Urteil
Benachteiligung eines schwerbehinderten Menschen im Bewerbungsverfahren - Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG

Gericht:

ArbG München 12. Kammer


Aktenzeichen:

12 Ca 6331/19


Urteil vom:

23.01.2020


Grundlage:

Tenor:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2.000,00 Euro als Entschädigung zu bezahlen.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3. Der Streitwert wird auf 5.596,00 Euro festgesetzt.

4. Von den Kosten trägt die Beklagte 36 %, der Kläger 64 %.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG.

Die Beklagte ist ein Unternehmen mit weit mehr als 20 Mitarbeitern und Arbeitsplätzen i.S.v. § 156 SGB IX. Ihre Beschäftigungspflicht i.S.v. § 154 SGB IX erfüllt sie nicht.

Der Kläger wurde am TT.MM.JJJJ geboren, hat eine Ausbildung zum Fernmeldeinstallateur/Fernmeldeelektroniker abgeschlossen und ist mit einem GdB von X von Schwerbehinderung betroffen. In einem früheren Arbeitsverhältnis war er Mitglied des Betriebsrats und Schwerbehindertenvertreter und beschäftigte sich seit langer Zeit mit dem Schwerbehindertenrecht. Er ist nicht arbeitssuchend gemeldet.

Am 29.10.2018 schrieb die Beklagte intern die Position eines Produktionsmitarbeiters in W. aus (Anlage B1 = Bl. 63 d.A.), wobei sie als Qualifikation ("required qualifications and experience") u.a. eine abgeschlossene mechanische/technische Ausbildung forderte.

Als Bewerbungsschluss ("closing date") war der 19.11.2018 angegeben. Die ausgeschriebene Stelle wurde bei der Bundesagentur für Arbeit unter dem dort eingerichteten Arbeitgeber-Account in der Online-Jobbörse eingegeben. Es wurde auch ein Vermittlungsauftrag durch die Beklagte gegenüber der Bundesagentur für Arbeit erteilt.

Mit interner Ausschreibung vom 11.12.2018 (Anlage B2= Bl. 64 d.A.) suchte die Beklagte einen Produktionsmitarbeiter (m/W) für ihren Standort W., und zwar ohne die Anforderung einer abgeschlossenen Berufsausbildung. Als Bewerbungsschluss war der 24.12.2018 angegeben.
Auf diese Ausschreibung bewarb sich der Kläger per E-Mail vom 20.12.2018, wobei er auf seine Behinderung hinwies. Er erhielt am selben Tag eine automatische Antwort, nach die in der Ausschreibung benannte Ansprechperson, Frau S., bis 07.01.2019 nicht am Arbeitsplatz sein würde (Anlagen K1 und K2 = Bl. 14 ff. d.A.). Am 21.12.2018 leitete der Kläger seine Bewerbung an die im Betrieb W. der Beklagten gewählte Vertrauensperson der schwerbehinderten und gleichgestellten Menschen, Herrn F. weiter (Anlage K12 = Bl- 106 d.A.).

Am 15.02.2019 um 9:22 Uhr fragte der Kläger bei Frau S. wegen dieser Bewerbung nach (Anlage K3 = 16 d.A.).
Am Vormittag desselben Tages verweigerte der Betriebsrat die Zustimmung zur Einstellung eines externen Bewerbes auf die am 19.11.2018 ausgeschriebene Stelle im Hinblick darauf, dass ihm die Bewerbung des Klägers nicht weitergeleitet worden war. Um 15:25 Uhr desselben Tages leitete Frau S. die Bewerbung an den Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung weiter.

In der Folge vereinbarten die Parteien telefonisch einen Termin für ein Bewerbungsgespräch für den Nachmittag des 23.01.2019.

Am Vormittag des 23.01.2019 schrieb die Beklagte eine Stelle für einen Fertigungsmitarbeiter in W. aus, wobei unter "Profil" angegeben war, dass der Bewerber idealerweise eine technische Berufsausbildung abgeschlossen haben solle (Anlage B4 = Bl. 66 f. d.A.).

Am Nachmittag des 23.01.2019 fand wie vereinbart das Bewerbungsgespräch des Klägers statt, an dem neben dem Kläger und Frau S. auch Herr W., der Manager Produktion, und nach etwa 25 Minuten auch Herr F. teilnahmen.
Am folgenden Tag signalisierte der Kläger unter Bezugnahme auf dieses Bewerbungsgespräch per E-Mail sein Interesse an dieser Stelle.

Am 07.03.2019 fand ein Gespräch statt, an dem Herr F. und Mitglieder der Personalabteilung teilnahmen und in dem insbesondere die Bewerbung des Klägers vom 20.12.2018 und die geplante Einstellung eines anderen Bewerbers namens C. besprochen wurde.

Am 11.03.2019 hörte die Beklagte den bei ihr gebildeten Betriebsrat zur Einstellung von Herrn C. als Fertigungsmitarbeiter zum 01.04.2019 an (Anlage B7 = Bl. 70 d.A.). Hierbei begründete sie ihre Auswahlentscheidung unter anderem damit, dass Herr C. eine Schweißer-Schulung vorweisen könne, die dringend notwendig für den Aufgabenbereich sei. Weiter führte sie aus:

"Uns liegen weitere interne und externe Bewerbungen vor, bitte sehen die Anlage. Wie bereits am 15.01.2019 mitgeteilt, uns liegt eine Bewerbung von schwerbehinderten Kandidaten vor."

Am 14.03.2019 um 12:22 Uhr erklärte die Schwerbehindertenvertretung, mit der Auswahl von Herrn C. zum Nachteil des Klägers nicht einverstanden zu sein (Anlage B10, insb. Bl. 134 d.A.).

Am 31.03.2019 übermittelte der Kläger der beklagten ein Geltendmachungsschreiben hinsichtlich seiner Bewerbung vom 20.12.2018 (Anlage K7 = Bl. 21 d.A.).

Am 04.04.2019 sagte die Beklagte dem Kläger per E-Mail unter Bezugnahme auf das Gespräch vom 23.01.2019 ab (Anlage B8 = Bl. 71 d.A.).

Am 07.06.2019 reichte der Kläger die vorliegende Klage ein, mit der er eine Entschädigung gemäß § 15 Abs. 2 AGG wegen der Nichteinstellung im Hinblick auf die Ausschreibung vom 11.12.2018 geltend machte, auf die er sich am 20.12.2018 beworben habe.

Der Kläger ist der Ansicht, die Beklagte habe ihn diskriminiert, insbesondere habe sie bei der Bearbeitung seiner Bewerbung vom 20.12.2018 mehrfach die Anforderungen des § 164 SGB IX nicht erfüllt und dadurch Indizien gemäß § 22 AGG gesetzt.

Seine Bewerbung sei bis zum 17.01.2019 gar nicht berücksichtigt, das Bewerbungsgespräch nur pro forma geführt worden. Er sei in dem Gespräch vom 23.01.2019 auf sein Alter und auf seine Behinderung und deren Ursachen und Folgen angesprochen worden, ohne dass dies zwingend für seine Stellenbesetzung erforderlich gewesen wäre. Die betriebliche Mitbestimmung für die am 11.12.2018 ausgeschriebene Stelle sei schon am 23.01.2019 eingeleitet worden.

Er beobachtete die Beklagte seit langem. Ihm komme es darauf an, dass die Beklagte nach dem AGG durch ein gerichtliches Urteil verurteilt werde.
In der Vergangenheit habe er in einem anderen Verfahren mit einem anderen Arbeitgeber einen Vergleich dahin geschlossen, dass die dortige Beklagte einen Betrag an eine Behinderteneinrichtung zahle. Im vorliegenden Fall habe er das Geld indes dafür vorgesehen, eine Familie mit einem behinderten Familienangehörigen beim Kauf bzw. der Umrüstung eines Fahrzeugs zu unterstützen.

Der Kläger trägt vor, dass sein Gehalt bei Einstellung 3.827,83 Euro hätte betragen müssen. Bei der Bemessung der Höhe der Entschädigung sei die Obergrenze nach § 15 Abs. 2 S. 2 AGG nicht zu beachten, da die insoweit darlegungsbelastete Beklagte nicht dargetan habe, dass sie ihn auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt hätte.

Der Kläger beantragt:

1. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger eine Entschädigung deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, die aber mindestens ein Bruttomonatsgehalt betragen solle, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 02.04.2019 zu zahlen. Durch die nicht unmittelbare Unterrichtung der betrieblichen Interessenvertretung über den Eingang der Bewerbung des Klägers gemäß § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX wurde der Kläger benachteiligt und unterstützende Maßnahmen zu Gunsten des Klägers durch die betrieblichen Interessenvertretungen durch die Beklagte verhindert.

2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger eine Entschädigung, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, die aber mindestens ein Bruttomonatsgehalt betragen solle, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 02.04.2019 zu zahlen, wegen Benachteiligung durch die nicht erfolgte Anhörung des Klägers gemäß § 164 Abs. 1 Satz 8 SGB IX durch die Beklagte. Denn mindestens eine betriebliche Interessenvertretung war mit der beabsichtigten Entscheidung der Beklagten nicht einverstanden. Eine erforderliche Anhörung der betrieblichen Interessenvertretung und des Klägers durch die Beklagte ist nicht erfolgt.

3. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger eine Entschädigung, deren Höre in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, die aber mindestens ein Bruttomonatsgehalt betragen sollte, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 02.04.2019 zu zahlen, da eine unverzügliche Unterrichtung unter Darlegung der Gründe nach § 164 Abs. 1 Satz 9 SGB IX durch die Beklagte nicht erfolgt ist. Die Beklagte hat diese gesetzliche Verpflichtung zur Förderung der Beschäftigungsmöglichkeit des schwerbehinderten Klägers nicht durchgeführt.

4. Die Beklagte wird verurteilt dem Kläger eine Entschädigung, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, da eine frühzeitige Meldung des vakanten Arbeitsplatzes nicht der Agentur für Arbeit zur Vermittlung von arbeitssuchenden und -losen Schwerbehinderten gemäß § 164 Abs. 1 Satz 2 SGB IX gemeldet worden ist und ein Auftrag zur Vermittlung von arbeitssuchenden und -losen Schwerbehinderten gemäß § 164 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nicht durch die Beklagte gestellt worden ist und dadurch der schwerbehinderte Kläger keine Kenntnisse über das Informationsportal der Agentur für Arbeit erhalten könnte und die Agentur für Arbeit bzw. der Integrationsfachdienst keinen Vermittlungsvorschlag zu Gunsten des arbeitssuchenden Klägers erstellen konnten.

5. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger eine Entschädigung, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, weil die betrieblichen Interessenvertretungen entgegen § 164 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 164 Abs. 1 Satz 6 SGB IX nicht vor Stellenausschreibung beteiligt worden sind und die Beklagte dadurch gegen gesetzliche Verpflichtungen zur Förderung der Beschäftigung des arbeitssuchenden schwerbehinderten Klägers verstoßen hat.

Die Beklagte beantragt

Klageabweisung.

Sie ist der Auffassung es handle sich nur um eine einzige Stelle in der Fertigung in W., die die Beklagte mehrfach ausgeschrieben habe, auf die sich der Kläger zweimal beworben habe und die mit 2.798,00 dotiert sei.
Frau S. habe bei ihrer Urlaubsrückkehr am 07.01.2019 mehrere hundert E-Mails vorgefunden und sie habe die Bewerbung des Klägers erst durch seine Erinnerungs-E-Mail zur Kenntnis genommen.
Am 23.01.2019 habe Herr F. in einem falschen Raum gewartet, weil ihm versehentlich der Raum "Schwangau" statt des Raumes "Neuschwanstein" genannt worden sei.
Nach dem Gespräch mit dem Kläger seien weitere Bewerbungsgespräche geführt worden. Man habe sich dann für einen anderen Bewerber entschieden, weil dieser insbesondere eine Schweißer-Schulung absolviert habe, die für den Aufgabenbereich dringend notwendig sei. Die Entscheidung für diesen anderen Bewerber und gegen den Kläger sei am 07.03.2019 mit dem Betriebsrat sowie mit Herrn F. erörtert worden.

Am Standort W. erfülle die Beklagte die gesetzlich vorgegebene Schwerbehindertenquote.

Im Übrigen wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, die Sitzungsprotokolle und den gesamten Akteninhalt.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Die Seite für die Schwerbehindertenvertretung

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage war in Höhe von 2.000,00 Euro begründet; Im Übrigen war sie abzuweisen.

I.

Der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. C ArbGG eröffnet. Die örtliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts ergibt sich aus § 21 ZPO. Eine ausschließliche Zuständigkeit eines anderen Gerichts nach § 61b Abs. 2 ArbGG besteht nicht.

Der gestellte Antrag ist auch im Sinne § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO bestimmt. Bei der Höhe nach ins Ermessen des Gerichts gestellten Entschädigungsforderungen genügt die Benennung einer Größenordnung.


II.

Die Klage ist nach §§ 15 Abs. 2, 7 ff., 22 ArbGG in Höhe von 2.000,00 Euro begründet.

1. Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens (§ 15 Abs. 2 AGG "Nichteinstellung") ist die Nichteinstellung des Klägers in dem durch die Ausschreibung vom 11.12.2018 eingeleiteten Bewerbungsverfahren, auf das sich der Kläger mit E-Mail vom 20.12.2018 beworben hat.

Die am 11.12.2018 ausgeschriebene Position unterscheidet sich in den genannten Anforderungen sowohl von der früher ausgeschriebenen als auch von der später ausgeschriebenen Position. Am 29.10.2018 wurde ein Geselle gesucht, am 11.12.2018 ein ungelernter Arbeiter sowie am 23.01.2019 idealerweise Geselle, aber auch ein ungelernter Arbeiter.
Dabei kommt es nicht darauf an, ob in der Fertigung der Beklagten lediglich eine Stelle frei war. Die verschiedenen Ausschreibungen waren auf Grund der unterschiedlichen Anforderungen für einen unterschiedlichen Bewerberkreis interessant, eine erfolgreiche Bewerbung hätte auch je nach Qualifikation zu einem anderen Entgelt geführt.
Auch die Bewerbungsfristen waren in den unterschiedlichen Ausschreibungen unterschiedlich.

2. Der Kläger ist als Bewerber Beschäftigter im Sinne von § 6 Abs. 1 S. 2 AGG. Die Beklagte ist nach § 6 Abs. 2 S.1 Arbeitgeberin.

3. Der Anspruch wurde in den Fristen der §§ 15 AGG und 61b Abs. 1 ArbGG geltend gemacht.

4. Dadurch, dass nicht er, sondern eine andere Person eingestellt wurde, wurde der Kläger gegenüber dem Mitbewerber benachteiligt, § 7 AGG.

5. Diese Benachteiligung geschah entgegen §§ 7, 1 AGG wegen einer Behinderung. Hierfür hat die Beklagte mehrere Indiztatsachen gemäß § 22 AGG gesetzt.

a) § 164 Abs. 1 SGB IX legt dem Arbeitgeber im Zusammenhang mit der Einstellung von Arbeitnehmern zur Förderung der Beschäftigung von Schwerbehinderten verschiedene Prüfungspflichten auf (vgl. auch im Folgenden: Rolfs, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 20. Auflage 2020, Rz. 1 bis 3 zu § 164 SGB IX): Im Einzelnen:

(1) Der Arbeitgeber muss prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzt werden können, wobei zwingend die Schwerbehindertenvertretung und der Betriebsrat anzuhören sind (Abs. 1 S. 2, 6).

(2) Kann die Besetzung des Arbeitsplatzes mit einem schwerbehinderten Menschen erfolgen, ist der Arbeitgeber zur Prüfung verpflichtet, ob der Arbeitsplatz mit bei der Arbeitsagentur arbeitslos oder arbeitssuchend gemeldeten Schwerbehinderten besetzt werden kann. Das setzt denklogisch voraus, dass der Arbeitgeber den freien Arbeitsplatz der Arbeitsagentur überhaupt erst einmal meldet.

(3) Nach S. 4 hat der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung und den Betriebsrat über eingehende Bewerbungen von Schwerbehinderten "unmittelbar nach deren Eingang zu unterrichten". Vorauszusetzen ist allerdings, dass der Arbeitnehmer seine Schwerbehinderung im Bewerbungsschreiben offengelegt hat; ein bloß "versteckter" Hinweis genügt nicht.

(4) Der Arbeitgeber muss, wenn die Schwerbehindertenvertretung und/oder der Betriebsrat mit der beabsichtigten Entscheidung nicht einverstanden sind, diese unter Darlegung der Gründe mit den genannten Vertretungen erörtern (Abs. 1 S.7) und dabei den betroffenen schwerbehinderten Menschen anhören (Abs. 1 S.8).

(5) Unter den gleichen Voraussetzungen hat der Arbeitgeber alle Beteiligten über die getroffene Entscheidung unter Darlegung der Gründe unverzüglich zu unterrichten.

(6) Weiterhin steht der Schwerbehindertenvertretung das Recht zu, an den Vorstellungsgesprächen teilzunehmen, wenn sich ein schwerbehinderter Mensch beworben hat (Abs. 1 S. 6 in Verbindung mit § 178 II SGB IX).

b) Eine Verletzung dieser Obliegenheiten - oder auch nur einzelner von ihnen - begründen bei Schwerbehinderten ein ausreichendes Indiz für die Benachteiligung wegen der Behinderung im Sinne von § 22 AGG (Rolfs, a.a.O., Rz. 4 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BAG).

c) Demnach sind im vorliegenden Fall mehrere Indizien gegeben.

aa. Entgegen § 164 Abs. 1 S. 1 u. S. 2 SGB IX hat die Beklagte im Kontext mit der Ausschreibung vom 11.12.2018 keinen Kontakt mit der Agentur für Arbeit aufgenommen. Der im Zusammenhang mit der Ausschreibung vom 29.10.2018 aufgenommene Kontakt exkulpiert die Beklagte insofern nicht. In dieser Ausschreibung war eine höhere Anforderung an den Bewerber gegeben (Geselle). Es hätte von daher in besonderer Weise Anlass bestanden, bei einer Absenkung der Anforderung zuvor bei der Arbeitsagentur vorstellig zu werden.

bb. Die Beklagte hat entgegen § 164 Abs. 1 S. 4 SGB IX die Schwerbehindertenvertretung nicht unmittelbar nach Eingang über die Bewerbung des Klägers unterrichtet. Insofern wird die Beklagte nicht durch die urlaubs- und feiertagsbedingte Abwesenheit von Frau S. entlastet. Eingang im Sinne der Vorschrift bedeutet nicht die Kenntnisnahme durch einen Mitarbeiter in der Personalabteilung. Zudem war Frau S. auch schon eine volle Woche wieder anwesend, als sie erst durch Nachfrage des Klägers auf die Bewerbung des Klägers aufmerksam wurde. Die Bewerbung des Klägers wurde jedenfalls erst nach der Betriebsratssitzung vom 15.10.2019 an die Schwerbehindertenvertretung übermittelt. Der Betriebsrat hatte offenbar nur deshalb vom Eingang der Bewerbung des Klägers Kenntnis, weil der Kläger seine Bewerbung parallel auch an Herrn F. unmittelbar gesandt hatte. Zur Erfüllung der Indizwirkung genügt Fahrlässigkeit.

cc. Schließlich wurde der Kläger entgegen § 164 Abs. 1 S. 8 SGB IX bei der Erörterung der Besetzungsentscheidung trotz des Widerspruchs der Schwerbehindertenvertretung und Nichteinhaltung der (unternehmens- und nicht standortbezogen zu ermittelnden) Beschäftigungsquote nach §§ 154, 156 SGB IX nicht angehört.

6. Angemessen erschien der Kammer die festgesetzte Entschädigung von 2.000,00 Euro.

a) Die Höhe der Entschädigung ist grundsätzlich einzellfallbezogen festzusetzen. Maßgeblich ist in erster Linie die Schwere des Verstoßes, von Bedeutung sind weiterhin dessen Dauer und Folgen, der Anlass und der Beweggrund des Handelns, der Grad der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers, etwa geleistete Wiedergutmachung oder erhaltene Genugtuung. Die Entschädigung muss einen tatsächlichen und wirksamen rechtlichen Schutz darstellen, indem sie eine wirklich abschreckende Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber gewährleistet, zugleich aber den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt. Wird der Arbeitnehmer zugleich aus mehreren Gründen unzulässig benachteiligt, ist eine höhere Entschädigung geboten, um die erforderliche abschreckende Wirkung zu erzielen (vgl. Ahrendt, in: Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, 18. Auflage 2019, Rn. 115 zu § 36, mit Nachweisen).

b) Im vorliegenden Fall war gegen die Beklagte zu berücksichtigen, dass mehrere Indiz Tatsachen erfüllt sind und die Beklagte jedenfalls bei dem Verstoß gegen § 164 Abs. 1 S. 8 SGB IX durch einfache Lektüre des Gesetzestextes hätte erkennen können, dass sie den Kläger anhören musste. Demgegenüber spricht für die Beklagte, dass immerhin ein Bewerbungsgespräch von einiger Dauer stattfand, so dass der Kläger entsprechend der Zielsetzung des SGB IX die Möglichkeit hatte, sich zu präsentieren. Das Vorgehen der Beklagten war nach der Überzeugung der Kammer auch eher von Unbeholfenheit als von bösem Willen geprägt. Ausschlaggebend für die vergleichsweise niedrige Entschädigungssumme war, dass es nach der Auffassung der Kammer für die abschreckende Wirkung in erster Linie auf eine Verurteilung und erst nachrangig auf die Höhe der zugesprochenen Entschädigung ankommt. Dies entspricht auch der in der Kammerverhandlung artikulierten Motivation des Klägers. Es ist davon auszugehen, dass die Beklagte diese Verurteilung zum Anlass nehmen wird, ihre Abläufe auf die Anforderungen des § 164 SGB IX anzupassen. Zu betonen ist auch, dass sich die Beklagte nach der Auffassung der Kammer während des gesamten Vorgangs nicht respektlos gegenüber dem Kläger verhalten hat.


III.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 92 ZPO. Der Streitwert war entsprechend der Antragstellung des Klägers nach § 61 ArbGG festzusetzen.

Gegen dieses Urteil haben beide Parteien Rechtsmittel der Berufung, § 64 Abs. 2 lit. B ArbGG.

Referenznummer:

R/R8464


Informationsstand: 27.08.2020