Urteil
Kündigung eines Schwerbehinderten vor Antragstellung beim Versorgungsamt

Gericht:

BAG 2. Senat


Aktenzeichen:

2 AZR 612/00


Urteil vom:

07.03.2002


Leitsatz:

1. Voraussetzung des Sonderkündigungsschutzes nach § 15 SchwbG ist, daß vor Zugang der Kündigung entweder ein Bescheid über die Schwerbehinderteneigenschaft ergangen ist oder der Schwerbehinderte jedenfalls einen entsprechenden Anerkennungsantrag beim Versorgungsamt gestellt hat ( Bestätigung der ständigen Senatsrechtsprechung, zuletzt: BAG vom 16. August 1991, Az: 2 AZR 241/90 = AP Nr 2 zu § 15 SchwbG 1986 = EzA § 15 SchwbG 1986 Nr 5).

2. Ausnahmsweise kann der Sonderkündigungsschutz bereits vor Antragstellung des Schwerbehinderten beim Versorgungsamt eingreifen, wenn der schwerbehinderte Arbeitnehmer den Arbeitgeber vor dem Ausspruch der Kündigung über seine körperlichen Beeinträchtigungen informiert und über die beabsichtigte Antragstellung in Kenntnis gesetzt hat.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

JURIS-GmbH

Tenor:

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 15. Juni 2000 - 14 Sa 376/00 - aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand:

Der Kläger war seit dem 1. April 1997 als Kraftfahrer beim Beklagten als dessen einziger Arbeitnehmer mit einem monatlichen Bruttoverdienst von 4.300,00 DM beschäftigt.

Seit Mai 1999 war der Kläger wegen einer Darmerkrankung arbeitsunfähig. Ihm wurde ein künstlicher Darmausgang gelegt. Im August und September 1999 befand er sich in einer Rehabilitationsmaßnahme. Im Anschluß hieran war er erneut arbeitsunfähig krank. Er unterrichtete am 19. Oktober 1999 den Beklagten über einen bevorstehenden weiteren Krankenhausaufenthalt ab dem 20. Oktober 1999. Mit Schreiben vom 21. Oktober 1999 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers fristgemäß zum 30. November 1999.

Am 28. Oktober 1999 beantragte der Kläger beim Versorgungsamt der Freien und Hansestadt Hamburg seine Anerkennung als Schwerbehinderter. Mit Bescheid vom 25. November 1999 erkannte das Versorgungsamt seine Schwerbehinderteneigenschaft mit einem Grad der Behinderung von 100 wegen chronischer Darmerkrankung mit Wirkung ab 16. Mai 1999 - zunächst bis zum 30. November 2004 - an.

Mit Anwaltsschreiben vom 28. Oktober 1999 berief sich der Kläger gegenüber dem Beklagten auf seine Schwerbehinderteneigenschaft.

Mit Bescheid vom 28. Dezember 1999 wies die Hauptfürsorgestelle den Antrag des Beklagten vom 4. November 1999 auf Zustimmung zur fristgemäßen Kündigung des Klägers mit der Begründung zurück, dem Antrag fehle im Hinblick auf die wirksame Kündigung vom 21. Oktober 1999 das Rechtsschutzinteresse.

Mit seiner am 17. November 1999 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat der Kläger behauptet, er habe dem Beklagten bereits im Mai 1999 und nochmals am 19. Oktober 1999 mitgeteilt, er werde einen Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter stellen. Er hat die Auffassung vertreten, auf Grund seiner zum Kündigungszeitpunkt vorliegenden Schwerbehinderung hätte der Beklagte die Zustimmung der Hauptfürsorgestelle einholen müssen.
Der Kläger hat beantragt festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung des Beklagten vom 21. Oktober 1999 nicht aufgelöst worden ist.

Der Beklagte hat zur Begründung seines Klageabweisungsantrags die Auffassung vertreten, der Kläger könne den Sonderkündigungsschutz als Schwerbehinderter nicht mehr in Anspruch nehmen. Zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung habe er noch keinen Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter gestellt. Im übrigen sei die Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen gerechtfertigt.
Das Arbeitsgericht hat festgestellt, daß die Kündigung das Arbeitsverhältnis des Klägers nicht aufgelöst hat. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.
Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage.

Entscheidungsgründe:

Die Revision des Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht (§ 565 Abs. 1 ZPO aF), da der Senat auf Grund der bisherigen Feststellungen noch nicht abschließend über die Rechtswirksamkeit der Kündigung entscheiden kann.

I. Das Landesarbeitsgericht hat die Kündigung gemäß § 15 SchwbG, § 134 BGB für unwirksam gehalten, weil der Kläger im Zeitpunkt der Kündigungserklärung Schwerbehinderter gewesen sei, eine vorherige Zustimmung der Hauptfürsorgestelle zu dieser Kündigung nicht vorgelegen habe und sich der Kläger spätestens mit dem dem Beklagten am 1. November 1999 vorliegenden Schreiben seines Prozeßbevollmächtigten vom 28. Oktober 1999 auf den Kündigungsschutz des Schwerbehindertengesetzes wirksam berufen habe. Der Schutz des Schwerbehinderten könne entgegen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht davon abhängig gemacht werden, daß der Schwerbehinderte bereits zum Kündigungszeitpunkt einen Antrag beim Versorgungsamt auf Anerkennung als Schwerbehinderter gestellt habe. Auch bei einem zum Kündigungszeitpunkt noch fehlenden Feststellungsantrag nach § 4 SchwbG sei es für den Arbeitgeber nicht unmöglich, ein Zustimmungsverfahren nach § 15 SchwbG durchzuführen. Hier bedürfe es im Vergleich zu dem bereits gestellten, aber noch nicht beschiedenen Feststellungsantrag lediglich eines Hinweises der Hauptfürsorgestelle auf den bisher fehlenden Antrag an den schwerbehinderten Arbeitnehmer. Unterbleibe der Antrag, könne die Hauptfürsorgestelle ein sog. Negativattest erteilen. Stelle der Arbeitnehmer auf den behördlichen Hinweis den Feststellungsantrag, sei die Sachlage vollständig mit derjenigen vergleichbar, in der der Schwerbehinderte bereits einen Antrag gestellt habe, über den aber noch nicht entschieden worden sei. Eine weitere erhebliche zeitliche Verzögerung trete nicht ein. Weder dogmatische Gründe noch die praktischen Auswirkungen sprächen gegen das Absehen von dem Antragserfordernis zum Zeitpunkt der Kündigung. Den Anforderungen nach Rechtssicherheit und des gebotenen Schutzes des Arbeitgebers könne schon durch eine schnelle Geltendmachung des Sonderkündigungsschutzes ausreichend Rechnung getragen werden.

II. Dem folgt der Senat nicht.
Das Landesarbeitsgericht hat zu Unrecht dem Kläger ohne weiteres den Sonderkündigungsschutz nach § 15 SchwbG zugebilligt.

1. Der Kläger ist zwar unstreitig Schwerbehinderter iSv. § 1 SchwbG. Auf Grund des auf den 16. Mai 1999 zurückwirkenden Bescheides des Versorgungsamtes der Freien und Hansestadt Hamburg vom 25. November 1999 steht fest, daß er schon im Kündigungszeitpunkt Schwerbehinderter war. Die Schwerbehinderteneigenschaft entsteht ( vielmehr) kraft Gesetzes, wenn die in § 1 SchwbG genannten Voraussetzungen vorliegen. Der Feststellungsbescheid des Versorgungsamtes hat nach § 4 Abs. 1 SchwbG - anders als der Gleichstellungsbescheid des Arbeitsamtes nach § 2 Abs. 1 SchwbG - keine rechtsbegründende ( konstitutive), sondern lediglich eine erklärende (deklaratorische) Wirkung (vgl. Senat 23. Februar 1978 - 2 AZR 426/76 - AP SchwbG § 12 Nr.3 = EzA BetrVG 1972 § 103 Nr. 21; umfassend zur Rechtsprechung und Literatur Neumann/Pahlen SchwbG 9. Aufl. § 1 Rn. 11 mwN).

2. Die rechtlichen Wirkungen der Schwerbehinderteneigenschaft treten im Falle des Sonderkündigungsschutzes aber nicht ohne weiteres, dh. schon bei bloß bestehender objektiver Schwerbehinderteneigenschaft, ein. Voraussetzung ist vielmehr nach ständiger Rechtsprechung des Senats, daß vor Zugang der Kündigung ein Bescheid über die Schwerbehinderteneigenschaft ergangen ist oder jedenfalls ein entsprechender Antrag gestellt ist (vgl. beispielsweise 17. Februar 1977 - 2 AZR 687/75 - AP SchwbG § 12 Nr. 1 = EzA SchwbG § 12 Nr. 2; 20. Oktober 1977 - 2 AZR 770/76 - BAGE 29, 331; 23. Februar 1978 - 2 AZR 462/ 76 - BAGE 30, 141; 30. Juni 1983 - 2 AZR 10/82 - BAGE 43, 148; 31. August 1989 - 2 AZR 8/89 - AP SchwbG § 12 Nr. 16 = EzA SchwbG 1986 Nr. 1; 5. Juli 1990 - 2 AZR 8/90 - und 16. August 1991-- 2 AZR 241/90 - AP SchwbG 1986 § 15 Nr. 1 und 2 = EzA SchwbG 1986 § 15 Nr. 3 und 5).
An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.

a) Wie der Senat wiederholt dargelegt hat, verkennt eine allein auf den Gesetzeswortlaut des § 15 SchwbG abstellende Auslegung die Lückenhaftigkeit des Schwerbehindertengesetzes. Das Schwerbehindertengesetz enthält keine Regelung für das Zustimmungsverfahren in den Fällen, in denen der Schwerbehinderte das Feststellungsverfahren erst nach Zugang der Kündigung betreibt.
Nach der Systematik des Schwerbehindertengesetzes muß die Schwerbehinderteneigenschaft grundsätzlich vorab in einem gerichtlich nachprüfbaren behördlichen Vorverfahren festgestellt werden. Wegen der dem Arbeitnehmer im Interesse seines Persönlichkeitsschutzes vorbehaltenen Antragsbefugnis hat der Arbeitgeber keine Möglichkeit, vor Ausspruch der Kündigung die Schwerbehinderteneigenschaft eines Arbeitnehmers verbindlich klären zu lassen. In den Fällen, in denen der Arbeitnehmer vor einer Kündigung kein behördliches Feststellungsverfahren eingeleitet hat, ist das in § 15 SchwbG vorgesehene Zustimmungsverfahren nicht durchführbar. Die Hauptfürsorgestelle kann vor einer Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft keine Entscheidung über die Zustimmung zu einer beabsichtigten Kündigung treffen, weil ihre Zuständigkeit nicht geklärt ist. Diese besteht nur, wenn über die Zustimmung zur Kündigung gegenüber einem Schwerbehinderten zu entscheiden ist. Die Hauptfürsorgestelle ist auch nicht zu weiteren Ermittlungen in der Lage, wenn beim Versorgungsamt kein Feststellungsverfahren anhängig ist. Die Möglichkeit, daß die Hauptfürsorgestelle bis zur gesetzmäßigen Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft ein sog. Negativattest erteilt, führt zu kaum zumutbaren Auswirkungen für den Arbeitgeber und die beteiligten Behörden. Der Arbeitgeber muß dann praktisch vor jeder Kündigung vorsichtshalber bei der Hauptfürsorgestelle einen Zustimmungsantrag stellen.
Anders liegt der Fall, wenn im Zeitpunkt der Kündigung zumindest schon ein Feststellungsverfahren nach § 4 SchwbG anhängig ist. Der Arbeitgeber wird hierdurch objektiv in die Lage versetzt, die Zustimmung zur beabsichtigten Kündigung zu beantragen. Ist ihm vor Ausspruch der Kündigung bekannt, daß ein Feststellungsverfahren läuft, kann und muß er die Zustimmung zu der beabsichtigten Kündigung beantragen. Die Hauptfürsorgestelle kann dann zwar nicht sofort entscheiden, aber ihre Entscheidung bereits vorbereiten. Sie muß sich durch Rückfrage über den Stand des Feststellungsverfahrens unterrichten und ihr Verfahren zumindest dann, wenn es um die Zustimmung zu einer ordentlichen Kündigung geht, bis zur Entscheidung des Versorgungsamtes aussetzen.
Auch wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt der Kündigung von dem anhängigen Verfahren keine Kenntnis hat, steht dem Zustimmungsverfahren jedenfalls kein objektives Hindernis entgegen. Der Arbeitgeber hat allerdings erst dann Anlaß eine Zustimmung zu beantragen, wenn der Arbeitnehmer nachträglich unter Hinweis auf das bereits eingeleitete Feststellungsverfahren seinen besonderen Kündigungsschutz geltend macht. Dieser Umstand rechtfertigt es in der Regel nicht, dem Schwerbehinderten den besonderen Kündigungsschutz zu versagen, wenn er jedenfalls rechtzeitig die Geltendmachung des besonderen Kündigungsschutzes vorbereitet hat. Wenn der Arbeitgeber nach der Kündigung von dem anhängigen Feststellungsverfahren erfährt, kann er nunmehr die Zustimmung beantragen, allerdings nur zu einer erneuten Kündigung. Der Arbeitnehmer muß sich dann aber innerhalb einer Regelfrist von einem Monat gegenüber dem Arbeitgeber auf das Feststellungsverfahren berufen, weil das Gebot der Rechtssicherheit im Kündigungsrecht eine zeitliche Begrenzung auch bei der Geltendmachung des Kündigungsschutzes durch den Arbeitnehmer erfordert (st. Rspr. des Senats, zuletzt 16. August 1991 aaO).
Zu berücksichtigen ist schließlich auch, daß die Rechte aus dem Schwerbehindertengesetz nicht "von Amts wegen" gewährt werden. Es bleibt der Entscheidung des Schwerbehinderten überlassen, die rechtlichen Wirkungen der Schwerbehinderteneigenschaft in Anspruch zu nehmen, indem er die Feststellung der Schwerbehinderung nach § 4 SchwbG beantragt (BVerwG 17. September 1981 - 2 C 4.79 - DVBl. 1982, 582, 583; 27. April 1983 - 2 WDB 2/ 83 - BVerwGE 76, 82, 85; 15. Dezember 1988 - 5 C 67.85 - BVerwGE 81, 84, 88; 22. November 1994 - 5 B 16/94 - Buchholz 436.61 § 15 SchwbG Nr. 8). Nach § 4 SchwbG steht allein dem Behinderten die Befugnis zu, durch seinen Antrag das vorgesehene Feststellungsverfahren in Gang zu setzen. Es ist kein zwingender Grund ersichtlich, dem an sich Schutzbedürftigen, der den gesetzlichen Schutz - aus welchen (auch wohl überlegten) Gründen auch immer - nicht in Anspruch nehmen will, den Schutz gleichsam "aufzudrängen" (vgl. insbesondere BVerwG 17. September 1981, 27. April 1983 und 15. Dezember 1988 aaO).

b) Die Rechtsprechung des Senats wird vom Bundesverfassungsgericht (9. April 1987 - 1 BvR 1406/86 - NZA 1987, 563) gebilligt. Das Bundesverfassungsgericht sieht in der vom Senat vertretenen Auslegung keine mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbare, sachlich nicht gerechtfertigte Differenzierung zwischen vergleichbaren Personengruppen (zur fehlenden Verletzung des Art. 3 GG siehe auch Senat 20.Oktober 1977 aaO). Einen Schwerbehinderten, der erst nach dem Kündigungsausspruch ein Feststellungsverfahren einleite und dessen Schwerbehinderung nicht offenkundig sei, vom Zustimmungsverfahren auszunehmen, könne sachlich damit gerechtfertigt werden, daß der Arbeitgeber bis zur Antragstellung nicht nur wegen seiner Unkenntnis des bestehenden oder möglichen Schutztatbestandes subjektiv keinen Anlaß habe, das Zustimmungsverfahren bei der Hauptfürsorgestelle einzuleiten, sondern für ihn dieses Verfahren auch objektiv undurchführbar sei.

c) Auch das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, daß ein Beamter den Schwerbehindertenschutz des § 47 Abs. 2 SchwbG bei seiner Entlassung aus dem Beamtenverhältnis nicht in Anspruch nehmen könne, wenn die Schwerbehinderteneigenschaft im Zeitpunkt der Entlassung weder festgestellt noch ein entsprechendes Feststellungsverfahren beim Versorgungsamt eingeleitet worden sei (17. September 1981, 27. April 1983 und 15. Dezember 1988 aaO).

d) Eine Reihe von Autoren teilt die Ansicht des Senats (vgl. beispielsweise Cramer SchwbG 4. Aufl. § 15 Rn. 4; Gröninger/Thomas SchwbG Stand März 2001 § 15 Rn. 23; Dörner SchwbG Stand Mai 2001 § 15 Rn. 93; Neubert/Becke SchwbG 2. Aufl. § 15 Rn. 4; Wiegand SchwbG Stand Januar 2001 § 15 Rn. 54 ff.).

3. Der Senat sieht auch unter Berücksichtigung der immerhin verfahrensrechtlich beachtlichen Kritik (vgl. insbesondere GK-SchwbG/Steinbrück 2. Aufl. § 15 Rn. 72 ff.; KR-Etzel 6. Aufl. § 85 bis 90 SGB IX Rn. 23 ff.; Kittner/Däubler/ Zwanziger KSchR 5. Aufl. § 15 Rn. 23; Großmann NZA 1992, 241, 244 ff.) keinen durchgreifenden Anlaß, seine bisherige ständige Rechtsprechung aufzugeben. Der Gesetzgeber hat in Kenntnis dieser Rechtsprechung weder bei den grundlegenden Reformen des Schwerbehindertengesetzes 1986 noch des Sozialgesetzbuches - Neuntes Buch - ( SGB IX) vom 13. Juni 2001 (BGBl. I S 1046) die Regelungslücke im Schwerbehinderten- bzw. Rehabilitationsrecht geschlossen und die richterliche teleologische Reduktion korrigiert. Vor allem auch deshalb - aber auch aus Praktikabilitätsaspekten und Gründen der Rechtssicherheit (von Maydell SAE 1979, 36, 37) - ist grundsätzlich am Antragserfordernis vor Zugang der Kündigung für das Eingreifen des kündigungsrechtlichen Schwerbehindertenschutzes festzuhalten.
Etwas anderes kann ausnahmsweise zum einen dann gelten, wenn die Schwerbehinderung offenkundig ist (BVerfG 9. April 1987 aaO; BAG 20. Oktober 1977 aaO; vgl. auch Senat 18. Oktober 2000 - 2 AZR 380/99 - AP BGB § 123 Nr. 59 = EzA BGB § 123 Nr. 56). Zum anderen kann bei Berücksichtigung des Sinns und Zwecks des Antragserfordernisses im Einzelfall der kündigungsrechtliche Schutz des Schwerbehindertengesetzes auch schon dann zum Tragen kommen, wenn der Schwerbehinderte bereits vor dem Ausspruch der Kündigung den Arbeitgeber über seine körperlichen Beeinträchtigungen informiert und über die beabsichtigte Antragstellung beim Versorgungsamt in Kenntnis gesetzt hat. In einem solchen Fall hat der Schwerbehinderte ausreichend zu erkennen gegeben, daß er den Schwerbehindertenschutz in Anspruch nehmen will. Das Weitere kann nicht davon abhängen, ob er den Antrag tatsächlich noch vor dem Zugang der Kündigung einreichen kann oder ob es der Arbeitgeber schafft, vorher die Kündigung zu erklären. Spricht der Arbeitgeber in Kenntnis dieser Umstände zeitnah eine Kündigung aus - insbesondere um einer befürchteten Antragstellung und Anerkennung des Arbeitnehmers als Schwerbehinderter zuvorzukommen - so muß er sich nach den Umständen des Einzelfalles entsprechend dem Rechtsgedanken des § 162 BGB so behandeln lassen, als habe der Schwerbehinderte den Antrag vor dem Zugang der Kündigung gestellt.

III. Ob die Kündigung hiernach rechtsunwirksam ist, läßt sich mangels näherer Feststellungen des Landesarbeitsgerichts noch nicht abschließend beurteilen.
Da der Kläger im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung noch keinen Antrag auf Feststellung seiner Schwerbehinderung beim Versorgungsamt gestellt hatte, bedurfte es zu seiner Kündigung vom 21. Oktober 1999 an sich keiner Zustimmung der Hauptfürsorgestelle. Etwas anderes könnte sich aber dann ergeben, wenn die Behauptung des Klägers zutrifft, er habe am 19. Oktober 1999 dem Beklagten noch einmal mitgeteilt, er werde den Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter stellen. Diesen Umstand wird das Landesarbeitsgericht näher aufzuklären und zu bewerten haben.

Referenznummer:

KARE600006508


Informationsstand: 10.03.2003