E-Mail-Adressen dieselbe Wirkung wie ein solcher an die Privatadressen der Wähler (wie hier ausweislich der in Anhörungstermin vom 25. Mai 2020 erfolgten Äußerung der Beteiligten zu 5 feststeht), Bl. 411 R d.A. gehabt hätte. Letztlich bedarf dies keiner abschließenden Entscheidung. Denn es sind auch Mängel denkbar, die während des laufenden Wahlverfahrens nicht mehr korrigiert werden können und gleichwohl zur Anfechtbarkeit der Wahl führen.
Der Verfahrensverstoß war auch geeignet, das Wahlergebnis zu beeinflussen.
Nach
§ 177 Abs. 6 S. 2 SGB IX i.V.m. § 19
Abs. 1 letzter Halbsatz Betriebsverfassungsgesetz berechtigen Verstöße gegen wesentliche Wahlvorschriften nur dann nicht zur Anfechtung der Wahl, wenn die Verstöße das Wahlergebnis objektiv weder ändern noch beeinflussen konnten. Dabei ist entscheidend, ob bei einer hypothetischen Betrachtungsweise eine Wahl ohne den Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften unter Berücksichtigung der konkreten Umstände zwingend zu demselben Wahlergebnis geführt hätte. Eine verfahrensfehlerhafte Wahl muss nur dann nicht wiederholt werden, wenn sich konkret feststellen lässt, dass auch bei Einhaltung der Wahlvorschriften kein anderes Ergebnis erzielt worden wäre. Kann diese Feststellung nicht getroffen werden, bleibt es bei der Unwirksamkeit der Wahl (ständige Rechtsprechung: Bundesarbeitsgericht 25. Oktober 2017 -
7 ABR 2/16- Rn. 43; 26. Oktober 2016 -7 ABR 4/15- Rn. 31; 10. Juli 2013 -
7 ABR 83/11- Rn. 24; 18. Juli 2012 -7 ABR 21/11- Rn. 30).
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass wenn die amtierende Schwerbehindertenvertretung und ihre erste Stellvertreterin sich korrekt verhalten und keine Wahlwerbung als Begleitschreiben zur Einladung zur Jahreshauptversammlung der Schwerbehindertenvertretung an die Wahlberechtigten versandt hätten, die Wahl zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Soweit sich die Schwerbehindertenvertretung für ihren Vortrag, dass alle 424 Wahlberechtigten auch ohne den genannten Verstoß so gewählt hätten, wie das Wahlergebnis ausgefallen ist, auf die Vernehmung sämtlicher Wahlberechtigten berufen, ist dies unbeachtlich. Die Antragsteller weisen insoweit zu Recht darauf hin, dass im Rahmen dieser Zeugenvernehmung ein hypothetischer, anders gelagerter Parallelverlauf festgestellt werden müsste. Ein solcher ist einer Beweisaufnahme nicht zugänglich. Zeugen können nur zu einem tatsächlichen Geschehensablauf befragt werden, aber nicht dazu, wie sie sich verhalten hätten, wenn eine andere Tatsachenlage bestanden hätte.
Entgegen der Auffassung der Schwerbehindertenvertretung ist auch nicht "aufgrund des überwältigenden Wahlergebnisses" von einer Beweislastumkehr auszugehen. Eine solche wäre mit der klaren gesetzlichen Regelung des § 19
Abs. 1 letzter Halbsatz Betriebsverfassungsgesetz unvereinbar.
III.
Gründe, die Rechtsbeschwerde zuzulassen, liegen nicht vor, § 92
Abs. 1, § 72
ArbGG.