Urteil
Voraussetzung einer Mehrfachanrechnung auf Pflichtarbeitsplätze bei Einstellung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers - Hochschulabschluss als berufliche Ausbildung - Annahme der Übernahme eines Auszubildenden in ein Beschäftigungsverhältnis

Gericht:

LSG Berlin-Brandenburg 8. Senat


Aktenzeichen:

L 8 AL 62/13


Urteil vom:

22.05.2014


Grundlage:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Januar 2013 geändert.

Die Klage wird in vollem Umfang abgewiesen.

Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt für beide Rechtszüge die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten der Beklagten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird für beide Rechtszüge auf 4.862,86 EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Streitig ist die Verpflichtung der Beklagten, die Beschäftigung des Arbeitnehmers J B (im folgenden: Arbeitnehmer) mehrfach als Pflichtarbeitsplatz nach den Vorschriften über die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen für die Rechtsvorgängerin der Klägerin, der Fraktion DIE LINKE der 17. Wahlperiode des Deutschen Bundestags (im Folgenden: Fraktion) anzurechnen.

Der Arbeitnehmer ist 1980 geboren worden. Bei ihm ist seit 1984 ein Grad der Behinderung nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG)/Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) von 100 wegen einer erheblichen Sehbehinderung festgestellt. Außerdem sind (jedenfalls) seit 1992 die Voraussetzungen für die Merkzeichen G, H, RF und Bl. anerkannt.

Von Oktober 2000 bis April 2008 absolvierte der Arbeitnehmer ein Hochschulstudium der Politologie, das er mit dem Diplomgrad erfolgreich abschloss. Nach einer Zeit eigener Arbeitsuche war er seit Juli 2008 durchgehend bis 14. Februar 2010 arbeitslos gemeldet.

Am 9. Februar 2009 schlossen die Fraktion und der Arbeitnehmer mit Wirkung ab dem 15. Februar 2010 einen auf die Dauer der 17. Wahlperiode des Deutschen Bundestags befristeten Arbeitsvertrag in Vollzeitbeschäftigung (39 Wochenstunden) als Referent für Behindertenpolitik. Die Beklagte gewährte der Fraktion aus Anlass der Einstellung einen Eingliederungszuschuss für besonders betroffene schwerbehinderte Menschen bis zum 14. Februar 2011 sowie dem Arbeitnehmer selbst Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Gestalt einer Arbeitsassistenz (dem Grunde nach; Ausführung durch das Landesamt für Gesundheit und Soziales B, das ab dem Beginn des Beschäftigungsverhältnisses bei der Fraktion, zunächst befristet bis zum 31. Januar 2011, einen zweckgebundenen Zuschuss in Höhe von 1.430,-- EUR monatlich aus den Mitteln der Ausgleichsabgabe nach dem SGB IX, ausgehend von einem täglichen Assistenzbedarf von 7,8 Stunden = 39 Stunden wöchentlich bewilligte) und der Aufwendungen für eine technische Arbeitshilfe (Bildschirmausleseprogramm mit Sprachausgabe-Software, 2998,80 EUR).

Am 11. Februar 2010 beantragte die Fraktion bei der Beklagten, ebenfalls mit Wirkung ab dem Beginn der Beschäftigung, die Anrechnung des Arbeitsplatzes des Arbeitnehmers auf zwei Pflichtarbeitsplätze nach § 76 SGB IX. Als behinderungsbedingte Einschränkung führte sie an, dass zusätzliche Ausrüstungsgegenstände (IT-Technik) für ihn und ein zweiter Arbeitsplatz für die Assistenz dauerhaft erforderlich seien. Als behinderungsbedingte Mehraufwendungen für sich selbst als Arbeitgeberin führte sie an, dass der Arbeitnehmer nicht nur vorübergehend einer besonderen Hilfskraft bedürfte, dass er erstmals seit Abschluss seines Studiums im Jahr 2008 eine Beschäftigung aufnehme und deshalb einer besonderen Einarbeitung bedürfte sowie dass zusätzlicher Aufwand entstehe, indem etwa Dokumente gesondert eingescannt und zur Verfügung gestellt werden müssten.

Durch Bescheid vom 19. August 2010 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab. Es reiche nicht aus, dass der Arbeitnehmer zum Kreis der im Arbeitsleben besonders betroffenen behinderten Menschen gehöre. Die erforderliche Hilfskraft werde durch das Integrationsamt finanziert. Doppelförderungen seien zu vermeiden.

Mit ihrem Widerspruch machte die Fraktion geltend, dass der zusätzliche Aufwand für die Beschäftigung des Arbeitnehmers über die Anstellung einer Assistenzkraft hinausgehe. Damit er seine Aufgaben, speziell in Sitzungswochen des Bundestags, erfüllen könne, sei dem Arbeitnehmer eine zweite Assistenzkraft zugeordnet, die aus Eigenmitteln der Fraktion finanziert werde. Außerdem entstünden zusätzliche Sachkosten, weil der Arbeitsplatz behinderungsgerecht eingerichtet werden müsse. Jedenfalls für das erste Jahr der Beschäftigung stehe der Beklagten außerdem kein Ermessen zu, weil es sich um die erstmalige Beschäftigung nach Abschluss des Studiums handle. Es sei nicht erforderlich, dass der Arbeitnehmer von dem Betrieb ausgebildet worden sei, von dem er anschließend übernommen werde. Für die Zeit ab dem 15. Februar 2011 sei die Ablehnung ermessensfehlerhaft, weil keine Doppelförderung mehr vorliege. Der Eingliederungszuschuss werde seither nicht mehr gewährt.

Durch Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2011 wies der Widerspruchsausschuss bei der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Beklagten den Widerspruch zurück. Die Voraussetzungen für eine zwingende Mehrfachanrechnung seien nicht erfüllt, weil der Arbeitnehmer nicht im Anschluss an eine betriebliche Ausbildung bei der Klägerin von ihr in ein Arbeitsverhältnis übernommen worden sei. Die Mehrfachanrechnung sei aber auch nicht nach pflichtgemäßem Ermessen vorzunehmen gewesen. Dies sei nur unter der Voraussetzung möglich, dass die Teilhabe am Arbeitsleben auf besondere Schwierigkeiten stoße. Dafür müssten in der Person des beschäftigten schwerbehinderten Menschen Umstände zutage treten, die zu einer Gefährdung des Beschäftigungsverhältnisses führen könnten. Dies sei hier nicht erkennbar. Die Teilhabe sei durch die der Fraktion und dem Arbeitnehmer bereits gewährten Zuschüsse gesichert. Die Befristung der Bewilligungen auf das erste Beschäftigungsjahr bedeute nicht, dass für Folgezeiträume keine Förderungen mehr gewährt würden. Jedenfalls sei nicht ersichtlich, dass die zusätzlichen Belastungen der Fraktion durch die Beschäftigung so gravierend seien, dass sie eine Anrechnung auf zwei Pflichtarbeitsplätze rechtfertigten.

Mit der Klage hat die Fraktion ihr Anliegen weiterverfolgt. Die Vorschrift über die zwingende Doppelanrechnung entspreche nur in ihrer Auslegung dem Artikel 5 der Richtlinie 2007/78/EG des Rates der Europäischen Union vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Für die Ermessensvorschrift sei vor allem von Bedeutung, dass der Arbeitnehmer zum Personenkreis der nach Art und Schwere der Behinderung im Arbeitsleben besonders betroffenen schwerbehinderten Menschen gehöre. Die Geschäftsführerin der Fraktion teilte in einem Schreiben vom 2. November 2012 mit, dass die Fraktion 2011 bei acht ihr angerechneten Schwerbehinderten eine Abgabe von 2.835,-- EUR zu zahlen gehabt habe, ausgehend von 1.905 Pflichtarbeitsplätzen und 27 Behindertenarbeitsplätzen insgesamt (hierbei wurden jeweils die Monatszahlen addiert).

Durch Urteil vom 21. Januar 2013 hat das Sozialgericht die Beklagte unter Änderung des angefochtenen Bescheides der Sache nach verurteilt, die Beschäftigung des Arbeitnehmers für den Zeitraum 15. Februar 2010 bis 14. Februar 2011 auf zwei Pflichtarbeitsplätze anzurechnen und die Klage, die auf eine Anrechnung auf zwei Pflichtarbeitsplätze ohne zeitliche Befristung, hilfsweise Neubescheidung gerichtet war, im Übrigen abgewiesen. Die Voraussetzungen für eine zwingende Anrechnung im ersten Beschäftigungsjahr seien erfüllt. Das Gesetz erfordere bereits seinem Wortlaut nach keine Übernahme durch den ausbildenden Betrieb. Es sei deshalb davon auszugehen, dass jegliche erstmalige Beschäftigung durch die Mehrfachanrechnung privilegiert werden solle. Für danach liegende Zeiträume komme eine Mehrfachanrechnung nicht in Betracht. Die Beklagte habe ihr Ermessen rechtmäßig betätigt. Sie habe die Mehraufwendungen, welche der Fraktion durch die Beschäftigung des Arbeitnehmers entstehen konnten, zutreffend zu Grunde gelegt und gewürdigt. Es seien sowohl in technischer wie in personeller Hinsicht Förderungen gewährt worden, die nicht grundsätzlich auf ein Jahr beschränkt seien. Ob Anträge auf Verlängerung der Förderleistungen überhaupt gestellt worden seien, habe die Klägerin nicht vorgetragen. Die weiteren Leistungen berücksichtigend, seien die behinderungsbedingten Einschränkungen am Arbeitsplatz und die entstehenden Mehraufwendungen jedoch abgedeckt. Besondere Schwierigkeiten im Sinne einer Gefährdung des Arbeitsplatzes seien nicht anzunehmen. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass der Arbeitnehmer nur befristet für die Dauer der Wahlperiode beschäftigt sei.

Mit der Berufung wendet sich die Beklagte gegen ihre Verurteilung. Die Gesetzessystematik und die Materialien sprächen dagegen, dass bei allen Berufsanfängern eine Mehrfachanrechnung zwingend vorzunehmen sei. Der Arbeitnehmer sei während seines Studiums bereits nicht "zur Ausbildung beschäftigt" gewesen, wie es das Gesetz vorsehe. Hinzu komme, dass für eine "Übernahme" ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen der Ausbildung und dem Beginn eines Beschäftigungsverhältnisses erforderlich sei.

Die Fraktion und nach dem Ablauf der 17. Wahlperiode die Klägerin tritt der Auffassung der Beklagten entgegen. Darüber hinaus verfolgt sie mit der nach Ablauf der Berufungsfrist eingelegten Anschlussberufung ihr Klagebegehren in vollem Umfang weiter. Das Sozialgericht habe unberücksichtigt gelassen, dass der Eingliederungszuschuss lediglich 50 % der Höhe des Arbeitsentgelts des Arbeitnehmers betragen habe. Ob die Fraktion für die Zeit nach dem 14. Februar 2011 weitere Förderleistungen beantragt habe, sei rechtlich nicht beachtlich. Die Klägerin hat das Schreiben ihres Vorsitzenden an den Präsidenten des Deutschen Bundestags vom 17. Oktober 2013, unter anderem enthaltend die Mitteilung über den Antritt der Rechtsnachfolge der Fraktion, übersandt.

Die Beklagte beantragt in der Sache,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Januar 2013 aufzuheben, die Klage in vollem Umfang abzuweisen und die Anschlussberufung zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt der Sache nach,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Januar 2013 zu ändern, den Bescheid der Beklagten vom 19. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2011 vollständig aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Beschäftigung des Arbeitnehmers auch für die Zeit ab 15. Februar 2011 auf zwei Pflichtarbeitsplätze anzurechnen, hilfsweise die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden, sowie die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung und ihre Bescheide für zutreffend.

Die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten lagen dem Senat bei seiner Beratung und Entscheidung vor. Wegen Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt dieser Aktenstücke Bezug genommen.

Rechtsweg:

SG Berlin Urteil vom 21.01.2013 - S 57 AL 1911/11

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Berlin

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung über die Rechtsmittel entscheiden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Die Berufungen sind statthaft. Für die (Anschluss-)Berufung der Klägerin galt die Berufungsfrist des § 151 Abs. 1 SGG nicht (s. stellvertretend BSG, Urteil vom 5. Mai 2010 - B 6 KA 6/09 R -, SozR 4-2500 § 106 Nr. 27).

Die Klägerin ist gemäß § 70 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) im sozialgerichtlichen Verfahren beteiligtenfähig. Sie ist kraft Gesetzes rechtsfähig und kann klagen und verklagt werden (§ 46 Abs. 1 und 2 Abgeordnetengesetz [AbgG]).

Die Klägerin hat auch ein Sachbescheidungsinteresse. Sie ist Rechtsnachfolgerin der Fraktion, welche mit dem Ende der 17. Wahlperiode ihre Rechtsstellung nach § 46 AbgG verloren hatte (§ 54 Abs. 7 AbgG).

Die Berufung der Beklagten ist begründet, die Anschlussberufung der Klägerin dagegen unbegründet.

Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf die geltend gemachte Zulassung zur Mehrfachanrechnung, über die gemäß § 104 Abs. 1 Nr. 8 SGB IX von der Beklagten zu entscheiden war, noch auf eine Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. Bereits die Voraussetzungen für eine Mehrfachanrechnung liegen nicht vor.

Die Fraktion war private Arbeitgeberin im Sinne des § 71 Abs. 1 SGB IX. Sie gehört nicht zu den Stellen, die durch § 71 Abs. 3 SGB IX als öffentliche Arbeitgeber definiert sind, im besonderen nicht zu den als ein öffentlicher Arbeitgeber zusammengefassten Verwaltungen des Deutschen Bundestages und Bundesrates (§ 71 Abs. 3 Nr. 1 SGB IX). Sie war kraft Gesetzes kein Teil der öffentlichen Verwaltung (§ 46 Abs. 3 AbgG).

Gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 SGB IX kann die Bundesagentur für Arbeit die Anrechnung eines schwerbehinderten Menschen, besonders eines schwerbehinderten Menschen im Sinne des § 72 Abs. 1 SGB IX, auf mehr als einen Pflichtarbeitsplatz, höchstens drei Pflichtarbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen zulassen, wenn dessen Teilhabe am Arbeitsleben auf besondere Schwierigkeiten stößt.

Gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 SGB IX wird ein schwerbehinderter Mensch, der beruflich ausgebildet wird, auf zwei Pflichtarbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen angerechnet (Satz 1). Bei Übernahme in ein Arbeits- oder Beschäftigungsverhältnis durch den ausbildenden oder einen anderen Arbeitgeber im Anschluss an eine abgeschlossene Ausbildung wird der schwerbehinderte Mensch im ersten Jahr der Beschäftigung auf zwei Pflichtarbeitsplätze angerechnet; Absatz 1 bleibt unberührt (Satz 4).

Die Fraktion hatte entgegen der Auffassung des Sozialgerichts keinen Anspruch auf Zulassung zur Mehrfachanrechnung nach § 76 Abs. 2 Satz 4 SGB IX.

Der Arbeitnehmer, der ein Hochschulstudium mit Erfolg beendet hat, verfügte nicht über eine abgeschlossene Ausbildung im Sinne der Vorschrift. Aus dem Regelungszusammenhang, im besonderen daraus, dass sich § 76 SGB IX im Abschnitt über die Beschäftigungspflicht von Arbeitgebern befindet, folgt, dass nur Ausbildungen im Sinne des § 76 Abs. 2 Satz 1 SGB IX - allenfalls noch Ausbildungen in Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation, die teilweise in Betrieben oder Dienststellen absolviert worden sind, mit der Folge der Gleichstellung nach § 76 Abs. 2 Satz 2 SGB IX - erfasst werden. Das sind ausschließlich solche in einem betrieblichen oder außerbetrieblichen Ausbildungsverhältnis, weil nur sie sich auf die Beschäftigungs- beziehungsweise Ausgleichsabgabepflicht nach §§ 72, 77 SGB IX auswirken und damit eine Mehrfachanrechnung während der Ausbildungszeit auslösen können.

Diese Auslegung wird durch die Gesetzesmaterialien bestätigt (BT-Dr. 15/1783, 15). Danach sollte die Regelung des § 76 Abs. 2 Satz 4 SGB IX (im Gesetzesentwurf noch als § 76 Abs. 2 Satz 3 SGB IX enthalten) "die Bereitschaft der Arbeitgeber zur Übernahme schwerbehinderter Auszubildender in ein Arbeits- oder Beschäftigungsverhältnis erhöhen. Daher wird bei Übernahme eines schwerbehinderten Auszubildenden in ein Beschäftigungsverhältnis die Mehrfachanrechnung fortgeführt ... Diese Mehrfachanrechnung erfolgt auch dann, wenn der schwerbehinderte Jugendliche nach Abschluss seiner Ausbildung von einem anderen Betrieb übernommen wird."

Selbst wenn aber davon ausgegangen würde, dass die Ausbildung des Arbeitnehmers geeignet wäre, die Voraussetzungen des § 76 Abs. 2 Satz 4 SGB IX zu erfüllen, so fehlte es an einer "Übernahme" durch die Fraktion. Der Begriff ist nach dem allgemeinen Sprachgebrauch durch ein Moment der Unmittelbarkeit gekennzeichnet, welches eine zeitliche Nähe zwischen dem für den Eintritt der Rechtsfolge maßgeblichen Ausgangs- und Endzustand erfordert. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Begriff hier anders zu verstehen sein könnte. Dies ergibt sich wiederum aus den Gesetzesmaterialien (a.a.O.), nach denen "nur" die anschließende Übernahme des schwerbehinderten Menschen in ein Beschäftigungsverhältnis zu einer Mehrfachanrechnung führt. Der zeitliche Zusammenhang wird als gewahrt angesehen, "wenn die Beschäftigung bis zum Ablauf des Kalendermonats beginnt, der dem Kalendermonat der Beendigung der Ausbildung folgt". Unabhängig davon, ob diese sehr kurze Frist immer Geltung beanspruchen kann, steht eine längerdauernde Beschäftigungslosigkeit nach dem Abschluss einer Ausbildung - wie hier von deutlich mehr als einem Jahr - einer "Übernahme" in jedem Fall entgegen.

Für eine abweichende Auslegung im besonderen aufgrund über- oder zwischenstaatlichen Rechts gibt es keinen Grund. Die Regelung des § 76 Abs. 2 Satz 4 SGB IX ist sachlich begründet.

Der angefochtene Bescheid ist aber insoweit nicht zu beanstanden, als die Fraktion nicht gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 SGB IX zur Mehrfachanrechnung zugelassen worden ist.

Die Vorschrift entspricht praktisch wortgleich § 6 Abs. 6 Satz 1 des SchwbG in der Fassung des Gesetzes zur Weiterentwicklung des SchwbG vom 24. April 1974 (BGBl. I S. 981; in der Fassung der Neubekanntmachung vom 24. April 1974, BGBl. I S: 1005 § 7 Abs. 6 SchwbG, in späteren Gesetzesfassungen dann § 7b Abs. 1 bzw. § 10 Abs. 1 SchwbG). Die Vorschrift wurde damit begründet, dass sie "dem Arbeitsamt die Unterbringung Schwerbehinderter in schwierigen Fällen ermöglichen" solle. Dazu gehöre "namentlich die Unterbringung Schwerbehinderter ..., die in vorgerücktem Alter stehen" (BT-Dr. 7/656,29). Bereits nach damaligem Recht reichte es deshalb nicht aus, dass ein Arbeitnehmer einer vom Gesetz besonders herausgehobenen Gruppe schwerbehinderter Menschen zugehörte (das SchwbG enthielt eine dem § 72 Abs. 1 SGB IX entsprechende Regelung in § 4 bzw. § 5).

Worin die besonderen Schwierigkeiten liegen sollten, welche der Teilhabe des Arbeitnehmers am Arbeitsleben entgegenstünden, wird nicht ersichtlich. Zwar war er nach erfolgreichem Abschluss seines Studiums mehr als ein Jahr und damit im Sinne der gesetzlichen Definition des § 18 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch langzeitarbeitslos. Zum einen gibt es aber keinen Anhaltspunkt dafür, dass dies vorrangig auf seine Behinderung und nicht auf andere Umstände (z.B. das ausgewählte Studienfach) zurückzuführen wäre. Zum anderen hat die Fraktion den Arbeitsvertrag mit dem Arbeitnehmer abgeschlossen, noch bevor sie den Antrag auf Mehrfachanrechnung gestellt hat. Dies indiziert, dass - soweit dies überhaupt Einfluss auf den Vertragsschluss hatte - bereits die einfache Anrechnung des Arbeitnehmers auf einen Pflichtarbeitsplatz als Motivation zur Einstellung ausreichte.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 197a SGG i. V. mit § 154 Abs. 1 und 2 Verwaltungsgerichtsordnung.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor; die Auslegung der anzuwendenden Vorschriften erfordert angesichts der aussagekräftigen Gesetzesmaterialien keine weitere Klärung.

Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 i. V. mit § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG). Die Wertfestsetzung des Sozialgerichts war dabei gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG zu ändern. Der Auffangstreitwert (§ 52 Abs. 2 GKG) kann nicht herangezogen werden, weil sich ein Streitwert beziffern lässt: Die Klägerin strebt eine Verringerung der von der Fraktion zu entrichtenden Ausgleichsabgabe nach § 77 SGB IX für die Dauer des Arbeitsverhältnisses des Arbeitnehmers während des Bestehens der Fraktion an, das heißt ab dem 15. Februar 2010 bis zum 22. Oktober 2013 (Tag der Konstituierung des Bundestages der 18. Wahlperiode und damit Ende der Wahlperiode des Bundestages der 17. Wahlperiode gemäß Art. 39 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz). Weil diese Ausgleichsabgabe - wie die Klägerin selbst zutreffend ausführt - erst nach Ablauf eines Kalenderjahres zusammen mit der Meldung nach § 80 Abs. 2 SGB IX anfällt und auch berechnet werden kann, besteht die Bedeutung der Sache im Sinne des § 52 Abs. 1 GKG darin, durch die Mehrfachanrechnung des Arbeitnehmers eine geringere Belastung oder den Wegfall einer etwaigen Abgabeverpflichtung zu erreichen. Weiter berücksichtigend, dass die Beschäftigungspflicht gegenüber der Pflicht zur Entrichtung der Ausgleichsabgabe Vorrang hat (s. § 77 Abs. 1 Satz 2 SGB IX) und von einem gesetzestreuen Arbeitgeber erwartet werden kann, dass er die Beschäftigungspflicht möglichst zu erfüllen anstrebt, ist dabei der niedrigste ihn möglicherweise treffende Wert der Ausgleichsabgabe heranzuziehen, der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V. mit Abs. 3 SGB IX bis 31. Dezember 2011 105,-- EUR und ab 1. Januar 115,-- EUR je Monat und unbesetztem Arbeitsplatz beträgt. Dies ergibt einen Betrag von [(15/28 + 10 + 12) x 105] + [12 + 9 + 22/31) x 115] = 4.862,86 EUR.

Gegen die Streitwertfestsetzung gibt es kein isoliertes Rechtsmittel (§ 68 Abs. 1 Satz 5 i.V. mit § 66 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 Satz 1 GKG).

Referenznummer:

R/R6425


Informationsstand: 29.01.2015