Der Senat konnte aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung über die Rechtsmittel entscheiden (§ 124
Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Die Berufungen sind statthaft. Für die (Anschluss-)Berufung der Klägerin galt die Berufungsfrist des § 151
Abs. 1
SGG nicht (s. stellvertretend
BSG, Urteil vom 5. Mai 2010 - B 6 KA 6/09 R -, SozR 4-2500 § 106
Nr. 27).
Die Klägerin ist gemäß § 70
Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) im sozialgerichtlichen Verfahren beteiligtenfähig. Sie ist kraft Gesetzes rechtsfähig und kann klagen und verklagt werden (§ 46
Abs. 1 und 2 Abgeordnetengesetz [AbgG]).
Die Klägerin hat auch ein Sachbescheidungsinteresse. Sie ist Rechtsnachfolgerin der Fraktion, welche mit dem Ende der 17. Wahlperiode ihre Rechtsstellung nach § 46 AbgG verloren hatte (§ 54
Abs. 7 AbgG).
Die Berufung der Beklagten ist begründet, die Anschlussberufung der Klägerin dagegen unbegründet.
Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf die geltend gemachte Zulassung zur Mehrfachanrechnung, über die gemäß
§ 104 Abs. 1 Nr. 8 SGB IX von der Beklagten zu entscheiden war, noch auf eine Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. Bereits die Voraussetzungen für eine Mehrfachanrechnung liegen nicht vor.
Die Fraktion war private Arbeitgeberin im Sinne des
§ 71 Abs. 1 SGB IX. Sie gehört nicht zu den Stellen, die durch § 71
Abs. 3
SGB IX als öffentliche Arbeitgeber definiert sind, im besonderen nicht zu den als ein öffentlicher Arbeitgeber zusammengefassten Verwaltungen des Deutschen Bundestages und Bundesrates (§ 71
Abs. 3
Nr. 1
SGB IX). Sie war kraft Gesetzes kein Teil der öffentlichen Verwaltung (§ 46
Abs. 3 AbgG).
Gemäß
§ 76 Abs. 1 Satz 1 SGB IX kann die Bundesagentur für Arbeit die Anrechnung eines schwerbehinderten Menschen, besonders eines schwerbehinderten Menschen im Sinne des
§ 72 Abs. 1 SGB IX, auf mehr als einen Pflichtarbeitsplatz, höchstens drei Pflichtarbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen zulassen, wenn dessen Teilhabe am Arbeitsleben auf besondere Schwierigkeiten stößt.
Gemäß § 76
Abs. 2 Satz 1
SGB IX wird ein schwerbehinderter Mensch, der beruflich ausgebildet wird, auf zwei Pflichtarbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen angerechnet (Satz 1). Bei Übernahme in ein Arbeits- oder Beschäftigungsverhältnis durch den ausbildenden oder einen anderen Arbeitgeber im Anschluss an eine abgeschlossene Ausbildung wird der schwerbehinderte Mensch im ersten Jahr der Beschäftigung auf zwei Pflichtarbeitsplätze angerechnet; Absatz 1 bleibt unberührt (Satz 4).
Die Fraktion hatte entgegen der Auffassung des Sozialgerichts keinen Anspruch auf Zulassung zur Mehrfachanrechnung nach § 76
Abs. 2 Satz 4
SGB IX.
Der Arbeitnehmer, der ein Hochschulstudium mit Erfolg beendet hat, verfügte nicht über eine abgeschlossene Ausbildung im Sinne der Vorschrift. Aus dem Regelungszusammenhang, im besonderen daraus, dass sich § 76
SGB IX im Abschnitt über die Beschäftigungspflicht von Arbeitgebern befindet, folgt, dass nur Ausbildungen im Sinne des § 76
Abs. 2 Satz 1
SGB IX - allenfalls noch Ausbildungen in Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation, die teilweise in Betrieben oder Dienststellen absolviert worden sind, mit der Folge der Gleichstellung nach § 76
Abs. 2 Satz 2
SGB IX - erfasst werden. Das sind ausschließlich solche in einem betrieblichen oder außerbetrieblichen Ausbildungsverhältnis, weil nur sie sich auf die Beschäftigungs- beziehungsweise Ausgleichsabgabepflicht nach §§ 72,
77 SGB IX auswirken und damit eine Mehrfachanrechnung während der Ausbildungszeit auslösen können.
Diese Auslegung wird durch die Gesetzesmaterialien bestätigt (
BT-Dr. 15/1783, 15). Danach sollte die Regelung des § 76
Abs. 2 Satz 4
SGB IX (im Gesetzesentwurf noch als § 76
Abs. 2 Satz 3
SGB IX enthalten) "die Bereitschaft der Arbeitgeber zur Übernahme schwerbehinderter Auszubildender in ein Arbeits- oder Beschäftigungsverhältnis erhöhen. Daher wird bei Übernahme eines schwerbehinderten Auszubildenden in ein Beschäftigungsverhältnis die Mehrfachanrechnung fortgeführt ... Diese Mehrfachanrechnung erfolgt auch dann, wenn der schwerbehinderte Jugendliche nach Abschluss seiner Ausbildung von einem anderen Betrieb übernommen wird."
Selbst wenn aber davon ausgegangen würde, dass die Ausbildung des Arbeitnehmers geeignet wäre, die Voraussetzungen des § 76
Abs. 2 Satz 4
SGB IX zu erfüllen, so fehlte es an einer "Übernahme" durch die Fraktion. Der Begriff ist nach dem allgemeinen Sprachgebrauch durch ein Moment der Unmittelbarkeit gekennzeichnet, welches eine zeitliche Nähe zwischen dem für den Eintritt der Rechtsfolge maßgeblichen Ausgangs- und Endzustand erfordert. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Begriff hier anders zu verstehen sein könnte. Dies ergibt sich wiederum aus den Gesetzesmaterialien (a.a.O.), nach denen "nur" die anschließende Übernahme des schwerbehinderten Menschen in ein Beschäftigungsverhältnis zu einer Mehrfachanrechnung führt. Der zeitliche Zusammenhang wird als gewahrt angesehen, "wenn die Beschäftigung bis zum Ablauf des Kalendermonats beginnt, der dem Kalendermonat der Beendigung der Ausbildung folgt". Unabhängig davon, ob diese sehr kurze Frist immer Geltung beanspruchen kann, steht eine längerdauernde Beschäftigungslosigkeit nach dem Abschluss einer Ausbildung - wie hier von deutlich mehr als einem Jahr - einer "Übernahme" in jedem Fall entgegen.
Für eine abweichende Auslegung im besonderen aufgrund über- oder zwischenstaatlichen Rechts gibt es keinen Grund. Die Regelung des § 76
Abs. 2 Satz 4
SGB IX ist sachlich begründet.
Der angefochtene Bescheid ist aber insoweit nicht zu beanstanden, als die Fraktion nicht gemäß § 76
Abs. 1 Satz 1
SGB IX zur Mehrfachanrechnung zugelassen worden ist.
Die Vorschrift entspricht praktisch wortgleich § 6
Abs. 6 Satz 1 des
SchwbG in der Fassung des Gesetzes zur Weiterentwicklung des
SchwbG vom 24. April 1974 (BGBl. I
S. 981; in der Fassung der Neubekanntmachung vom 24. April 1974, BGBl. I S: 1005 § 7
Abs. 6
SchwbG, in späteren Gesetzesfassungen dann § 7b
Abs. 1
bzw. § 10
Abs. 1
SchwbG). Die Vorschrift wurde damit begründet, dass sie "dem Arbeitsamt die Unterbringung Schwerbehinderter in schwierigen Fällen ermöglichen" solle. Dazu gehöre "namentlich die Unterbringung Schwerbehinderter ..., die in vorgerücktem Alter stehen" (BT-
Dr. 7/656,29). Bereits nach damaligem Recht reichte es deshalb nicht aus, dass ein Arbeitnehmer einer vom Gesetz besonders herausgehobenen Gruppe schwerbehinderter Menschen zugehörte (das
SchwbG enthielt eine dem § 72
Abs. 1
SGB IX entsprechende Regelung in § 4
bzw. § 5).
Worin die besonderen Schwierigkeiten liegen sollten, welche der Teilhabe des Arbeitnehmers am Arbeitsleben entgegenstünden, wird nicht ersichtlich. Zwar war er nach erfolgreichem Abschluss seines Studiums mehr als ein Jahr und damit im Sinne der gesetzlichen Definition des
§ 18 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch langzeitarbeitslos. Zum einen gibt es aber keinen Anhaltspunkt dafür, dass dies vorrangig auf seine Behinderung und nicht auf andere Umstände (
z.B. das ausgewählte Studienfach) zurückzuführen wäre. Zum anderen hat die Fraktion den Arbeitsvertrag mit dem Arbeitnehmer abgeschlossen, noch bevor sie den Antrag auf Mehrfachanrechnung gestellt hat. Dies indiziert, dass - soweit dies überhaupt Einfluss auf den Vertragsschluss hatte - bereits die einfache Anrechnung des Arbeitnehmers auf einen Pflichtarbeitsplatz als Motivation zur Einstellung ausreichte.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 197a
SGG i. V. mit § 154
Abs. 1 und 2 Verwaltungsgerichtsordnung.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160
Abs. 2
SGG), liegen nicht vor; die Auslegung der anzuwendenden Vorschriften erfordert angesichts der aussagekräftigen Gesetzesmaterialien keine weitere Klärung.
Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 63
Abs. 2 Satz 1
i. V. mit § 52
Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG). Die Wertfestsetzung des Sozialgerichts war dabei gemäß § 63
Abs. 3 Satz 1 GKG zu ändern. Der Auffangstreitwert (§ 52
Abs. 2 GKG) kann nicht herangezogen werden, weil sich ein Streitwert beziffern lässt: Die Klägerin strebt eine Verringerung der von der Fraktion zu entrichtenden Ausgleichsabgabe nach § 77
SGB IX für die Dauer des Arbeitsverhältnisses des Arbeitnehmers während des Bestehens der Fraktion an, das heißt ab dem 15. Februar 2010 bis zum 22. Oktober 2013 (Tag der Konstituierung des Bundestages der 18. Wahlperiode und damit Ende der Wahlperiode des Bundestages der 17. Wahlperiode gemäß
Art. 39
Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz). Weil diese Ausgleichsabgabe - wie die Klägerin selbst zutreffend ausführt - erst nach Ablauf eines Kalenderjahres zusammen mit der Meldung nach
§ 80 Abs. 2 SGB IX anfällt und auch berechnet werden kann, besteht die Bedeutung der Sache im Sinne des § 52
Abs. 1 GKG darin, durch die Mehrfachanrechnung des Arbeitnehmers eine geringere Belastung oder den Wegfall einer etwaigen Abgabeverpflichtung zu erreichen. Weiter berücksichtigend, dass die Beschäftigungspflicht gegenüber der Pflicht zur Entrichtung der Ausgleichsabgabe Vorrang hat (s. § 77
Abs. 1 Satz 2
SGB IX) und von einem gesetzestreuen Arbeitgeber erwartet werden kann, dass er die Beschäftigungspflicht möglichst zu erfüllen anstrebt, ist dabei der niedrigste ihn möglicherweise treffende Wert der Ausgleichsabgabe heranzuziehen, der gemäß § 77
Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 i.V. mit
Abs. 3
SGB IX bis 31. Dezember 2011 105,--
EUR und ab 1. Januar 115,--
EUR je Monat und unbesetztem Arbeitsplatz beträgt. Dies ergibt einen Betrag von [(15/28 + 10 + 12) x 105] + [12 + 9 + 22/31) x 115] = 4.862,86
EUR.
Gegen die Streitwertfestsetzung gibt es kein isoliertes Rechtsmittel (§ 68
Abs. 1 Satz 5 i.V. mit § 66
Abs. 3 Satz 2 und
Abs. 4 Satz 1 GKG).