Urteil
Krankheitsbedingte Kündigung

Gericht:

BAG


Aktenzeichen:

2 AZR 399/91


Urteil vom:

21.05.1992


Leitsatz:

Ist der Arbeitnehmer bereits längere Zeit arbeitsunfähig krank (hier: 1½ Jahre) und ist im Zeitpunkt der Kündigung die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit noch völlig ungewiß, so kann diese Ungewißheit wie eine feststehende dauernde Arbeitsunfähigkeit zu einer erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher Interessen führen (im Anschluß an das Senatsurteil vom 28.2.1990 - 2 AZR 401/89 - AP Nr. 25 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit).

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

BDH-Kurier 1/2 1994

Aus dem Sachverhalt:

Der am 14.03.1969 geborene, ledige Kläger wurde bei der Beklagten, einem Unternehmen der Kraftfahrzeugherstellung, vom 09.09.1985 bis 30.01.1989 zum Mechaniker ausgebildet und ab 01.02.1989 im Werk M. als Werkzeugwechslerhelfer gegen eine monatliche Vergütung von etwa 2.800,-- DM brutto beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft Verbandszugehörigkeit die Tarifverträge für die Arbeiter und Angestellten in der Metallindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden Anwendung.

Seit dem 28.02.1989 ist der Kläger arbeitsunfähig krank und befindet sich mit Unterbrechungen in psychotherapeutischer Behandlung in einer Tagesklinik für psychisch Kranke. In den Anfangsmonaten wurde sein Arbeitsplatz von anderen Mitarbeitern der Werkzeugvoreinstellung durch Ableistung von Überstunden mitbetreut. Ende September 1989 wurde zur Besetzung des Arbeitsplatzes ein Arbeitnehmer aus einer Parallelabteilung zunächst entliehen und ab 01.11.1989 in die Abteilung Werkzeugvoreinstellung fest übernommen.

Der Beklagten entstanden während der Arbeitsunfähigkeit des Klägers bis zum 30.10.1990 folgende Lohn- und Lohnnebenkosten:

1989 1990

Lohnfortzahlung 3.871,05 DM
Sondervergütung 2.731,04 DM 3.495,-- DM
Urlaubsgeld ./. 4.964,90 DM
Vermögensbildung 72,80 DM
Sozialversicherungsbeiträge 1.141,41 DM
Gesamtbetrag 16.276,20 DM

Auf Anfrage der Beklagten vom 10.04.1990 erklärte der Kläger, in Kürze die Arbeit wieder aufzunehmen. Auf eine weitere Nachfrage vom 13.09.1990 antwortete er, keinen Termin für eine Wiederaufnahme der Arbeit nennen zu können.

Mit Schreiben vom 09.11.1990 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31.03.1991.

Aus den Gründen:

Das Berufungsgericht hat auf eine erhebliche Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Interessen durch die trotz fortdauernder Arbeitsunfähigkeit zu gewährenden tariflichen Leistungen (Urlaubsabgeltung und Jahressonderzahlung) abgestellt. Der Senat läßt offen, ob die Belastung des Arbeitgebers mit tariflichen Leistungen der vorbezeichneten Art grundsätzlich als derartige Beeinträchtigung wirtschaftlicher Interessen anerkannt werden kann (vgl. Senatsurteil vom 06.09.1989 - 2 AZR 224/89 - AP Nr. 23 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit). Denn eine langanhaltende Krankheit vermag eine Kündigung ohne Rücksicht auf zusätzliche wirtschaftliche Belastungen des Arbeitgebers bereits dann sozial zu rechtfertigen, wenn, wie im vorliegenden Fall, im Zeitpunkt der Kündigung die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit völlig ungewiß ist und die Krankheit bereits längere Zeit, wie hier eineinhalb Jahre, angedauert hat. Diese Ungewißheit steht der (feststehenden) dauernden Arbeitsunfähigkeit im Sinne der bisherigen Rechtsprechung gleich.

a) Steht fest, daß der Arbeitnehmer in Zukunft die geschuldete Arbeitsleistung überhaupt nicht mehr erbringen kann, so ist schon aus diesem Grund das Arbeitsverhältnis auf Dauer ganz erheblich gestört. Die auf das jeweilige Arbeitsverhältnis bezogene, betriebliche Beeinträchtigung besteht darin, daß der Arbeitgeber damit rechnen muß, der Arbeitnehmer sei auf Dauer außerstande, die von ihm geschuldete Leistung zu erbringen. In diesem Fall liegt die erhebliche betriebliche Beeinträchtigung darin, daß der Arbeitgeber auf unabsehbare Zeit gehindert wird, sein Direktionsrecht (vgl. dazu KR-Rost, 3. Auflage, § 2 KSchG Rz. 36 f.) auszuüben. Er kann den Arbeitnehmer schon allein hinsichtlich der Bestimmung von Zeit und Reihenfolge der Arbeit nicht mehr frei einsetzen; eine irgendwie geartete Planung seines Einsatzes ist ebenso wenig möglich wie der von Vertretungskräften.

b) Dem - auf gesundheitlichen Gründen beruhenden - dauernden Unvermögen des Arbeitnehmers, die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, ist die Ungewißheit, wann der Arbeitnehmer wieder hierzu in der Lage sein wird, gleichzustellen, wenn im Zeitpunkt der Kündigung die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit noch völlig ungewiß ist. Dann ist der Arbeitgeber in einer dem Fall der feststehenden Leistungsunfähigkeit vergleichbaren Lage.

Im Schuldrecht steht die dauernde Unmöglichkeit (hier das Unvermögen) der vorübergehenden gleich, wenn diese die Erreichung des Vertragszweckes in Frage stellt und dem anderen Vertragsteil die Einhaltung des Vertrages bis zum Wegfall des Leistungshindernisses nicht zuzumuten ist. Ob das zutrifft, ist unter Berücksichtigung aller Umstände und der Belange beider Parteien nach Treu und Glauben zu entscheiden. Auch das Arbeitsverhältnis ist ein, wenn auch durch einen besonderen Arbeitnehmerschutz geprägtes, Austauschverhältnis. Deshalb ist bei der Prüfung der möglichen nachteiligen Folgen krankheitsbedingter Fehlzeiten auch die erhebliche Störung des Äquivalenzverhältnisses zu berücksichtigen. Es genügt allerdings nicht bereits ein nur unausgewogenes Verhältnis zwischen Erfüllung der Arbeits- und Lohnfortzahlungspflicht, um unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Belastung mit Lohnfortzahlungskosten eine Kündigung wegen häufiger Erkrankungen sozial zu rechtfertigen. Bei langanhaltender Krankheit, bei der - von dem vorliegenden Fall besonderer tariflicher Regelungen abgesehen - die wirtschaftlichen Auswirkungen in den Hintergrund treten, wird dieses Äquivalenzverhältnis deshalb besonders gestört, wenn eine Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers überhaupt nicht mehr absehbar ist.

Referenznummer:

R/R0223


Informationsstand: 06.12.1994