Urteil
Zustimmung zur Kündigung - Kündigung des Arbeitsverhältnisses

Gericht:

VG Halle 5. Kammer


Aktenzeichen:

5 A 3/23 HAL


Urteil vom:

02.02.2023


Tenor:

Wegen Schwerbehindertenrechts hier: Zustimmung zur Kündigung hat das Verwaltungsgericht Halle - 5. Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 2. Februar 2023 durch den Präsidenten des Verwaltungsgerichts Pfersich, die Richterin am Verwaltungsgericht Dr. Nuckelt und die Richterin Heidenreich sowie die ehrenamtlichen Richter Herr Degenhardt und Herr Zehe für Recht erkannt: Der Beklagte wird verpflichtet, die Klägerin auf ihren Antrag vom 28. März 2019 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Der Bescheid des Beklagten vom 24. Mai 2019 und dessen Widerspruchsbescheid vom 13. Mai 2020 werden aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Klägerin und der Beklagte tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Rechtsweg:

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Tatbestand:

Die Klägerin begehrt vom Beklagten die Erteilung der Zustimmung nach § 168 SGB IX zur beabsichtigten ordentlichen Kündigung des mit der Beigeladenen bestehenden Arbeitsverhältnisses.

Die am 12. Juli 1971 geborene Beigeladene ist seit dem 27. Januar 1994 bei der Klägerin beschäftigt. Sie ist in die Entgeltgruppe 5 TVöD eingruppiert. Seit dem 1. November 2011 ist ihr im Rahmen des Arbeitsvertrages die Stelle einer Sachbearbeiterin im ServiceCenter Zahlungsverkehr zugewiesen. Seit dem 23. Februar 2006 ist die Arbeitszeit auf 30 Stunden, das sind 75 % der tariflichen Arbeitszeit, festgelegt.

Mit Bescheid des Beklagten vom 16. Mai 2018 wurde der Beigeladenen ab dem 13. September 2017 ein Grad der Behinderung von 70 anerkannt und ihr ein unbefristeter Schwerbehindertenausweis ausgestellt.

Am 1. April 2019 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten als Integrationsamt die Zustimmung zur beabsichtigten Kündigung des mit der Beigeladenen bestehenden Arbeitsverhältnisses. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass es seit Januar 2017 bei der Beigeladenen zu wiederholten erheblichen Arbeitsunfähigkeitszeiten gekommen sei. Die Arbeitsunfähigkeit habe im Jahr 2014 171 Tage, im Jahr 2015 42 Tage, im Jahr 2016 144 Tage, im Jahr 2017 45 Tage, im Jahr 2018 94 Tage und im Jahr 2019 bis zum Stand des Schreibens 10 Tage betragen. Die Klägerin wies auf die von ihr mit der Beigeladenen geführten BEM-Gespräche hin. Im Gespräch am 14. September 2018 sei festgehalten worden, dass die Beigeladene die Kriterien zur personenbedingten Kündigung gemäß der zwischen dem Vorstand und dem Personalrat getroffenen Dienstvereinbarung zum betrieblichen Gesundheitsschutz erfülle. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass eine erneute krankheitsbedingte Abwesenheit zur Einleitung der erforderlichen Schritte zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund Unzumutbarkeit führen solle. Eine weitere leidensgerechte Umgestaltung des Arbeitsplatzes der Beigeladenen sei nicht möglich. Ihr könne auch kein anderer Arbeitsplatz zugewiesen werden. Der Klägerin stehe keine Möglichkeit zur Verfügung, die in der Vergangenheit aufgetretenen Arbeitsunfähigkeitszeiten zukünftig zu reduzieren. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass es im Rahmen der arbeitsvertraglichen Beschäftigung auch zukünftig zu Arbeitsunfähigkeitszeiten kommen werde, welche den Rahmen des § 167 Abs. 2 SGB IX deutlich überschritten, woraus sich eine negative Prognose ergebe. Eine Weiterbeschäftigung der Beigeladenen sei weder zu gleichen noch zu veränderten Arbeitsbedingungen möglich. Die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sei aus ihrer Sicht unzumutbar. Der Vorstand habe deshalb beschlossen, das Arbeitsverhältnis vorbehaltlich der Zustimmung des Personalrates sowie des Integrationsamtes unter Einhaltung der tariflichen Kündigungsfrist zu kündigen.

Die Beigeladene erhob unter dem 13. April 2019 Einwände gegen den Antrag der Klägerin. Sie begründete dies damit, durch eine am 20. März 2019 durchgeführte CI-Operation rechts solle sich ihr Hör- und Sprachvermögen vor allem für die Arbeit deutlich verbessern. Die Operation sei gut verlaufen, die Heilung der Narben ebenfalls. Das Hörvermögen werde sich in den kommenden Wochen sicherlich noch weiter stabilisieren und verbessern. Die Versorgung mit einem Sonnet-Audioprozessor werde dazu beitragen. Sie gehe davon aus, dass es sich um einen überschaubaren zeitlichen Rahmen handeln werde. In den vergangenen Monaten habe sie auf AU-Belege verzichtet, da sie Angst um ihre Arbeit gehabt habe. Ihr sei die Betriebsvereinbarung bekannt, aber nach einer CI Operation sei man nicht nach 10 Tagen wieder am Arbeitsplatz. Im Jahre 2018 sei sie auch mit einer Grippe noch relativ lange am Arbeitsplatz gewesen. Die Erkrankungszeiten, die der Vorstand aufgeführt habe, seien nicht auf die gleichen Krankheiten zurückzuführen. Sie seien auch nicht durch gefährliche Sportarten verursacht worden. Sie habe sich 2018 einer Gebärmutteroperation unterziehen müssen. Auch hier sei eine Genesung nicht innerhalb von wenigen Arbeitstagen möglich. Sie sei besonders umsichtig in der Lebensführung, könne aber AU-Zeiten nicht verhindern. Im Übrigen verwies die Beigeladene das Integrationsamt an die behandelnden Ärzte.

Die Schwerbehindertenvertretung der Klägerin erklärte mit undatiertem, beim Beklagten am 17. April 2019 eingegangenem Schreiben, sie sei mit der Kündigung der Beigeladenen nicht einverstanden. Die Beigeladene sei seit vielen Jahren gesundheitlich eingeschränkt und trotzdem sehr bemüht, ihre Aufgaben zur großen Zufriedenheit aller zu erledigen. Sie sei im Jahr 2017 umgesetzt worden, was ihr gesundheitlich zugutegekommen sei, da sie nicht mehr so dem Stress ausgesetzt sei und auch kaum Telefonate erledigen müsse. Sie habe sich gut eingearbeitet, sodass sie die „Leistung“ auch zur Zufriedenheit aller bewältige. Eine Kündigung sei jetzt im Krankenstand kontraproduktiv, da die Operation zur Erhöhung des Hörvermögens und zur verbesserten Leistung der Beigeladenen führen könne. Sie sei seit dem 18. August 2018 bis zum März zur Operation nicht krank gewesen; das bedeute, sie sei über ein halbes Jahr nicht im Krankenstand gewesen.

Der Personalrat der Klägerin teilte mit Schreiben vom 12. April 2019 mit, dass festzustellen sei, dass die Beigeladene über viele Jahre, in denen sie gesundheitlich eingeschränkt sei, mit hoher Motivation im Rahmen ihrer Möglichkeiten versucht habe, zu einem positiven Arbeitsergebnis ihres Dienstbereichs beizutragen. Sie habe auch immer aktiv versucht, ihren Gesundheitszustand zu verbessern und gute Arbeitsergebnisse zu erzielen. Bei der Beigeladenen habe es in den vergangenen Jahren mehrfach längere krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeiten gegeben. Diese Ausfälle hätten im direkten Arbeitsumfeld zum Teil zu Vertretungsproblemen geführt. Im Januar 2017 sei es infolge eines Hörsturzes zu einem BEM-Gespräch gekommen. Ein Folgegespräch habe am 15. Juni 2017 aufgrund eines weiteren Hörsturzes stattgefunden. In der Folge sei das Arbeitsgebiet innerhalb des Dienstbereichs verändert worden. Die Beigeladene habe sich laut Aussage der Abteilungsdirektorin inzwischen gut eingearbeitet und bewältige die Aufgaben dieses Arbeitsplatzes im Rahmen ihrer Möglichkeit zufriedenstellend. Aktuell befinde sie sich aufgrund einer notwendigen Operation erneut im Krankenstand. Da sie aufgrund der Operation in ihrer Hörfähigkeit zeitweilig stark eingeschränkt gewesen sei, sei es dem Personalrat nicht möglich gewesen, mit ihr telefonisch in Kontakt zu treten, um den aktuellen Stand der Gesundheit und die sich daraus ableitende Arbeitsfähigkeit beurteilen zu können. Der Personalrat gehe aber davon aus, dass dem Integrationsamt mehr Fakten bekannt sein könnten, als ihm vorliege. Der Personalrat habe beschlossen, dem Antrag auf Kündigung der Beigeladenen nicht zuzustimmen, um der Bewertung des Integrationsamts nicht vorzugreifen.

Unter dem 7. April 2019 entband die Beigeladene ihre Hausärztin, den HNO-Arzt, die Fachärztin für Frauenheilkunde und die Fachärztin für Orthopädie von der ärztlichen Schweigepflicht.

Der Beklagte wandte sich mit Schreiben vom 20. April 2019 an die jeweiligen Ärzte, fragte nach den Erkrankungen und ob von einer negativen Gesundheitsprognose auszugehen sei. Weiter wurde nachgefragt, ob aus Sicht des jeweiligen Fachgebietes die Tätigkeit einer Sachbearbeiterin im Zahlungsverkehr in Teilzeit uneingeschränkt möglich sei.

Die angeschriebene Fachärztin für Orthopädie Dipl. med. Kathrin Hagedorn übersandte daraufhin einen Befundbericht vom 26. April 2019, dem sie die Kopie eines Patientenfragebogens sowie Befundberichte und Anregungen anderer Ärzte beifügte. Zu der aufgeworfenen Fragestellung finden sich in den Schreiben allerdings keine Ausführungen.

Der Facharzt für HNO-Heilkunde Dr. med. Roman Hirt teilte mit Schreiben vom 6. Mai 2019 mit, seit 2014 hätten rezidivierende Hörstürze auf der rechten und linken Seite zu Arbeitsausfallzeiten geführt. Seit der CI-Versorgung links 2016 seien nur noch Arbeitsausfälle aufgrund von rezidivierenden Hörabfällen rechts zu verzeichnen. Aufgrund der nun erfolgten CI-Versorgung rechts bestehe eine positive Gesundheitsprognose bezüglich der Ohrsymptomatik. Aus HNO-ärztlicher Sicht sei nach abgeschlossener REHA und abgeschlossener Hörrehabilitation die Arbeit als Sachbearbeiterin im Zahlungsverkehr uneingeschränkt möglich.

Die Gynäkologin teilte mit am 10. Mai 2019 eingegangenem Schreiben mit, welche Erkrankung zur Arbeitsunfähigkeit geführt habe und, dass diese operativ behandelt worden sei. Sie gab an, aus gynäkologischer Sicht sei die Patientin in der Lage, ihre beruflichen Aufgaben zu erfüllen.

Der Beklagte führte am 23. Mai 2019 eine Einigungsverhandlung durch. Diese führte zu keiner Einigung. Im Rahmen des Einigungsversuchs erklärte die Klägerin, die von ihm angestellte negative Prognose auf zukünftige Ausfallzeiten leite sich allein aus der Historie her. Ein Betriebsarzt sei für diese Beurteilung nicht eingeschaltet worden. Es wurde zudem festgestellt, dass der Arbeitsplatz der Beigeladenen derzeit mit Leistungen nach § 27 Schwerbehindertenausgleichverordnung gefördert werde.

Der Beklagte entschied mit Bescheid vom 24. Mai 2019, die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung nicht zu erteilen. Zur Begründung führte er aus, die Kündigung der Beigeladenen bedürfe seiner Zustimmung. Die Zustimmungsentscheidung liege gem. § 168 SGB IX im pflichtgemäßen Ermessen. Das Interesse des Arbeitgebers an der Erhaltung seiner betrieblichen Gestaltungsmöglichkeiten sei gegenüber den Interessen des Arbeitnehmers an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes abzuwägen. Umfang und Grenzen dieser Abwägung ergäben sich aus dem Sinn und Zweck des Sozialgesetzbuches SGB IX als Fürsorgegesetz. Das SGB IX gewähre schwerbehinderten Menschen keinen absoluten Kündigungsschutz. Sinn und Zweck sei es aber, schwerbehinderte Menschen vor den durch ihre Schwerbehinderung hervorgerufenen besonderen Arbeitsplatzgefährdungen und der wegen ihrer schwereren Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt beruhenden längeren Arbeitslosigkeit zu bewahren. Daher sei im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, dass bei einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen wegen der erhöhten sozialen Schutzbedürftigkeit ein besonders strenger Maßstab an die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers anzulegen sei. Im vorliegenden Fall habe das Integrationsamt bei der Abwägung der gegenteiligen Interessen dem Interesse der Arbeitnehmerin Vorrang eingeräumt. Hierzu sei das Integrationsamt davon ausgegangen, dass bei personenbedingten Kündigungen, deren Ursache in häufigen Kurzerkrankungen liege, eine sogenannte Negativprognose vorliegen müsse. Das bedeute, der Arbeitgeber müsse nachweisen, dass die Erkrankungen des Arbeitnehmers nicht nur in der Vergangenheit zu erheblichen Ausfallzeiten geführt haben, sondern, dass er auch in der Zukunft entsprechend häufig krank sein werde und damit die Befähigung zur Erbringung der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung verloren habe. Maßgeblich hierfür sei die Situation im Zeitpunkt der Kündigung. Im vorliegenden Falle hätten die von der Arbeitgeberin seit 2013 dokumentierten Krankheitsausfallzeiten verschiedene Ursachen, was ihr auch bekannt sei. Das ergebe sich auch aus den erbrachten Lohnfortzahlungen. Längere Ausfallzeiten resultierten insbesondere aus einer Unterleibsoperation ohne Anschlussdiagnose und weitere Behandlungsnotwendigkeit und den beiden Operationen zur CochleaImplantat-Versorgung (2016 links, 2019 rechts) und den vor diesen Operationen aufgetretenen Hörstürzen. Ziel dieser Operationen sei es, diese Problematik zu beseitigen und das Hörvermögen der Beigeladenen zu verbessern. Auf der Grundlage der eingeholten fachärztlichen Stellungnahmen, insbesondere des HNO-Arztes, sei aktuell von einer positiven gesundheitlichen Prognose auszugehen. Neben den von der Beigeladenen angegebenen Terminen zur HNO-ärztlichen Nachsorge sei nicht erkennbar, dass es infolge der bekannten Erkrankungen zu weiteren Arbeitsausfallzeiten kommen werde. Das Integrationsamt habe bei der Interessenabwägung die betrieblichen und wirtschaftlichen Interessen der Klägerin in Form von Störungen der Arbeitsorganisation und Lohnfortzahlungsleistungen berücksichtigt. Dem stünden jedoch die Interessen der Beigeladenen an der Erhaltung ihres Arbeitsplatzes entgegen. Die Beigeladene sei seit 25 Jahren bei der Arbeitgeberin beschäftigt. Neben dieser langjährigen Dauer der Betriebszugehörigkeit seien das Alter der Beigeladenen sowie die Art und Schwere der Behinderung bei der Entscheidung über den Zustimmungsantrag maßgeblich berücksichtigt worden.

Die Klägerin erhob am 4. Juni 2019 Widerspruch. Zur Begründung führte sie aus, die Entscheidung stütze sich auf Unterlagen, welche ihr nicht vorlägen. Der Inhalt der ablehnenden Entscheidung sei bereits vor der Zustellung an die Beteiligten gegenüber der Vorsitzenden einer Einigungsstelle, der Direktorin des Arbeitsgerichts Dessau-Roßlau, bekanntgegeben worden. Das sei ein Verstoß gegen elementare Verfahrensgrundsätze und den Datenschutz. In der Sache stütze das Integrationsamt seine Entscheidung ausschließlich auf die Feststellung einer positiven Gesundheitsprognose für die Beigeladene. Diese werde aus der fachärztlichen Stellungnahme des behandelnden HNO Arztes abgeleitet. Diese Feststellung beruhe auf unvollständiger Sachverhaltsaufklärung und –würdigung. Sie sei rechts- und ermessensfehlerhaft. Das Integrationsamt habe zu beachten, dass der Schwerbehindertenschutz den Arbeitgeber in seinen Gestaltungsmöglichkeiten einenge, jedoch nicht bezwecke, den einzelnen schwerbehinderten Arbeitnehmer praktisch unkündbar zu stellen. Gegenstand des Schwerbehindertenrechts sei es, Schwerbehinderte wegen ihrer Schwerbehinderung zu schützen; es sei dagegen nicht Aufgabe des Integrationsamts, den allgemeinen Kündigungsschutz zu beurteilen. Die verfahrensgegenständlichen Arbeitsunfähigkeitszeiten beruhten nicht auf denselben Erkrankungen. Ein Zusammenhang zwischen den diversen Kurzerkrankungen habe nicht festgestellt werden können. Deshalb habe die Lohnzahlungspflicht des Arbeitgebers weit über den Rahmen des § 3 Entgeltfortzahlungsgesetz hinaus fortbestanden. Insgesamt werde daraus deutlich, dass die Hörbehinderung nur zum Teil als Ursache für die erheblichen und wiederholten Arbeitsausfälle heranzuziehen gewesen sei. Tatsächlich seien nur die beiden Operationen zur Cochlea-Implantat-Versorgung in den Jahren 2016 sowie 2019 sowie ein Hörsturz in 2016 und 2017 unmittelbar der Schwerbehinderung zuzuordnen. Hingehen stehe der überwiegende Teil der wiederholten Erkrankungen der Beigeladenen in keinerlei Zusammenhang mit der Hörbehinderung. Selbst wenn man die Operations- und Arbeitsunfähigkeitszeiten unberücksichtigt lasse, verbleibe es bei einer durchschnittlichen jährlichen Arbeitsunfähigkeit, welche deutlich und erheblich über den Rahmen des § 3 Entgeltfortzahlungsgesetz hinaus gehe. Deshalb sei vorliegend der besondere Kündigungsschutz des Schwerbehindertenrechts nach §§ 168 ff. SGB IX offensichtlich nicht betroffen.

Die Beigeladene nahm im Widerspruchsverfahren Stellung und trat den Ausführungen der Klägerin entgegen.

Mit Bescheid vom 8. Januar 2020 wurde der Grad der Behinderung ab dem 11. Juni 2019 auf 80 festgestellt. Dieser Bescheid stützte sich auf folgende Funktionsbeeinträchtigungen: Hörbehinderung, Cochlea-Implantat beiderseits, Gleichgewichtsstörungen und verminderte physio-psychische Belastbarkeit nach Entfernung eines Ependymoms und bei wiederkehrenden Störungen des Gleichgewichtsorgans sowie einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule.

Der Beklagte wies den Widerspruch aufgrund der Sitzung des Widerspruchsausschusses am 26. Februar 2020 mit Widerspruchsbescheid vom 13. Mai 2020 zurück. Der Widerspruch sei zulässig. Es sei eine Sachentscheidung zu treffen gewesen. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen bedürfe gem. § 168 SGB IX der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Diese Entscheidung treffe das Integrationsamt aufgrund des ihm eingeräumten Ermessens. Eine Ermessenseinschränkung im Sinne der §§ 172, 174 SGB IX liege bei den hier zu entscheidenden Sachverhaltsumständen nicht vor. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei das Ermessen in der Weise auszuüben, dass das Interesse des Arbeitgebers an der wirtschaftlichen Nutzung der vorhandenen Arbeitsplätze gegen das Interesse des schwerbehinderten Menschen am Erhalt seines Arbeitsplatzes abzuwägen sei. Dabei sei zu beachten, dass das Schwerbehindertenrecht ein Fürsorgegesetz sei, das in erster Linie die Nachteile des schwerbehinderten Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgleichen und seine Rehabilitation anstreben wolle. Der schwerbehinderte Mensch solle gegenüber dem gesunden nicht ins Hintertreffen geraten. Auf der anderen Seite müsse jedoch versucht werden, möglichst viel von der Gestaltungsfreiheit des Betriebsinhabers, dem die Verantwortung für die Existenz und die wirtschaftliche Arbeitsweise des Betriebs obliege, zu erhalten. Zwar enge der Schwerbehindertenschutz den Arbeitgeber in seinen Gestaltungsmöglichkeiten ein, jedoch dürfe diese Freiheit nicht so weit eingeschränkt werden, dass sie ausgehöhlt werde. Der Kündigungsschutz bezwecke deshalb nicht, den schwerbehinderten Menschen praktisch unkündbar zu machen. Aus diesem Grunde brauche sich ein Arbeitgeber auch nicht mit „Hilfsarbeit“ zufriedengeben und er müsse auch nicht eigens für den schwerbehinderten Menschen einen neuen Arbeitsplatz schaffen. Zuzumuten sei ihm jedoch, einen schwerbehinderten Menschen nach Möglichkeit umzusetzen, das heiße ihm im Rahmen der vorhandenen Arbeitsplätze einen geeigneten zuzuweisen. Das Ergebnis der Abwägung bestimme die Grenzen dessen, was zur Verwirklichung der dem schwerbehinderten Menschen gebührenden weitgehenden Fürsorge dem Arbeitgeber zugemutet werden dürfe. Bei dieser Abwägung müsse das Integrationsamt berücksichtigen, ob und inwieweit die Kündigung die besondere, durch sein körperliches Leiden bedingte Stellung des einzelnen schwerbehinderten Menschen im Wirtschaftsleben berühre. Dagegen sei es grundsätzlich nicht Aufgabe des Integrationsamtes, bei seiner Entscheidung die allgemeinen sozialen Interessen der einzelnen schwerbehinderten Menschen als Arbeitnehmer zu wahren. Der besondere Schutz des § 168 SGB IX sei dem schwerbehinderten Menschen nämlich zusätzlich zum allgemein arbeitsrechtlichen Schutz gegeben. Das bedeute, der schwerbehinderte Mensch könne, auch wenn das Integrationsamt der Kündigung zugestimmt habe, noch den Schutz des Kündigungsschutzgesetzes in Anspruch nehmen. Er könne eine arbeitsgerichtliche Nachprüfung herbeiführen, ob die Kündigung sozial gerechtfertigt im Sinne des Kündigungsschutzgesetzes sei. Deshalb habe das Integrationsamt nicht über die Frage der Sozialwidrigkeit zu befinden. Bei der Entscheidung könnten nur Erwägungen eine Rolle spielen, die sich speziell aus der Schwerbehindertenfürsorge herleiten ließen. Rechtfertigten solche Erwägungen eine Versagung der Zustimmung nicht, so habe die behördliche Zustimmung dem Kündigenden diejenige Rechtsstellung zurückzugeben, die er hätte, wenn es keinen besonderen Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen gäbe. Der schwerbehinderte Mensch solle vor den Gefahren, denen er wegen seiner Behinderung ausgesetzt sei, bewahrt werden. Es solle sichergestellt werden, dass er gegenüber gesunden Menschen nicht benachteiligt werde. Besonders hohe Anforderungen an die Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung beim Arbeitgeber seien im Rahmen der Interessenabwägung dann zu stellen, wenn die Kündigung auf Gründen beruhe, die in der Behinderung ihre Ursache haben; entsprechend geringer sei der Schutz, je weniger ein Zusammenhang zwischen Kündigungsgrund und Behinderung feststellbar sei. Für den Widerspruchsausschuss ergebe sich kein Anhaltspunkt, der Rechtsauffassung der Klägerin zu folgen, dass kein Zusammenhang zwischen der anerkannten Behinderung der Beigeladenen und dem Kündigungsgrund bestehe. Die Kausalität des Kündigungsgrundes beziehe sich maßgeblich auf die bei der Beteiligten anerkannten Behinderungen. Diese bestünden hauptsächlich in der Hörbehinderung und Gleichgewichtsstörung. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts müsse sich der Bezug zu anerkannten Behinderungen zwangslos ergeben. Ein entfernterer Zusammenhang genüge nicht. Es sei keine Mutmaßung, dass die Beigeladene mit Erkältungskrankheiten besonders sorgsam umgehe, was sich in der Zahl der Tage einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit wiederspiegle. Es sei erforderlich gewesen, im HNO-Bereich beständige Verhältnisse zu schaffen. Das bedinge längere Arbeitsunfähigkeiten im Vergleich zu Personen ohne Hörbeeinträchtigungen. Bei krankheitsbedingten Kündigungsgründen sei die Zukunftsprognose auch vom Integrationsamt anhand der arbeitsrechtlichen 3-Stufen-Lehre durchzuführen. Zunächst sei eine Prognose hinsichtlich des zukünftigen Gesundheits- und Krankheitsverlaufs erforderlich. Maßgeblich bei der Betrachtung und bei der Gesundheitsprognose sei nicht der Zeitpunkt der Ausgangsentscheidung. Zunächst sei davon auszugehen, dass die von der Klägerin aufgezeigten häufigen Kurzerkrankungen in der Vergangenheit auf eine bestehende negative Gesundheitsprognose hinweisen und diese indizieren. Dem stünden die eingeholten ärztlichen Stellungnahmen entgegen. Die orthopädische Stellungnahme spreche nicht von einer gravierenden Erkrankung der HWS und des rechten Schultergelenks. Infolge dessen seien Arbeitsunfähigkeitszeiten aus orthopädischer Sicht zukünftig nicht zu erwarten. Ein gleiches Bild zeichne die gynäkologische Stellungnahme. Dies decke sich mit der Aussage der Beigeladenen, wonach nach Abschluss eines operativen Eingriffs mit längerer Arbeitsunfähigkeit keine Anschlussdiagnose oder Weiterbehandlungsnotwendigkeit bestehe. Ausdrücklich werde eine positive Gesundheitsprognose im HNO-Bereich erteilt. Es sei zwar richtig, dass der Rehabilitationszeitraum relativ weit in die Zukunft reiche. Der in der Rechtsprechung anerkannte Prognosezeitraum von 2 Jahren werde aber nicht überschritten. Außerdem sei der mit der Anpassung der CI-Implantate verbundene Rehabilitationsumfang sehr gering und aktuell von 20 auf 15 Tage verkürzt. Zudem beabsichtige die Beigeladene eine Abdeckung mit Urlaub. Eine allgemeinärztliche Stellungnahme zur Beurteilung der Gesundheitsprognose liege nicht vor. Darauf komme es aber nicht mehr an, denn die Beigeladene sei zu nicht unerheblichen Teilen in Bezug auf ihre Arbeitsunfähigkeitszeiten in fachärztlicher Behandlung. Insgesamt bestehe bei der Beigeladenen eine positive Gesundheitsprognose für die nächsten 2 Jahre. In der 2. Stufe sei vom Widerspruchsausschuss abzuklären gewesen, inwieweit die bisherigen und die nach der Prognose zu erwartenden Auswirkungen zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen bei der Klägerin führten. Es sei nachvollziehbar, dass es in der Vergangenheit zu erheblichen Beeinträchtigungen gekommen sei. Mit der gegenwärtigen gesundheitlichen Entwicklung seien wirtschaftliche Belastungen durch Entgeltfortzahlungen im überdurchschnittlichen Umfang vor dem Hintergrund der positiven Gesundheitsprognose nicht mehr zu erwarten. Darüber hinaus erhalte die Klägerin Leistungen der Ausgleichsabgabe im Rahmen der begleitenden Hilfe im Arbeitsleben zum Ausgleich außergewöhnlicher Belastungen als Beschäftigungssicherungszuschuss und als personelle Unterstützung. In der 3. Stufe der Interessenabwägung sei zu prüfen, ob die betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinnehmbaren Belastung des Arbeitgebers führten. Die Abwägungen der wechselseitigen Interessen fielen zu Lasten der Klägerin aus. Die in der Vergangenheit bestehenden Belastungen seien jetzt entfallen. Daran ändere auch nichts der Fakt, dass die durchgeführte Prävention mit dem BEM Verfahren in erheblichen zeitlichem Umfang vorbildlich geführt worden sei. Die anzuerkennenden Bemühungen der Klägerin, das Arbeitsverhältnis in geeigneter Weise fortzusetzen, resultierten nicht zuletzt aus dem langjährig bestehenden Arbeitsverhältnis mit einer Dauer von nunmehr mehr als 26 Jahren. Der Klägerin sei es zuzumuten, das Präventionsverfahren und auch das Arbeitsverhältnis zukünftig fortzusetzen. Der vorliegende Gesundheitszustand bedürfe nicht der Fortführung des BEM-Verfahrens. Der Widerspruchsbescheid wurde der Klägerin am 15. Mai 2020 mittels Einschreiben zugestellt.

Am 15. Juni 2020 hat die Klägerin beim erkennenden Gericht Klage erhoben. Sie trägt im Wesentlichen vor, der Beklagte habe den Schutzzweck und die Grenzen des besonderen Kündigungsschutzes nach §§ 168 ff. SGB IX verkannt und damit die Klägerin in ihrem Grundrecht auf Ausübung des eingerichteten Gewerbebetriebes sowie ihrer unternehmerischen Freiheit verletzt. In der Sache stütze das Integrationsamt seine Entscheidung auf die Feststellung einer positiven Gesundheitsprognose für die Beigeladene. Diese werde wiederum aus der fachärztlichen Stellungnahme des behandelnden HNO-Arztes abgeleitet. Diese Feststellung beruhe auf unvollständiger Sachverhaltsaufklärung und sei rechts- und ermessensfehlerhaft. Es sei Aufgabe des Schwerbehindertenrechts, Schwerbehinderte vor Benachteiligung wegen ihrer Schwerbehinderung zu schützen, nicht jedoch, den allgemeinen Kündigungsschutz vorweg zu nehmen. Stünden die Gründe, die zur Lösung des Arbeitsverhältnisses führen sollen, unmittelbar oder mittelbar mit der Behinderung in Zusammenhang, sei der Schutz durch das Schwerbehindertenrecht soweit wie möglich zur Geltung zu bringen. Bestehe der Ursachenzusammenhang nicht, verliere der besondere Kündigungsschutz an Intensität und Bedeutung. Die Schwerbehinderung der Beigeladenen sei maßgeblich durch die Hörbehinderung bedingt. Die Arbeitsunfähigkeitszeiten der Beigeladenen seien aber nicht auf dieselben Erkrankungen zurückzuführen. Das führe dazu, dass ein Zusammenhang zwischen diversen Kurzerkrankungen nicht habe festgestellt werden können. Das habe auch die Lohnzahlungspflicht des Arbeitgebers weit über den Rahmen des § 3 Entgeltfortzahlungsgesetz hinaus gefordert. Die erheblichen und wiederholten Arbeitsausfälle seien nur teilweise der Schwerbehinderung zuzuordnen; der überwiegende Teil stehe in keinerlei Zusammenhang mit der Hörbehinderung. Deshalb könne eine Benachteiligung der Beigeladenen wegen ihrer Schwerbehinderung ausgeschlossen werden. Die vom Integrationsamt getroffene Feststellung einer positiven Gesundheitsprognose sei nicht Gegenstand des besonderen Kündigungsschutzes zugunsten schwerbehinderter Menschen, sondern Gegenstand des allgemeinen Kündigungsschutzes im Rahmen des § 1 Kündigungsschutzgesetz und unterliege der Überprüfung durch die zuständigen Arbeitsgerichte. Die positive Gesundheitsprognose im Zusammenhang mit der Hörbehinderung lasse keine Beurteilung des gesamten Kündigungssachverhaltes zu. Bei einer prognostizierten mindestens zweijährigen REHA Maßnahme mit regelmäßigen Arzt- und Therapieterminen sei wohl kaum von einer positiven Gesundheitsprognose auszugehen. Das Integrationsamt habe auch keine hinreichende Interessenabwägung vorgenommen. Es sei nicht erkennbar, ob und welche Interessen der Klägerin berücksichtigt worden seien. Die Erwähnung von abstrakten Störungen der Arbeitsorganisation und Lohnfortzahlungslasten genüge nicht. Konkrete Feststellungen zu der erheblichen Mehrbelastung anderer Mitarbeiter wegen fehlender Planungssicherheit und Krankheitsvertretungen fänden sich nicht, genau so wenig wie Angaben zur konkreten finanziellen Belastung der Arbeitgeberin. Die in der Vergangenheit vorgenommenen arbeitsorganisatorischen und arbeitstechnischen Veränderungen zum Erhalt des Arbeitsplatzes blieben unerwähnt. Gleiches gelte für die Tatsache, dass die erheblichen Anstrengungen zu keinerlei Verbesserung des Gesundheitszustandes und zu keiner Verringerung der krankheitsbedingten Ausfallzeiten geführt hätten. Auch die Prognose einer Wiederaufnahme der Tätigkeit zum 3. Juni 2019 sei unzutreffend. Ihr liege eine AU Bescheinigung bis Mitte Juni 2019 vor. Unberücksichtigt geblieben sei auch, dass im Rahmen des BEMProzesses festgestellt worden sei, dass keinerlei betriebsbedingte Krankheitsursachen vorlägen und auch keine weiteren betrieblichen Maßnahmen zur Verbesserung des Gesundheitszustandes möglich seien. Diese Fehler seien durch den Widerspruchsbescheid nicht ausgeräumt worden. Im Widerspruchsverfahren sei den wiederholt vorgetragenen Einwänden nicht Rechnung getragen worden. Der Beklagte habe sich den bestrittenen und unsubstantiierten Behauptungen der Beigeladenen angeschlossen. Der Zusammenhang zwischen den anderen Arbeitsunfähigkeitszeiten und der Behinderung werde von dem Beklagten ohne eigene fachliche Expertise und ohne jede erkennbare Grundlage festgestellt. Der Beklagte habe es auch unter Berücksichtigung der eingeholten medizinischen Unterlagen unterlassen, Feststellungen zu treffen, welchen Umfang die zukünftig noch zu erwartenden Krankheitsausfälle der Beigeladenen annehmen würden.

Des Weiteren macht die Klägerin Verfahrensfehler bei dem Erlass des Widerspruchsbescheides geltend, insbesondere sei die Entscheidung entgegen der eigenen Verfahrensverordnung um mindestens 4 Monate verzögert worden.

In der mündlichen Verhandlung ergänzt die Klägerin, in der Zwischenzeit habe sich ihre Prognose bestätigt; die Ausfallzeiten der Beigeladenen seien weiterhin extrem hoch.


Die Klägerin beantragt,

den Beklagten zu verpflichten, die mit Antrag vom 28. März 2019 beantragte Zustimmung zur ordentlichen personenbedingten Kündigung der Beigeladenen zu erteilen und den Bescheid des Beklagten vom 24. Mai 2019 und dessen Widerspruchsbescheid vom 13. Mai 2020 aufzuheben.


Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verteidigt den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid. Verfahrensfehler bei dem Erlass des Widerspruchsbescheides seien nicht begangen worden. Die geltend gemachte Verzögerung habe keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit des Bescheides.

Er trägt weiter vor, aus den aktenkundigen Arbeitsunfähigkeitszeiten und den sich ebenfalls aus den Akten ergebenden Operationsterminen lasse sich ohne weiteres ein Zusammenhang ableiten. Deshalb habe es weiterer Ermittlungen im Verwaltungsverfahren nicht bedurft.

Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage sei der Erlass des Widerspruchsbescheides. Die weitere Entwicklung der Krankheitssituation bei der Beigeladenen sei nicht von Belang.

Die Beigeladene verteidigt den Bescheid ebenfalls. Sie schließt sich den Ausführungen des Beklagten an. Allerdings sei in der Zwischenzeit eine neue dauerhafte Erkrankung hinzugekommen, aufgrund derer sie schon seit längerem arbeitsunfähig sei. Mit einer Gesundung sei auch längerfristig nicht zu rechnen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfange begründet.

Der Bescheid des Beklagten vom 24. Mai 2019 und dessen Widerspruchsbescheid vom 13. Mai 2020 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten, die Zustimmung zur Kündigung zu erteilen; die Sache ist noch nicht spruchreif.

Sie verfügt aber über einen Anspruch auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).

Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen (§ 2 Abs. 2 des Neunten Buch Sozialgesetzbuch vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234), zuletzt geändert durch Gesetz vom 14. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2789) - SGB IX -) bedarf gemäß § 168 SGB IX der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes, was auch die Klägerin nicht in Abrede stellt.

Die Entscheidung über die Zustimmung zur Kündigung oder deren Versagung (§ 171 Abs. 1 SGB IX) liegt im Ermessen des Integrationsamtes. Das ergibt sich einerseits aus der amtlichen Überschrift des § 172 SGB IX, andererseits aus der langjährigen Rechtsprechung zu der Vorgängervorschrift des § 85 SGB IX a.F., auch wenn im Kern eine Abwägungsentscheidung zwischen den betroffenen Interessen, den Interessen des schwerbehinderten Menschen am Erhalt seines Arbeitsplatzes und den Interessen des Arbeitgebers, zu treffen ist.

Die Entscheidung selbst ist an Sinn und Zweck des Sonderkündigungsschutzes für schwerbehinderte Menschen auszurichten. Danach ist das Interesse des schwerbehinderten Arbeitnehmers, seinen Arbeitsplatz zu behalten, mit dem Interesse des Arbeitgebers an der Erhaltung seiner Gestaltungsmöglichkeiten abzuwägen (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Oktober 1995 - 5 C 24.93 - juris Rn. 13). Hierbei ist dem Fürsorgegedanken des Gesetzes Rechnung zu tragen, das die Nachteile schwerbehinderter Arbeitnehmer auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgleichen will und dafür in Kauf nimmt, dass die Gestaltungsfreiheit des Arbeitgebers eingeengt wird. Besonders hohe Anforderungen an die Zumutbarkeit beim Arbeitgeber sind im Rahmen der Abwägung der gegensätzlichen Interessen dann zu stellen, wenn die Kündigung auf Gründen beruht, die in der Behinderung selbst ihre Ursache haben. Entsprechend ist der Schutz umso geringer, je weniger ein Zusammenhang zwischen Kündigungsgrund und Behinderung feststellbar ist. Andererseits ist auch die unternehmerische Gestaltungsfreiheit des Arbeitgebers mit dem ihr zukommenden Gewicht in die Abwägung einzustellen.

Die Kammer schließt sich aus Gründen der Rechtssicherheit der Auffassung an, dass es bei einer Verpflichtungsklage des Arbeitgebers auf Zustimmung zur Kündigung für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblich auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung ankommt. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in einem Zulassungsbeschluss (BVerwG, Beschluss vom 22. Januar 1993 - 5 B 80.92 - juris, Rn. 2 zu § 15 SchwerbG 1986) entschieden. Das ist in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte auch so übernommen und auf die Regelungen des SGB IX übertragen worden (vgl. VG Magdeburg, Urteil vom 28. April 2015 - 6 A 30/15 MD - juris Rn. 17; VG München, Urteil vom 9. Oktober 2020 - M 15 K 19.4028 - juris Rn. 31). Das ist jedenfalls in Fällen, in denen sich - wie hier - die Rechtslage nicht geändert hat, damit zu rechtfertigen, dass der Beklagte in seine Ermessensentscheidung nur die Gesichtspunkte einstellen kann, die ihm zu diesem Zeitpunkt bekannt waren. Entwicklungen nach dem Erlass des Bescheides können nicht relevant werden. Der Beklagte muss seinen Bescheid nicht unter Kontrolle halten, auch nicht, wenn er sich im Klageverfahren befindet. Aus der Norm selbst lässt sich eine dementsprechende Forderung nicht ableiten; das Verfahrensrecht spricht eindeutig dagegen. Einerseits wird die Widerspruchsentscheidung durch einen nur zeitweise zusammentretenden Widerspruchsausschuss getroffen. Andererseits kann der Arbeitgeber neue Entwicklungen jederzeit zum Anlass nehmen, einen neuen Antrag auf Zustimmung zur Kündigung zu stellen.

Anders dürfte es nur sein, wenn das Gericht beabsichtigen sollte, die Behörde zur Erteilung einer Zustimmung zu verpflichten, die aufgrund einer Gesetzesänderung zum Entscheidungszeitpunkt nicht mehr erteilt werden dürfte. So liegt der Fall hier aber nicht.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung auch maßgeblich ist, wenn die Behörde aufgrund eines Bescheidungsurteils eine neue Ermessensentscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu treffen hat. Der für die Behörde maßgebliche Zeitpunkt ist dann von dem der gerichtlichen Entscheidung abweichend.

Der Bescheid des Beklagten vom 24. Mai 2019 und dessen Widerspruchsbescheid vom 13. Mai 2020 leidet an einem gem. § 114 Satz 1 VwGO als Rechtsfehler zu wertenden Ermessensfehler. In diesem Rahmen obliegt es gerichtlicher Überprüfung, ob das Integrationsamt den seiner Ermessensentscheidung zugrunde gelegten Sachverhalt zutreffend ermittelt und dabei seiner Pflicht zur Amtsaufklärung aus § 20 SGB IX genügt hat. Dabei hat das Integrationsamt anknüpfend an den Antrag des Arbeitgebers auf Zustimmung zur Kündigung all das zu ermitteln, was erforderlich ist, um die Interessen des Arbeitgebers und des Schwerbehindertenarbeitnehmers gegeneinander abwägen zu können (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.10.1995 – 5 C 24.93 – juris Rn. 15).

Die Aufklärung des Integrationsamtes erweist sich als defizitär. Das Integrationsamt hat zwar die behandelnden Ärzte der Beigeladenen angeschrieben. Die nur teilweise eingegangenen Antworten genügen aber nicht. Aus diesen lässt sich kein vollständiges Bilddes Gesundheitszustandes der Beigeladenen erstellen und auch keine belastbare Prognose der zukünftigen Entwicklung der krankheitsbedingten Ausfälle treffen.

Es fehlt bereits an einer Feststellung, welche der Arbeitsunfähigkeitszeiten welcher Erkrankung zuzuordnen sind. Im Bescheid finden sich dazu keine Ausführungen; eine dementsprechende Kenntnis des Widerspruchsausschusses ist nicht belegt. Soweit der Beklagte in der mündlichen Verhandlung zwischen sich der Akte entnehmbaren Operationsterminen und den danach aufgetretenen Arbeitsunfähigkeitszeiten einen Zusammenhang herstellen will, führt das nicht weiter. Schon bei der Frage des Zusammenhangs begibt sich der Beklagte auf das Gebiet der Spekulation. Zwar ist es naheliegend, dass eine Arbeitsunfähigkeit unmittelbar nach einer Operation auf diese zurückzuführen ist. Das ist aber für längere Zeiträume nicht zwangsläufig. So gibt es jedenfalls keinen Erfahrungssatz, dass eine neue Erkrankung sich nicht unmittelbar an die operationsbedingte Arbeitsunfähigkeit anschließen kann. Es bleibt auch offen, ob damit die Sicht des Widerspruchsausschusses wiedergegeben wird.

Ohne die Zuordnung der umfangreichen Arbeitsunfähigkeitszeiten zu den einzelnen Erkrankungen lässt sich nicht feststellen, welche auf ausgeheilte Erkrankungen zurückgehen. Nur die Kenntnis dieser Umstände und des aktuellen Gesundheitszustandes kann Grundlage dafür sein, ob eine negative Prognose, das heißt eine Prognose zukünftiger erheblicher Ausfallzeiten zu treffen ist.

Die Zuordnung der Arbeitsunfähigkeitszeiten ist auch Grundlage für den dem Beklagten zugewiesenen Behindertenschutz. In diesem Zusammenhang sind Erkrankungen, die mit der Behinderung in Zusammenhang stehen, anders zu betrachten und in die zu treffende Abwägung einzustellen als sonstige Erkrankungen. Der Beklagte nimmt an, dass die – wie oben gezeigt im Umfang nicht festgestellten - Arbeitsunfähigkeitszeiten aufgrund von Hörstürzen und der Implantationen von zwei Cochlea-Implantaten behinderungsbedingt sind. Dem vermag die Kammer nur hinsichtlich der Implantate zu folgen. Bei den Hörstürzen nimmt der Beklagte für sich medizinische Sachkunde in Anspruch, die sich aus den Verwaltungsvorgängen nicht entnehmen lässt, zumal gerichtsbekannt ein Hörsturz in der Regel idiopathisch auftritt. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Schwerbehinderung ausweislich des Bescheides maßgeblich auf eine Hörbehinderung, Cochlea-Implantat beiderseits und Gleichgewichtsstörungen zurückzuführen ist. Denn dann würde Ursache und Wirkung verkannt. Ein Hörsturz ist ein plötzlicher Hörverlust und führt dann, wenn keine (spontane) Heilung erfolgt, zur Hörbehinderung. Mit anderen Worten, ein Hörsturz kann eine Ursache für eine Hörbehinderung sein, aber nicht die Hörbehinderung die Ursache des Hörsturzes. Ein Zusammenhang wäre anzunehmen, wenn die Hörbehinderung und die danach aufgetretenen Hörstürze eine gemeinsame Ursache hätten. Das ist bisher aber nicht festgestellt.

Soweit der Beklagte weiter annimmt, auch andere Erkrankungen des HNO-Bereichs seien behinderungsbedingt, ist ebenfalls nicht ersichtlich, woher er den hierfür erforderlichen medizinischen Sachverstand nimmt. Es ist zumindest nicht allgemein kundig, dass ein Zusammenhang zwischen Schwerhörigkeit und der Anfälligkeit für Erkältungskrankheiten im HNO-Bereich besteht. Auf Besonderheiten der Beigeladenen wird nicht eingegangen.

Aus den bisherigen Krankheitsfällen kann auch nicht – wie das sowohl das Integrationsamt als auch die Klägerin machen – eine negative Prognose abgeleitet werden oder angenommen werden, dass eine solche indiziert sei. Auch das ist eine Vermutung, die sich auf keine medizinische Sachkunde oder einen medizinisch festgestellten Sachverhalt stützen kann. Lässt sich nämlich die Arbeitsunfähigkeit auf Erkrankungen zurückführen, die entweder ausgeheilt sind oder bei denen aufgrund der Art der Behandlung ein Rezidivausgeschlossen ist, ist die Betrachtung der Vergangenheit für die Prognose unerheblich. Feststellbar ist nach Aktenlage hier nur, dass sich die Erkrankung aus dem gynäkologischen Formenkreis aufgrund der Behandlung in der Zukunft nicht wiederholen kann. Dasselbe gilt bei dem Cochlea-Implantat, auch wenn bei einem Ausfall des Implantats dessen Ersatz nötig werden kann. Bei den übrigen Erkrankungen fehlt es an jeder Feststellung.

Das Integrationsamt hat weiter nicht aufgeklärt, welche innerbetrieblichen Schwierigkeiten durch die Krankheitsausfälle der Beigeladenen aufgetreten sind und welche bei zukünftigen Ausfällen zu erwarten sind. Ebenfalls nicht aufgeklärt wurde, welche finanziellen Aufwendungen für die Klägerin zusätzlich entstanden sind, wenn man den Ausgleich aus der Schwerbehindertenabgabe in Abzug bringt. Hier hat zwar die Klägerin eine Mitwirkungspflicht, denn das sind Umstände, die in ihrem Bereich aufgetreten sind. Diese Mitwirkungshandlungen sind von dem Beklagten aber nicht eingefordert worden.

Der Beklagte wird die erforderlichen Ermittlungen nachzuholen haben. Dabei darf er die Entwicklung in der Zwischenzeit aber nicht ausblenden, sondern hat er eine neue Entscheidung mit einem neuen maßgeblichen Zeitpunkt zu treffen.

Im Übrigen kann die Klage keinen Erfolg haben. Das Gericht kann die Ermessensentscheidung des Beklagten nicht ersetzen. Dem steht schon entgegen, dass sich – wie bereits ausgeführt – die Entscheidung des Gerichts auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung bezieht, wohingegen für die neue Entscheidung der Behörde auf den in der Zukunft liegenden Entscheidungstag abzustellen sein wird.

Die Kostentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nach § 188 Satz 2 VwGO nicht erhoben.

Referenznummer:

R/R9709


Informationsstand: 18.04.2024