Urteil
Entschädigungsanspruch wegen Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch - Wahlamt - Kanzler einer Hochschule - Schwerbehinderung

Gericht:

LAG Mecklenburg-Vorpommern 3. Kammer


Aktenzeichen:

3 Sa 103/23


Urteil vom:

17.01.2024


Grundlage:

Leitsatz:

Die Bezugnahmeklausel in § 165 S. 1 SGB IX auf § 156 SGB IX steht einer Anwendbarkeit von § 165 S. 3 SGB IX (juris: SGB 9 2018) im Rahmen der Besetzung eines ausgeschriebenen Wahlamtes i. S. d. § 156 Abs. 2 Ziff. 5 SGB IX (juris: SGB 9 2018) dann nicht entgegen, wenn eine unmittelbare Mitwirkung der Wahlkommission an einem durchzuführenden Auswahlverfahren normativ nicht vorgesehen ist.

Orientierungssatz:

1. Die Vermutung einer Benachteiligung und des notwendigen Kausalzusammenhanges liegt bereits dann vor, wenn der Arbeitgeber den schwerbehinderten Bewerber entgegen der Vorgabe nach § 165 S 3 SGB 9 2018 nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hat.

2. Das alleinige Vorschlagsrecht der Hochschulleitung nach § 87 Abs 2 S 1 HSchulG MV 2011 ändert nichts daran, dass die Position eines Kanzlers einer Hochschule durch Wahl i. S. d. § 156 S 2 Nr 5 SGB 9 2018 zu besetzen ist. Dies ergibt sich aus den Vorgaben nach § 53 HSchulG MV 2011 i. V. m. § 87 Abs 2 S 1 HSchulG MV 2011.

(Revision eingelegt unter dem Aktenzeichen 8 AZR 60/24)

Rechtsweg:

vorgehend ArbG Stralsund, Urteil vom 01.08.2023 - 2 Ca 280/22
vorgehend BAG, Urteil vom (kein Datum verfügbar) - 8 AZR 60/24
nachgehend BAG, Rücknahme vom 13. Februar 2025 - 8 AZR 60/24

Quelle:

Landesrecht Mecklenburg-Vorpommern

Tenor:

1. Das Urteil des Arbeitsgerichts Stralsund vom 01.08.2023 – 2 Ca 280/22 – wird abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin eine Entschädigung in Höhe von 10.628,52 € zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die Parteien tragen je zur Hälfte die Kosten des Rechtsstreits.

3. Die Revision gegen diese Entscheidung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten wegen der Nichteinladung zu einem Bewerbungsgespräch um eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zur Höhe von 21.257,04 € (drei Bruttomonatsgehälter unter Bezugnahme auf die ausgeschriebene Stelle).

Die Klägerin bewarb sich mit Schreiben vom 05.04.2022 unter Hinweis auf ihre anerkannte Schwerbehinderung mit einem GdB von 50 auf die von der Beklagten (Hochschule im Anwendungsbereich des Landeshochschulgesetzes Mecklenburg-Vorpommern; künftig LHG M-V) unter dem 24.02.2022) ausgeschriebenen Stelle eines Kanzlers/einer Kanzlerin. Die Bewerbungsfrist endete am 07.04.2022. Nach entsprechenden Anfragen der Klägerin vom 27.06.2022, vom 28.06.2022 und vom 08.07.2022 erhielt die Klägerin am 08.07.2022 per Mail von der Beklagten die Mitteilung, dass das Verfahren am 21.06.2022 durch eine erfolgreiche Wahl im Erweiterten Senat beendet worden sei. Auf weitere Nachfrage der Klägerin wurde ihr durch die Beklagte am 18.07.2022 mitgeteilt, aus welchen Gründen sie nicht berücksichtigt worden sei. Ferner wurde der Klägerin unter Berufung auf § 156 Abs. 2 Nr. 5 SGB IX mitgeteilt, dass keine Verpflichtung zur Einladung zu einem Vorstellungsgespräch bestanden habe.

Die Klägerin (Oberregierungsrätin) verfügt über die von der Beklagten in der Ausschreibung geforderte formelle Ausbildung (zweite Einstiegsamt der Laufbahngruppe 2).

Zur Besetzung der ausgeschriebenen Stelle selbst setzte die Rektorin der Beklagten gem. § 87 Abs. 2 S. 1 LHG M-V i. V. m. § 53 Abs. 2 LHG M-V und § 42 der Wahlordnung der Beklagten vom 08.01.2021 (künftig WO) eine Findungskommission ein (inkl. Schwerbehindertenvertretung und Personalvertretung). Diese führte unter Berücksichtigung der Ausschreibungsvorgaben ein (Vor-)Auswahlverfahren durch, sichtet und bewertete die Bewerbungsunterlagen und führte Vorstellungsgespräche durch. Die Klägerin erhielt keine Einladung zum Vorstellungsgespräch. Schließlich teilte die Findungskommission der Rektorin das begründete Auswahlergebnis mit, welches von dieser ohne Abweichungen verwendet wurde.

Mit anwaltlichen Schreiben vom 07.09.2022 machte die Klägerin eine Entschädigung in der o. g. Höhe gem. § 15 Abs. 2 AGG unter Hinweis auf eine Verpflichtung der Beklagten zur Einladung zu einem Vorstellungsgespräch gem. § 165 S. 3 SGB IX geltend. Nach Ablehnung durch die Beklagte verfolgt die Klägerin diesen Anspruch mit ihrer am 01.12.2022 bei dem Arbeitsgericht eingegangenen Klage weiter.

Mit Urteil vom 20.06.2023 hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die ausgeschriebene Stelle beinhalte gem. § 156 Abs. 3 Nr. 5 SGB IX keinen Arbeitsplatz im Sinne des § 165 S. 1 SGB IX. Der Klammerzusatz in § 165 S. 1 SGB IX stelle eine uneingeschränkte Verweisung auf § 156 SGB IX dar. Mithin sei die Definition eines Arbeitsplatzes i. S. d. § 165 SGB IX ausschließlich nach den Vorgaben des § 156 SGB IX zu beurteilen. Da es sich bei der ausgeschriebenen Stelle nach den Vorgaben des LHG M-V unzweifelhaft um eine solche einer Wahlbeamtin/eines Wahlbeamten i. S. d. § 156 Abs. 2 Nr. 5 SGB IX handele, sei folglich nach dem eindeutigen Wortlaut eine Anwendbarkeit des § 165 S. 3 SGB IX ausgeschossen. Die Möglichkeit eines abweichenden Ergebnisses durch Auslegung sei angesichts der unmissverständlichen gesetzgeberischen Absicht, durch Wahl zu besetzende Stellen nicht in den dbzgl. Geltungsbereich einzubeziehen, nicht möglich. Deshalb könne auch unentschieden bleiben, ob die Klägerin für die Besetzung der Stelle offensichtlich ungeeignet i. S. d. § 165 SGB IX gewesen sei.

Gegen diese am 03.08.2023 zugestellte Entscheidung richtet sich die am 01.09.2023 eingegangene Berufung der Klägerin nebst der am – nach entsprechender gerichtlicher Fristverlängerung – 10.11.2023 eingegangenen Berufungsbegründung.

Die Klägerin hält an ihrer erstinstanzlichen Rechtsauffassung fest. Zwar sei dem Arbeitsgericht zuzugeben, dass im Falle einer reinen Wortlautbetrachtung das festgestellte Ergebnis der Nichtanwendbarkeit des § 165 S. 3 SGB IX vertretbar sei. Jedoch sei die angegriffene Entscheidung deshalb rechtfehlerhaft, weil eine notwendige Auslegung der einschlägigen Normen in § 156 Abs. 2 Nr. 5 SGB IX i. V. m. § 165 SGB IX unter notwendiger Beachtung der schützenswerten Interessen schwerbehinderter Menschen unterblieben sei. Im Ergebnis der notwendig vorzunehmenden Auslegung nach Sinn und Zweck der Norm werde deutlich, dass § 156 Abs. 2 Nr. 5 SGB IX nicht einschlägig sei. Es seien lediglich solche Stellen erfasst, bei denen nicht der Arbeitgeber über die Besetzung der Stelle entscheide. Der Arbeitgeber werde nur insoweit geschützt, als ihm keine unmögliche Pflicht auferlegt werden solle. Dies sei nur der Fall, wenn er keinen Einfluss darauf habe, wer auf die Stelle gewählt werde. Dies sei nach den Vorgaben des LHG M-V gerade nicht der Fall. Das Vorschlagsrecht für Bewerber/innen liege allein bei der Hochschulleitung. Mithin entscheide auch allein die Hochschulleitung darüber, welche Bewerber/innen der Wahlkommission zur Wahl vorgestellt werden. Hierin liege auch der maßgebliche Unterschied zu der Entscheidung des OVG NRW vom 07.06.2018 (Az. 6 B 444/18), da das dortige Landesrecht in diesem Punkt maßgeblich von den Vorgaben nach dem LHG M-V abweichen. Anders als in NRW habe es nach den Vorgaben für M-V ausschließlich die Beklagte mit dem alleinigen Vorschlagsrecht in der Hand, die Entscheidung darüber herbeizuführen, wer gewählt werde. Daran ändere auch die von der Rektorin der Beklagten eingesetzte Findungskommission auf der Grundlage der WO nichts, da diese lediglich eine Beratungsfunktion ausübe. Das Entscheidungsrecht verbleibe ausschließlich bei der Rektorin. Mithin stelle die Nichteinladung der Klägerin entgegen § 165 S. 3 SGB IX ein Indiz für die Vermutung der Benachteiligung der Klägerin aufgrund ihrer Schwerbehinderung dar. Die Ausschlussfrist des § 12 Abs. 4 AGG sei eingehalten worden. Eine offensichtliche Ungeeignetheit der Klägerin i. S. v. § 165 SGB IX sei bereits deshalb nicht ersichtlich, weil die objektiven Ausbildungsanforderungen i. S. der Stellenausschreibung durch die Klägerin – insoweit unstreitig – erfüllt würden.


Die Klägerin beantragt:

1. Das Urteil des Arbeitsgerichts Stralsund vom 01.08.2023, Az. 2 Ca 280/22, wird abgeändert.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin eine Entschädigung gem. § 15 Abs. 2 AGG in angemessener Höhe – nach diesseitiger Ansicht von 21.257,04 € - zu bezahlen.


Die Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Rechtswegzuständigkeit zu den Gerichten für Arbeitssachen sei zwar nicht mehr zu rügen. Dies gelte ebenfalls im Hinblick auf die Passivlegitimation der Beklagten. Gleichwohl sei die Berufung unbegründet. Denn zutreffend habe das Arbeitsgericht erkannt, dass die ausgeschriebene Stelle vorliegend durch eine Wahl i. S. d. § 156 Abs. 2 Nr. 5 SGB IX zu besetzen sei. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 165 SGB IX und der dort vorgenommenen Verweisung auf § 156 SGB IX sei kein Arbeitsplatz i. S. d. § 165 SGB IX betroffen. Mithin könne die Vorgabe nach § 165 S. 3 SGB IX nicht zum Tragen kommen. Eine Einladung der Klägerin zum Vorstellungsgespräch habe es nicht bedurft. Davon unabhängig müsse die Klage auch deshalb erfolglos bleiben, da der Klägerin die fachliche Eignung für die ausgeschriebene Stelle offensichtlich fehle. Bereits erstinstanzlich sei diesbezüglich auf die geforderten Ausschreibungskriterien hingewiesen worden. Daraus sei ersichtlich, dass nicht lediglich objektive Ausbildungsvoraussetzungen aufgestellt worden seien. Vielmehr sei der Nachweis einer mehrjährigen leitenden Tätigkeit in Wirtschaft, Verwaltung oder Rechtspflege verlangt worden. Dies sei für die Tätigkeit des Amtes einer Kanzlerin/eines Kanzlers auch unerlässlich. Da die Klägerin nach den von ihr abgereichten Bewerbungsunterlagen nicht auf vergleichbare Leitungstätigkeiten verweisen könne, fehle ihr eine maßgebliche Qualifikation zur Besetzung der ausgeschriebenen Stelle.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die insgesamt zulässige Berufung der Klägerin ist teilweise in der austenorierten Höhe begründet. Die weitergehende Klage bleibt ohne Erfolg.

I

Die Klägerin verfügt entgegen der Auffassung der Beklagten dem Grunde nach über einen Anspruch auf Entschädigung gem. § 15 Abs. 2 AGG (1.). Der Höhe nach ist der Entschädigungsanspruch entgegen der Auffassung der Klägerin auf 1,5 Bruttomonatsgehälter zu beschränken (2.).

1. Die Beklagte ist verpflichtet, der Klägerin gem. § 15 Abs. 2 AGG i. V. m. § 15 Abs. 1 AGG und § 15 Abs. 4 AGG eine Entschädigung in Höhe von 10.628,52 € (1,5 Bruttomonatsgehälter) zu zahlen.

Gem. § 15 Abs. 1 AGG ist der Arbeitgeber verpflichtet, bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen. Handelt es sich diesbezüglich nicht um einen Vermögensschaden, kann der oder die Beschäftigte gem. § 15 Abs. 2 S. 1 eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Die Entschädigung darf bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre. Gem. § 15 Abs. 4 AGG ist ein diesbezüglicher Anspruch innerhalb einer Frist von zwei Monaten schriftlich geltend zu machen. Die Frist beginnt im Falle einer Bewerbung oder eines beruflichen Aufstiegs mit dem Zugang der Ablehnung.

Gemessen an den benannten gesetzlichen Vorgaben verfügt die Klägerin über einen Entschädigungsanspruch gegen die Beklagte in der benannten Höhe.

a) Die Klägerin hat unter Berücksichtigung des Sach- und Streitstandes die Ausschlussfrist nach § 15 Abs. 4 AGG gewahrt. Denn danach ist ihr das Ablehnungsschreiben der Beklagten vom 08.07.2022 am 08.07.2022 per Mail zugegangen ist. Das Geltendmachungsschreiben der Klägerin vom 07.09.2022 hat die Beklagte per Mail noch am 07.09.2022 erreicht. Da § 15 Abs. 4 AGG nicht die Einhaltung der Schriftform nach § 126 Abs. 1 BGB voraussetzt, sondern die Textform nach § 126 BGB genügen lässt (vgl. insoweit BAG, Urteil v. 16.02.2012 – 8 AZR 697/10 – zitiert nach juris), ist vorliegend von einer Fristwahrung auszugehen.

b) Der von der Klägerin geltend gemachte Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG ist dem Grunde nach erfolgreich.

Der Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG setzt ein Verstoß gegen das im § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot voraus, wobei § 7 Abs. 1 AGG sowohl unmittelbarer als auch mittelbare Benachteiligungen verbietet. Das Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1 AGG untersagt im Anwendungsbereich dieses Gesetzes eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, u. a. wegen einer Behinderung. Zudem dürfen Arbeitgeber nach § 164 Abs. 2 S. 1 SGB IX schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Zwischen der Benachteiligung i. S. von § 7 Abs. 1 AGG und einem im § 1 AGG genannten Grund muss ein Kausalzusammenhang bestehen. Dasselbe gilt für das besondere Benachteiligungsverbot in § 164 Abs. 2 SGB IX. Ein dbzgl. Kausalzusammenhang ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG, welcher sich die Kammer anschließt, bereits dann gegeben, wenn die unmittelbare Benachteiligung i. S. v. § 3 Abs. 1 AGG an einen Grund i. S. v. § 1 AGG anknüpft oder durch diesen motiviert ist, wobei bloße Mitursächlichkeit genügt (BAG, Urteil v. 01.07.2021 – 8 AZR 297/20 – juris Rn 18). In diesem Zusammenhang sieht § 22 AGG für den Rechtsschutz bei Diskriminierung im Hinblick auf den Kausalzusammenhang eine Erleichterung der Darlegungslast, einer Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Wenn im Streitfall die klagende Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat (BAG, Urteil v. 01.07.2021, a. a. O., Rn 19). Diesbezüglich begründet der Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zu Gunsten schwerbehinderter Menschen enthalten und mithin auch der Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen die in § 165 S. 3 SGB IX geregelte Pflicht, einen schwerbehinderten Menschen zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der Behinderung. Derartige Pflichtverletzungen sind nach ständiger und zutreffender Rechtsprechung grds. geeignet, den Anschein zu erwecken, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert zu sein (BAG, Urteil v. 01.07.2021, a. a. O., Rn 21). Ist danach die Vermutung einer Benachteiligung zu bejahen, trägt die andere Partei die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt worden ist. Hierfür gilt das Beweismaß des sog. Vollbeweises. Der Arbeitgeber muss mithin Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG genannten Gründe zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben (BAG, Urteil v. 01.07.2021, a. a. O., Rn 22).

Unter Berücksichtigung der vorgenannten Grundsätze ist die Vermutung einer Benachteiligung und des notwendigen Kausalzusammenhanges bereits deshalb zu bejahen, weil die Beklagte die Klägerin entgegen der Vorgabe nach § 165 S. 3 SGB IX nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hat. Zudem hat die Beklagte keine rechtserheblichen Tatsachen vorgetragen, wonach die Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch ausschließlich auf anderen als den in § 1 AGG genannten Gründen beruht hat.

Soweit sich die Beklagte darauf beruft, es habe in Ermangelung eines Arbeitsplatzes i. S. d. § 165 SGB IX i. V. m. § 156 Abs. 2 Ziff. 5 SGB IX bzw. wegen offensichtlicher Nichteignung der Klägerin i. S. d. § 165 S. 4 SGB IX keine Verpflichtung zur Einladung zum Vorstellungsgespräch bestanden, so vermag das erkennende Gericht dem nicht zu folgen.

aa) Die Definition des Arbeitsplatzbegriffes nach § 165 S. 1 SGB IX i. V. m. § 156 Abs. 2 Nr. 5 SGB IX steht dem geltend gemachten Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG nicht entgegen. Zwar ist der Beklagten entgegen der Auffassung der Klägerin zuzugeben, dass es sich bei der ausgeschriebenen Stelle der Kanzlerin/des Kanzlers um eine solche handelt, die i. S. d. § 156 Abs. 2 Nr. 5 SGB IX durch Wahl besetzt wird (1.). Dies entbindet die Beklagte gleichwohl nach der gebotenen Auslegung der §§ 165 S. 1, 156 Abs. 2 Nr. 5 SGB IX unter Berücksichtigung des gesetzliche bezweckten Schutzes schwerbehinderter Menschen nicht von der Verpflichtung zur Einladung zum Vorstellungsgespräch nach § 165 S. 3 SGB IX, da nach den gesetzlichen Vorgaben des LHG M-V das alleinige Vorschlagsrecht aus dem Kreis der Bewerber/innen ausschließlich bei der Hochschulleitung angesiedelt ist und mithin die Wahlkommission über keinerlei Einflussmöglichkeiten im Hinblick auf die notwendig vorzunehmende (Vor-) Auswahl der Bewerber/innen verfügt (2.).

(1.) Entgegen der Auffassung der Klägerin ändert das alleinige Vorschlagsrecht der Hochschulleitung nach § 87 Abs. 2 S. 1 LHG M-V nach Auffassung der Kammer nichts daran, dass die Position einer Kanzlerin/eines Kanzlers einer Hochschule durch Wahl i. S. d. § 156 S. 2 Nr. 5 SGB IX zu besetzen ist. Dies ergibt sich unmissverständlich aus den Vorgaben nach § 53 LHG M-V i. V. m. § 87 Abs. 2 S. 1 LHG O M-V. Danach wird die Kanzlerin/der Kanzler einer Hochschule durch das Konzil gewählt. Diese gesetzlichen Vorgaben sind zudem in der Wahlordnung der Beklagten vom 08.01.2021 umgesetzt worden. In § 42 WO heißt es wie folgt:

„Wahlvorschlag, Einsichtsrecht

(1.) Die Kanzlerin oder der Kanzler wird auf Vorschlag der Rektorin oder des Rektors vom Erweiterten Senat gewählt. Die Stelle ist rechtzeitig öffentlich auszuschreiben. Zur Beratung bei der Vorbereitung der Ausschreibung einschließlich der Ausgestaltung der Auswahlkriterien sowie bei der Auswahl für den Vorschlag soll die Rektorin oder der Rektor eine Findungskommission einrichten. Der Erweiterte Senat beschließt auf Vorschlag der Rektorin oder des Rektors im Einvernehmen mit dieser bzw. diesem über die Art und den Inhalt der Ausschreibung.

(2.) Der Wahlvorschlag enthält die für das Amt am besten geeignete Person. Er kann auch bis zu drei Personen enthalten, wenn diese nahezu gleich geeignet sind. Der Wahlvorschlag ist anhand der Auswahlkriterien zu begründen.

(3.) Die Mitglieder des Erweiterten Senats haben das Recht, vor der Wahlsitzung die Vorschlagsbegründung und die Bewerbungsunterlagen aller Kandidatinnen und Kandidaten innerhalb eines Zeitraumes von zwei Wochen an geeigneter Stelle einzusehen.“

Unter Berücksichtigung der benannten gesetzlichen Vorgaben inkl. der Wahlordnung der Beklagten ergeben sich keine Anhaltspunkte, die den rechtlichen Schluss rechtfertigen könnten, bei der Besetzung der Position einer Kanzlerin/eines Kanzlers einer Hochschule handele es sich nicht um eine Wahl i. S. d. § 156 Abs. 2 Nr. 5 SGB IX.

(2.) Zur Frage der Anwendbarkeit des § 165 S. 3 SGB IX hat das Arbeitsgericht im Hinblick auf das geforderte Merkmal eines Arbeitsplatzes ausschließlich ausgehend vom Wortlaut des § 165 S. 1 SGB IX und insbesondere unter Bezugnahme auf die Entscheidung des OVG NRW v. 07.06.2018 – 6 B 444/18 – folgendes ausgeführt:

„Maßgeblich für die Anwendung des § 165 S. 3 SGB IX ist, dass es sich bei der zu besetzenden Stelle um einen Arbeitsplatz i. S. d. § 156 SGB IX handelt. Die Bestimmung des Begriffes Arbeitsplatzes in § 156 Abs. 1 SGB IX ist für den gesamten Teil 3 des SGB IX (§§ 151 241) relevant. Sie findet deshalb auch auf die besonderen Pflichten für öffentliche Arbeitgeber/innen bei freien Arbeitsplätzen nach § 165 SGB IX Anwendung (Joussen in LPK - SGB IX, 6. Auflage, § 156 Rz. 5). Dies ergibt sich auch aus dem Klammerzusatz in § 165 S. 1 SGB IX. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass § 165 SGB IX einen eigenständigen, von der allgemeinen Definition des § 156 SGB IX abweichenden Arbeitsplatzbegriff enthält (…).“

Dem vermag die Kammer jedenfalls nicht uneingeschränkt zu folgen.

Es mag zwar vertretbar erscheinen, dann von einer uneingeschränkten Anwendbarkeit des § 156 Abs. 2 Ziff. 5 SGB IX im Anwendungsbereich des § 165 SGB IX auszugehen, wenn die Wahlkommission durch ein gesetzlich normiertes Vorschlagsrecht aus dem Kreis der Bewerber/innen für die ausgeschriebene Stelle einer Kanzlerin/eines Kanzlers jedenfalls auch eine unmittelbare Einwirkungsmöglichkeit auf das Auswahlverfahren selbst besitzt (so OVG NRW v. 07.06.2018 – 6 B 444/18 -). Diese Rechtsfrage stellt sich vorliegend im Anwendungsbereich des Hochschulrechts M-V mit einem alleinigen Vorschlagsrecht der Hochschulleitung nach § 87 Abs. 2 LHG M-V nicht und kann mithin unentschieden bleiben.

In dem hier zu entscheidenden Sachverhalt verbleibt es auf der Grundlage der vorzunehmenden Auslegung der Verweisungsklausel im § 165 S. 1 SGB IX auf § 156 SGB IX bei der uneingeschränkten Anwendbarkeit der Verpflichtungen des öffentlichen Arbeitgebers nach § 165 S. 3 SGB IX.

Für die Auslegung von Gesetzen ist der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend, wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist. Der Erfassung des objektiven Willens des Gesetzgebers dienen die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung aus dem Wortlaut der Norm, der Systematik, ihrem Sinn und Zweck sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte, die einander nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig ergänzen. Der Wortlaut gibt nicht immer hinreichende Hinweise auf den Willen des Gesetzgebers. Unter Umständen wird erst im Zusammenhang mit Sinn und Zweck des Gesetzes

oder anderen Auslegungsgesichtspunkten die im Wortlaut ausgedrückte, vom Gesetzgeber verfolgte Regelungskonzeption deutlich. Für die Beantwortung der Frage, welche Regelungskonzeption dem Gesetz zu Grunde liegt, kommt daneben den Gesetzesmaterialien und der Systematik des Gesetzes eine Indizwirkung zu. Dabei dürfen die Gerichte sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen, sondern müssen die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren. Eine Interpretation, die sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch-legitimierten Gesetzgebers ein (BAG v. 31.05.2023 – 5 AZR 305/22 – juris Rn 27).

Unter Berücksichtigung der benannten Vorgaben erscheint es zwar bei ausschließlicher Wortlautbetrachtung des § 165 S. 1 SGB IX auf den ersten Blick konsequent, bei der Besetzung des Wahlamtes einer Kanzlerin/eines Kanzlers das notwendige Merkmal eines Arbeitsplatzes i. S. d. § 165 S. 1 SGB IX i. V. m. § 156 Abs. 2 Ziff. 5 SGB IX zu verneinen.

Dagegen ist jedoch festzustellen, dass die nach §§ 87 Abs. 2, 53 LHG M-V i. V. m. § 42 WO durchzuführende Wahl der Kanzlerin/des Kanzlers aufgrund des in § 87 Abs. 2 LHG M-V vorgesehenen alleinigen Vorschlagsrechts der Hochschulleitung, welche der Bewerber/innen der Wahlkommission zur Wahl vorgestellt werden, keinerlei Einfluss auf das vorab durchzuführende Auswahlverfahren entfalten kann. D. h., dass die Durchführung des Auswahlverfahrens selbst allein und ausschließlich und unabhängig von der – anschließend – durchzuführenden Wahl im alleinigen Entscheidungsbereich der Beklagten als Arbeitgeberin verbleibt. Dies wiederum hat zur Folge, dass der Schutzzweck des § 156 Abs. 2 Nr. 5 SGB IX in diesem Fall nicht tangiert ist. Dieser besteht nämlich darin, dass der Arbeitgeber, der nicht selber über die Besetzung der Stelle entscheiden kann, auch nicht mit den Folgen der Nichtbeschäftigung schwerbehinderter Menschen belastet werden soll. Der Arbeitgeber soll mithin nicht mit einer gesetzlichen Verpflichtung überzogen werden, deren Umsetzung er selber nicht unmittelbar Kraft eigener Entscheidung realisieren kann. Eine solche Fallgestaltung ist vorliegend im Hinblick auf die Durchführung des Auswahlverfahrens aufgrund des alleinigen Vorschlagsrechts der Hochschulleitung – offensichtlich – nicht gegeben. Wenn aber der Schutzzweck des § 156 Abs. 2 Ziff. 5 SGB IX – wie hier – nicht eröffnet ist, dann gebietet der besondere Schutz schwerbehinderter Menschen insbesondere in Umsetzung von Art. 7 Abs. 2 RL 2000/78/EG die Bezugnahmeklausel auf § 156 SGB IX in § 165 S. 1 SGB IX im Hinblick auf die Definition des Arbeitsplatzes im Rahmen der Verpflichtung nach § 165 S. 3 SGB IX dahingehend einschränkend auszulegen, dass eine verpflichtende Einladung zum Vorstellungsgespräch durch den öffentlichen Arbeitgeber nach § 165 S. 3 SGB IX jedenfalls dann zu bejahen ist, wenn das der Wahl i. S. d. § 156 Abs. 2 Ziff. 5 SGB IX vorgelagerte Auswahlverfahren ausschließlich – wie hier – in der Entscheidungshoheit des Arbeitgebers verbleibt und mithin der gesetzgeberisch verfolgte Schutzbereich des § 156 Abs. 2 Ziff. 5 SGB IX nicht betroffen ist. Für dieses Auslegungsergebnis nach der Systematik der §§ 156 Abs. 2 Ziff. 5 i. V. m. § 165 S. 1 u. S. 3 SGB IX streitet insbesondere die gesetzgeberisch verfolgte Zwecksetzung des § 165 S. 3 SGB IX, der insbesondere darin besteht, dem schwerbehinderten Bewerber/der schwerbehinderten Bewerberin durch eine persönliche Vorstellung – zusätzlich – die Möglichkeit einzuräumen, die „Entscheider/innen“ davon zu überzeugen, für die Besetzung einer Stelle ebenso gut oder gar besser geeignet zu sein als die Mitbewerber/innen. Denn in dieser Fallkonstellation stehen der Umsetzung des gesetzgeberischen Schutzgedankens nach § 165 S. 3 SGB IX keine schützenswerten Interessen des Arbeitgebers nach § 156 Abs. 2 Nr. 5 SGB IX entgegen, so dass jedenfalls nach der Gesetzessystematik im Verhältnis der §§ 156 Abs. 2 Ziff. 5 und 165 S. 3 SGB IX unter Berücksichtigung des vom Gesetzgeber jeweils verfolgten Zweckes eine einschränkende Auslegung der Bezugnahmeklausel in § 165 S. 1 SGB IX zur Überzeugung der Kammer geboten ist.

bb) Soweit sich die Beklagte ergänzend auf eine offensichtliche Nichteignung der Klägerin für die ausgeschriebene Stelle einer Kanzlerin/eines Kanzlers nach § 165 S. 4 SGB IX beruft, so vermag die Kammer dem nicht zu folgen.

Zur Beurteilung der fachlichen Eignung ist auf das in der veröffentlichten Stellenausschreibung enthaltene Anforderungsprofil abzustellen. „Offensichtlich“ fachlich nicht geeignet ist, wer „unzweifelhaft“ insoweit nicht dem Anforderungsprofil der zu vergebenden Stelle entspricht. Bloße Zweifel an der fachlichen Eignung rechtfertigen es nicht, von einer Einladung abzusehen, weil derartige Zweifel im Vorstellungsgespräch selbst ausgeräumt werden können. Der schwerbehinderte Mensch soll nach § 165 S. 3 SGB IX gerade die Chance haben, sich in einem Vorstellungsgespräch zu präsentieren, um den öffentlichen Arbeitgeber von seiner Eignung zu überzeugen (vgl. BAG v. 11.08.2016 – 8 AZR 375/15 - juris Rn 36).

Die genannten Voraussetzungen sind hier bereits nach dem eigenen Vortrag der dbzgl. darlegungs- und beweispflichtigen Beklagten nicht erfüllt, weil auch danach die Klägerin objektiv über die geforderten Ausbildungs- und Prüfungsvoraussetzungen verfügt.

2. Der Höhe nach ergibt sich nach Auffassung der Kammer ein Entschädigungsanspruch zu Gunsten der Klägerin in Höhe von 10.628,52 € (1,5 Bruttomonatsgehälter).

Bei der Festlegung einer angemessenen Entschädigung i. S. d. § 15 Abs. 2 S. 2 AGG ist zu berücksichtigen, dass es sich dort um eine Kappungsgrenze handelt. D. h., es ist zunächst die Höhe einer angemessenen Entschädigung zu ermitteln und diese ist dann, wenn sie drei Bruttomonatsentgelte übersteigen sollte, ggf. auf drei Bruttomonatsgehälter zu begrenzen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verschuldensunabhängig ist, so dass die Motivationslage des öffentlichen Arbeitgebers nicht zu Ungunsten des benachteiligten schwerbehinderten Menschen gewertet werden kann.

Unter Berücksichtigung der benannten Voraussetzungen wird die Klägerin mit der hier festgelegten Entschädigung angemessen für den durch die unzulässige Diskriminierung wegen der Behinderung erlittenen immateriellen Schaden angemessen im o. g. Sinn entschädigt. Der auf 1,5 Bruttomonatsgehälter festgelegte Betrag ist erforderlich und auch ausreichend, um die notwendige abschreckende Wirkung zu erzielen. Da andererseits auf der Grundlage des Sach- und Streitstandes und insbesondere auch nach dem Vortrag der Klägerin keine Umstände ersichtlich sind, die auf ein hohes Maß der Diskriminierung schließen lassen, ist die weitergehende Klage auf eine Entschädigung in Höhe von drei Bruttomonatsgehältern nicht begründet. Mithin kommt auch eine Erhöhung des Entschädigungsbetrages nach § 15 Abs.2 S2 AGG nicht in Betracht. In dem weitergehenden Umfang bleibt die Berufung der Klägerin daher ohne Erfolg.

II

Die Kosten des Rechtstreits haben die Parteien je zur Hälfte zu tragen (§ 97 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 92 Abs. 1 ZPO).

III

Die Revision gegen diese Entscheidung ist gem. § 72 Abs. 2 Ziff. 1 ArbGG zuzulassen, da der Frage nach einer Auslegungsfähigkeit der Bezugnahmeklausel in § 165 S. 1 SGB IX grundsätzliche Bedeutung beizumessen und bisher höchstrichterlich nicht entschieden ist.

Referenznummer:

R/R9831


Informationsstand: 17.03.2025