Urteil
Betriebsratssitzung - Ersatzmitglied - Geheimhaltungspflicht - Schwerbehindertenvertretung - Verhinderung

Gericht:

LAG Hessen 9. Kammer


Aktenzeichen:

9 TaBV 156/12


Urteil vom:

01.11.2012


Grundlage:

Leitsatz:

Die Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen, die zugleich Betriebsratsmitglied ist, ist, wenn sie als Vertrauensperson an der Betriebsratssitzung teilnehmen will, nicht generell als Betriebsratsmitglied verhindert. Ergibt sich ein Interessenkonflikt im Einzelfall, muss die Vertrauensperson diesen gegenüber dem Betriebsratsvorsitzenden anzeigen. Dies kann so geschehen, dass die Geheimhaltungspflicht gegenüber dem schwerbehinderten Menschen über persönliche Verhältnisse, die der vertraulichen Behandlung bedürfen, nicht verletzt wird. Für den Fall der Verhinderung ist ein Ersatzmitglied zu der Betriebsratssitzung zu laden.

Rechtsweg:

ArbG Frankfurt Beschluss vom 20. März 2012 - 5 BV 619/11

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Hessen

Tenor:

Die Beschwerde des Beteiligten zu 1) gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 20. März 2012 - 5 BV 619/11 - wird zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Wirksamkeit der Beschlüsse des Betriebsrats aus der Betriebsratssitzung vom 12. Juli 2011.

Der Antragsteller und Beteiligte zu 1) ist Mitglied des beim Beteiligten zu 3) gewählten Betriebsrats, des Beteiligten zu 2). Der Beteiligte zu 1) ist auch Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen.

Bis zum 5. Juli 2011 wurde es bei anstehenden Betriebsratssitzungen so gehandhabt, dass der Beteiligte zu 1) dem Betriebsratsvorsitzenden mitteilte, in welcher Funktion er an den Betriebsratssitzungen teilnehmen werde. In der Zeit vom 30. Nov. 2010 bis zum 5. Juli 2011 wurde dies 34-mal so gehandhabt, z.B. mit E-Mail vom 11. Juli 2011 (Bl. 2 d. A.). Der Betriebsratsvorsitzende hatte den Beteiligten zu 1) am 1. Febr. 2011 (Bl. 58 d. A.) aufgefordert, mitzuteilen, in welcher Funktion er zukünftig an den Betriebsratssitzungen teilnehmen wolle. Dieser hatte mit E-Mail vom 7. Febr. 2011 (Bl. 59 d. A.) geantwortet, dass er zukünftig an den Betriebsratssitzungen primär als Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen teilnehmen werde.

In der Betriebsratssitzung vom 5. Juli 2011 teilte der Betriebsratsvorsitzende dem Beteiligten zu 1) mit, die Sitzungsteilnahme werde zukünftig anders gehandhabt. Bei einer Doppelfunktion von Schwerbehindertenvertretung und Betriebsratsmitgliedschaft werde zukünftig nicht mehr von einer Verhinderung des Betriebsratsmitglieds ausgegangen.

Am 12. Juli 2011 fand eine Betriebsratssitzung statt, zu der der Beteiligte zu 1) per E-Mail vom 6. Juli 2011 mit Tagesordnung geladen wurde (Bl. 41 ff. d. A.). Am 11. Juli 2011 teilte der Beteiligte zu 1) dem Betriebsratsvorsitzenden mit, er werde als Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen an der Betriebsratssitzung teilnehmen. Anders als in der Vergangenheit lud der Betriebsratsvorsitzende aufgrund dieser Mitteilung kein Ersatzmitglied für den Beteiligten zu 1) ein. Der Beteiligte zu 1) nahm an der Sitzung teil.

Mit Antrag vom 26. Juli 2011, bei dem Arbeitsgericht Frankfurt am Main am selben Tag eingegangen, hat der Beteiligte zu 1) die Feststellung beantragt, dass die Beschlüsse des Betriebsrats in der Betriebsratssitzung vom 12. Juli 2011 unwirksam sind. Er ist der Auffassung gewesen, die in dieser Sitzung gefassten Betriebsratsbeschlüsse seien nicht ordnungsgemäß zustande gekommen. Seine Verhinderung bei der Betriebsratssitzung ergebe sich aus der bislang gelebten Praxis. Der Betriebsrat könne diese nicht nach Belieben ändern. Darüber hinaus sei eine Vielzahl von Situationen denkbar, an denen er nicht gleichzeitig als Schwerbehindertenvertreter und als Mitglied des Betriebsrats teilnehmen könne, weil er unterschiedliche Interessen vertrete.


Der Beteiligte zu 1) hat beantragt,

festzustellen, dass die Beschlüsse in der Betriebsratssitzung vom 12. Juli 2011 unwirksam sind.


Der Beteiligte zu 2) hat beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Der Beteiligte zu 2) ist der Auffassung gewesen, der Betriebsrat sei in der Sitzung vom 12. Juli 2011 ordnungsgemäß besetzt gewesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Vorbringens der Beteiligten, des vom Arbeitsgericht festgestellten Sachverhalts und des erstinstanzlichen Verfahrens wird auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses verwiesen.

Das Arbeitsgericht Frankfurt am Main hat den Antrag durch Beschluss vom 20. März 2012 - 5 BV 619/11 - zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es habe hinsichtlich des Beteiligten zu 1) kein Fall der Verhinderung als Betriebsratsmitglied im Sinne des § 25 BetrVG vorgelegen. Ob eine Verhinderung vorliege, sei im Einzelfall zu entscheiden. Zu einer Interessenkollision sei aber hier nichts vorgetragen worden. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses verwiesen.

Gegen den ihm am 16. Mai 2012 zugestellten Beschluss hat der Beteiligte zu 1) am 18. Juni 2012, einem Montag, per Telefax Beschwerde eingelegt und diese nach rechtzeitig beantragter Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist bis zum 16. Aug. 2012 an diesem Tag per Telefax begründet.

Der Beteiligte zu 1) ist der Ansicht, die erstinstanzliche Entscheidung sei fehlerhaft. Er trägt vor, er habe als Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen an der Betriebsratssitzung vom 12. Juli 2011 teilgenommen und sei somit als Betriebsratsmitglied verhindert gewesen. Bei seiner Doppelfunktion könne eine Verhinderung durch eine Interessenkollision eintreten. Gerade bei den personellen Einzelmaßnahmen seien solche Kollisionen denkbar. Ob hinsichtlich einer beabsichtigten Beschlussfassung eine solche Kollision vorliege, könne nur der Beteiligte zu 1) beurteilen. Außerdem sei er nach § 96 Abs. 7 SGB IX zur Geheimhaltung verpflichtet. Der Beteiligte zu 2) könne das Vorliegen einer Kollision nur dann beurteilen, wenn der Beteiligte zu 1) ihn unter Verletzung seiner Schweigepflicht über die Gründe informiere.


Der Beteiligte zu 1) beantragt,

den Beschluss des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 20. März 2012 - 5 BV 619/11 - abzuändern und festzustellen, dass die Beschlüsse in der Betriebsratssitzung vom 12. Juli 2011 unwirksam sind.


Der Beteiligte zu 2) beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Der Beteiligte zu 2) ist der Auffassung, das Arbeitsgericht habe den Antrag des Beteiligten zu 1) zu Recht zurückgewiesen. Entgegen der Auffassung des Beteiligten zu 1) bedürfe es für die Einladung eines Betriebsratsmitglieds keines Beschlusses. Dies sei gemäß § 29 Abs. 2 Satz 3 BetrVG alleinige Aufgabe des Vorsitzenden, auch wenn dieser sich dazu entschließe, eine bisherige Praxis aufzugeben. Der Beteiligte zu 1) habe vor der Sitzung vom 12. Juli 2011 weder auf eine Interessenkollision hingewiesen noch habe eine solche vorgelegen. Das zeige auch die Tagesordnung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Beschwerdevorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der Beschwerdeschriftsätze und den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 1. Nov. 2012 verwiesen.


II.

Die Beschwerde des Beteiligten zu 1) ist statthaft, § 87 Abs. 1 ArbGG, und zulässig, da sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden ist, §§ 87 Abs. 2 Satz 1, 66 Abs. 1 Satz 1, 89 Abs. 1 und 2 ArbGG.

Die Beschwerde hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

1. Der Antrag ist als Feststellungsantrag im Sinne des § 256 ZPO zulässig. Es wird keine gerichtliche Gestaltungsentscheidung begehrt (vgl. BAG Beschluss vom 21. Juli 2004 - 7 ABR 62/03 - EzA § 51 BetrVG 2001 Nr. 1; BAG Beschluss vom 29. April 1992 - 7 ABR 74/91 - EzA BetrVG 1972 § 38 Nr. 13). Es ist kein Wahlanfechtungsantrag, auf den § 19 BetrVG entsprechende Anwendung fände. Der Beteiligte zu 1) hat den Antrag ausweislich der Antragsschrift vom 26. Juli 2011 ausdrücklich als "Betriebsratsmitglied" gestellt und mit seinem Antrag die Unwirksamkeit der Beschlüsse der Betriebsratssitzung vom 12. Juli 2011 geltend gemacht. Der Beteiligte zu 1) ist auch antragsberechtigt, denn durch rechtswidrige Betriebsratsbeschlüsse wäre er in einer betriebsverfassungsrechtlichen Rechtsposition unmittelbar betroffen. Da er den Antrag ausdrücklich als Betriebsratsmitglied eingereicht hat, berührt seine Antragsbefugnis nicht, dass er in seiner Funktion als Schwerbehindertenvertreter nach § 95 Abs. 4 Satz 2 SGB IX das Recht hat, dass ein Betriebsratsbeschluss für die Dauer von einer Woche ausgesetzt wird.

2. Der Feststellungsantrag des Beteiligten zu 1) ist nicht begründet. Die Betriebsratsbeschlüsse der Sitzung vom 12. Juli 2011 sind nicht unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung des Beteiligten zu 1) unwirksam.

a) Die Voraussetzungen für eine Verhinderung des Beteiligten zu 1) als Betriebsratsmitglied an der Betriebsratssitzung vom 12. Juli 2011 im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 2 BetrVG können nicht festgestellt werden. Eine zeitweilige Verhinderung liegt vor, wenn das Betriebsratsmitglied aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht in der Lage ist, seine betriebsverfassungsrechtlichen Amtsobliegenheiten wahrzunehmen. Zeitweilig verhindert ist auch das Betriebsratsmitglied mit Doppelmandat, das sich in einer Interessenkollision befindet. Solche können jedoch schon nach der gesetzlichen Ausgangslage kaum entstehen. Die Schwerbehindertenvertretung ist gemäß § 29 Abs. 3 BetrVG zu jeder Sitzung mit Tagesordnung einzuladen. Gemäß §§ 95 Abs. 4 SGB IX, 32 BetrVG steht ihr ein Recht zur Teilnahme u.a. an den Betriebsratssitzungen zu. Grundsätzlich hat die Schwerbehindertenvertretung in der Betriebsratssitzung keine weitreichenden Befugnisse (so auch Austermühle AiB 2010, 670). Sie hat kein Stimmrecht bei den Beschlussfassungen des Betriebsrats und ist an Beschlüsse des Betriebsrats nicht gebunden (Austermühle a.a.O.). Der Schwerbehindertenvertreter hat nach § 95 Abs. 4 Satz 2 SGB IX das Recht, dass ein Betriebsratsbeschluss für die Dauer von einer Woche ausgesetzt wird. Man muss aber nicht so weit gehen, eine Interessenkollision generell auszuschließen (so aber Austermühle a.a.O.; Behindertenrecht 1/2007, zit. in: Informationen der Gesamtschwerbehindertenvertretung Bremen in ihrer Information 3/2007 vom 12. März 2007, Bl. 56 d. A. 9 TaBV 157/12). Denn nicht immer sind die Interessen der vom Betriebsrat vertretenen Belegschaft und einzelner schwerbehinderter Menschen deckungsgleich und eine Interessenkollision ist nicht nur bei persönlicher Betroffenheit denkbar.

b) Eine Interessenkollision bestand jedenfalls für die Sitzung vom 12. Juli 2011 nicht. Der Beteiligte zu 1) hat vor der Sitzung keine Interessenkollision angezeigt noch in diesem Verfahren eine solche benannt. Er muss hierzu seine Geheimhaltungspflicht aus § 96 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB IX nicht verletzen und muss über die persönlichen Verhältnisse und Angelegenheiten, die ihrer Bedeutung und ihrem Inhalt nach einer vertraulichen Behandlung bedürfen, dem Betriebsrat gegenüber nichts offenbaren. Er muss aber benennen, hinsichtlich welchen Tagesordnungspunktes eine Interessenkollision auftreten kann. Nur für diesen Tagesordnungspunkt wäre der Beteiligte zu 1) dann verhindert und nicht für die gesamte Betriebsratssitzung. Nur für Tagesordnungspunkte, die eine Interessenkollision befürchten lassen, ist ein Ersatzmitglied zu laden. Die engen Tatbestandsvoraussetzungen des § 96 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB IX lassen eine pauschale Berufung auf eine Interessenkollision für die gesamte Sitzung nicht zu. Dabei kann hier mangels Interessenkollision dahingestellt bleiben, ob in diesem Fall nicht der/die Vertreter/in der Vertrauensperson zu laden ist.

c) Auch aus der Tagesordnung ergibt sich keine Interessenkollision. Ausweislich der Tagesordnung betrifft ein einziger Tagesordnungspunkt einen schwerbehinderten Menschen. Dies ist TOP Nr. 02.8, bei dem es um eine personelle Einzelmaßnahme gemäß § 99 BetrVG geht, nämlich um die Einstellung und Eingruppierung eines Auszubildenden. Der Beteiligte zu 1) hat indessen vor der Sitzung und in diesem Verfahren nicht einmal angedeutet, ob eine und wenn ja welche Interessenkollision hier entstehen könnte.

3. Vertrauensschutz des Beteiligten zu 1) aufgrund der bisherigen Praxis besteht nicht. Diese Praxis entsprach nicht dem Gesetz (§ 25 Abs. 1 Satz 2 BetrVG), weil der Beteiligte zu 1) nicht verhindert war, an der Betriebsratssitzung vom 12. Juli 2011 teilzunehmen. Vertrauen auf die Aufrechterhaltung eines rechtswidrigen Zustandes ist nicht geschützt. Die unberechtigte Ladung eines Ersatzmitgliedes geht schließlich auch zu Lasten des Beteiligten zu 3), denn er hat für die Dauer der Betriebsratssitzung die Vergütung fortzuzahlen und evtl. für eine Vertretung zu sorgen. Der Beteiligte zu 2) hat unwidersprochen vorgetragen, er hätte erst kurz vor der Betriebsratssitzung durch Veröffentlichungen über das Doppelmandat von der Rechtslage erfahren.

Eines Betriebsratsbeschlusses bedarf es für eine Ladung zur Betriebsratssitzung nicht, denn dies ist nach § 29 Abs. 2 Satz 2 BetrVG Sache des Vorsitzenden, auch wenn er eine bestehende Praxis an die Rechtslage anpasst.

Eine Kostenentscheidung ergeht nach § 2 Abs. 2 GKG nicht.

Die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist gesetzlich nicht veranlasst, §§ 92 Abs. 1, 72 ArbGG, da eine Verhinderung eines Betriebsratsmitglieds im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 2 BetrVG nicht generell ausgeschlossen wurde, sondern nur mangels Feststellbarkeit der Gefahr einer Interessenkollision im konkreten Einzelfall. Auch die Frage der plötzlichen Verhinderung von Betriebsratsmitgliedern ist höchstrichterlich geklärt.

Referenznummer:

R/R5778


Informationsstand: 16.05.2013