Urteil
Anfechtung eines Arbeitsvertrages wegen Verschweigens einer Behinderung

Gericht:

LAG Hamm


Aktenzeichen:

5 Sa 702/98


Urteil vom:

22.01.1999


1. Nicht jede falsche Angabe des Arbeitnehmers bei der Einstellungsverhandlung stellt eine arglistige Täuschung dar, sondern nur eine falsche Antwort auf eine zulässige Frage.

2. Zur Auslegung des § 1234 BGB.

Rechtsweg:

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Quelle:

Behindertenrecht 06/1999

Die Klage ist begründet, weil das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung fortbestanden hat.

a) Das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien ist nicht durch die Anfechtungserklärung des beklagten Landes vom 26.9.1997 mit Wirkung zum 30.9.1997 aufgelöst worden.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann ein Arbeitsvertrag auch durch Anfechtung gemäß § 123 Abs. 1 BGB beendet werden, worauf sich das beklagte Land in erster Linie stützt. Dabei setzt der Tatbestand der arglistigen Täuschung gemäß § 123 Abs. 1 BGB, für den der Anfechtende in vollem Umfang darlegungs- und beweispflichtig ist (BAG, Urteil vom 15.5.1997 - 2 AZR 43/96 - NZA 1998, 33 unter II 1. der Entscheidungsgründe m.w.N.), in objektiver Hinsicht voraus, daß der Täuschende durch Vorspiegelung oder Entstellung von Tatsachen beim Erklärungsgegner einen Irrtum erregt und ihn zur Abgabe einer Willenserklärung (Vertragsangebot oder -annahme) veranlaßt. Die Täuschung kann auch in einem Verschweigen von Tatsachen bestehen, wenn der Erklärende zur Offenbarung der entsprechenden Tatsache verpflichtet ist. Nicht jede falsche Angabe des Arbeitnehmers bei den Einstellungsverhandlungen stellt danach bereits eine arglistige Täuschung im Sinne des § 123 Abs. 1 BGB dar, sondern nur eine falsche Antwort auf eine zulässig gestellte Frage (BAG, Urteil vom 5.10.1995 - 2 AZR 923/94 - br 1996, 121 = NZA 1996, 371 unter B. II 1. der Entscheidungsgründe m.w.N.).

Eine etwaige Täuschung des Klägers durch unzutreffende Beantwortung von Fragen im Rahmen der Einstellungsuntersuchung bzw. durch Nichtoffenbaren seines Anfallsleidens hat das beklagte Land schon deshalb nicht zur Anfechtung des Arbeitsvertrages vom 31.3.1991 mit Schreiben vom 29.9.1997 berechtigt, weil das Tun bzw. Unterlassen des Kägers nicht kausal war für die vom beklagten Land im Rahmen des Vertragsabschlusses am 29.1.1991 abgegebene Willenserklärung. Eine etwaige Täuschung durch den Kläger war nämlich für den Willensentschluß des beklagten Landes schon deshalb nicht mitbestimmend, weil das beklagte Land seine Erklärung zum Abschluß des Arbeitsvertrages bereits am 29.1.1991 abgegeben, der Kläger eine etwaige Täuschungshandlung jedoch erst bei der Einstellungsuntersuchung am 25.3.1991 vorgenommen hat. Dies räumt das beklagte Land auf Seite 5 der Berufungsbegründung vom 5.6.1998 im Grunde auch ein, in dem es vorträgt, die entsprechende Feststellung des Arbeitsgerichts sei vordergründig richtig, erfasse aber nicht das Wesentliche. Die von dem beklagten Land in diesem Zusammenhang angestellten Erwägungen, der Arbeitsvertrag habe unter dem Vorbehalt der gesundheitlichen Eignung des Klägers gestanden, den Eintritt dieser auflösenden Bedingung habe der Kläger arglistig verhindert, sodass er so zu behandeln sei, als sei die Bedingung eingetreten (§ 162 BGB), ändern nichts daran, dass das Anfechtungsrecht selbst gemäß § 123 Abs. 1 BGB vom Vorliegen eines Willensmangels beim Anfechtenden zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abhängt, auf dem seine Willenserklärung beruht. Hiermit hat das beklagte Land insbesondere nicht vorgetragen, dass es durch die von ihm behauptete wahrheitswidrige Beantwortung einiger Fragen bei der Einstellungsuntersuchung durch den Kläger ursächlich zum Abschluß des Arbeitsvertrages selbst mit dem Kläger als Fluggastkontrolleur bestimmt worden ist (vgl. BAG, Urteil vom 1.8.1985 - 2 AZR 101/83 - br 1986, 90/92 = DB 1986, 2238/ 2239 am Ende der Entscheidungsgründe).

Die von dem beklagten Land mit Schreiben vom 29.9.1997 erklärte Anfechtung der von ihm am 31.1.1991 abgegebenen Willenserklärung vermag auch deswegen nicht zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu führen, weil die Parteien in der Folge den ursprünglichen Arbeitsvertrag vom 29./31.1.1991 durch vier befristete Änderungsverträge und dann durch den unbefristeten Arbeitsvertrag vom 20.12.1993 ersetzt haben. Die Parteien haben mit dem vorbehaltlosen Abschluß eines neuen, unbefristeten Arbeitsvertrages ihre Rechtsbeziehungen auf eine neue Grundlage gestellt. Das Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses kann nicht daraus hergeleitet werden, dass die Parteien früher einmal, nämlich am 29.1.1991, einen bis zum 30.6.1991 befristeten Arbeitsvertrag abgeschlossen haben und allein dieser Arbeitsvertrag durch das beklagte Land - ob zu Recht oder zu Unrecht, kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben - mit seinem Schreiben vom 29.9. 1997 angefochten wurde.

b) Auch die von dem beklagten Land mit Schreiben vom 23.6.1998 gemäß § 123 Abs. 1 BGB wegen arglistiger Täuschung erklärte Anfechtung der Folgeverträge, insbesondere des Vertrages vom 20.12.1993, hat nicht zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses geführt.

Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob das beklagte Land eine Täuschung des Klägers, die ursächlich gewesen ist für den Abschluß des Arbeitsvertrages vom 23.12.1993, überhaupt hinreichend vorgetragen hat. Selbst wenn man unterstellt, daß sich das beklagte Land insoweit ebenfalls auf das Verhalten des Klägers bei der Einstellungsuntersuchung am 25.3.1991 hat berufen wollen, hat ein Anfechtungsrecht nicht vorgelegen.

Nach allgemeiner Meinung wird dem Arbeitgeber ein Fragerecht nur insoweit zugestanden, als er ein berechtigtes, billigenswertes und schützenswertes Interesse an der Beantwortung seiner Fragen für das Arbeitsverhältnis hat (BAG, Urteil vom 7.6.1984 - 2 AZR 270/83 - br 1985, 14 = AP Nr. 26 zu § 123 BGB unter II 4.a) der Entscheidungsgründe). Ein solches berechtigtes Interesse ist nur dann gegeben, wenn das Interesse des Arbeitgebers so gewichtig ist, dass dahinter das Interesse des Arbeitnehmers, seine persönlichen Lebensumstände zum Schutz seines Persönlichkeitsrechts und zur Sicherung der Unverletzlichkeit seiner Individualsphäre geheimzuhalten, zurückzutreten hat (BAG, Urteil vom 5.10.1995 a.a.O. ). Ein solches berechtigtes Interesse des beklagten Landes ist vorliegend zu verneinen. Die Nichtbeantwortung bzw. die unzutreffende Beantwortung des Klägers von Fragen, die ihm im Rahmen der Einstellungsuntersuchung gestellt worden sind, hat nicht gegen Treu und Glauben verstoßen; das beklagte Land als Vertragspartner hätte unter den hier gegebenen Umständen auch nicht die Mitteilung der verschwiegenen Tatsachen erwarten dürfen (BAG, Urteil vom 15.5.1997 a.a.O.).

Das Anfallsleiden des Klägers hat nämlich die Eignung des Klägers für die vorgesehene Tätigkeit eines Fluggastkontrolleurs nicht beeinträchtigt. Der Hinweis des beklagten Landes auf die geltenden Richtlinien des Bundesministers des Inneren reichen zur Begründung einer gegenseitigen Annahme angesichts des Krankheitsbildes des Klägers nicht aus. Nach den geltenden Richtlinien sind Ausschlußkriterien zwar solche Erkrankungen, die in erhöhtem Ausmaß die Gefahr eines plötzlichen Versagens der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit in sich tragen. Dabei werden in den Richtlinien epileptische Anfälle auch beispielhaft erwähnt. Wie der begutachtende Antsarzt in seinem Bericht vom 12.9.1997 jedoch zutreffend erwähnt, wird in den genannten Richtlinien nicht berücksichtigt, daß epileptische Anfälle sehr unterschiedliche Ausdrucksformen und Anfallshäufigkeiten haben können. Der Kläger leidet zwar unter epileptischen Anfällen. Das bei ihm diagnostizierte Krankheitsbild einer sogenannten Schlafepilepsie schließt jedoch die Gefahr eines plötzlichen Versagens der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit während der Ausübung seiner Tätigkeit weitestgehend aus. Dies ergeibt sich auch aus der vom Kläger erstinstanzlich vorgelegten Broschüre des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe über die Epilepsie. Dort heißt es ausdrücklich, bei der Schlafepilepsie sei das Gefährdungsrisiko so gering, dass man in der Regel nicht von fehlender Eignung für die vorgesehene Tätigkeit sprechen kann. Demgemäß wird in der Erläuterung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe unter der Rubrik "Ratgeber Recht" auch ausgeführt, die Epilepsie könne verschwiegen werden, wenn Anfälle länger als drei Jahre ausschließlich aus dem Schlaf heraus aufgetreten sind. Der Kläger rügt zu Recht, dass das beklagte Land demgegenüber pauschal und undifferenziert unterstellt, dass epileptische Anfälle Erkrankungen seien, die in erhöhtem Ausmaß die Gefahr eines plötzlichen Versagens der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit an sich tragen. Unstreitig war die bei ihm diegnostizierte Schlafepilepsie vor seiner Einstellung ausschließlich im Schlaf aufgetreten. Das beklagte Land hätte insbesondere auch aufgrund der Stellungnahme des Amtsarztes vom 12.9.1997, in der die in den Richtlinien fehlende Differenzierung der unterschiedlichen Formen der Anfallsleiden gerügt wird, Anlaß gehabt, vor Erklärung einer Anfechtung den Kläger näher zu seinem Anfallsleiden zu befragen. Besonders diskriminierend stellt es sich für den Kläger dar, dass das beklagte Land nähere Nachforschungen nicht einmal vor Ausspruch der nachgeschobenen Anfechtungserklärung vom 23.6.1998 angestellt hat, obwohl er im Verlaufe des erstinstanzlichen Verfahrens sein Anfallsleiden im einzelnen erläutert und das beklagte Land auf die Broschüre des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe aus dem Jahre 1996 mit den darin gegebenen Hinweisen ausdrücklich hingewiesen hatte.

Selbst wenn ein Anfechtungsrecht des beklagten Landes bestünde, wäre die Berufung des beklagten Landes hierauf gemäß § 242 BGB als treuwidrig anzusehen.

Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung steht nämlich auch die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung unter dem Vorbehalt von Treu und Glauben; sie ist ausgeschlossen, wenn die Rechtslage des Getäuschten im Zeitpunkt der Ausübung des Anfechtungsrechts durch die arglistige Täuschung nicht mehr beeinträchtigt ist. Bei der Ausübung des Anfechtungsrechts muß nämlich die Entwicklung beachtet werden, die das Arbeitsverhältnis in der Vergangenheit genommen hat. In solchen Fällen, in denen etwa nach einer jahrelangen Tätigkeit der Umstand völlig verblasst ist, dass ein Vertragspartner bei Eingehung des Arbeitsverhältnisses seine Willenserklärung irrtümlich (§ 119 BGB) oder aufgrund einer Täuschung (§ 123 BGB) abgegeben hat, kann die Geltendmachung des Anfechtungsgrundes gegen Treu und Glauben verstoßen (BAG, Urteil vom 12.2.1970 - 2 AZR 184/69 - AP Nr. 17 zu § 123 BGB; BAG, Urteil vom 18.9.1987 - 7 AZR 507/86 - AP Nr. 32 zu § 123 BGB; BAG, Urteil vom 5.10.1995 - 2 AZR 923/94 - br 1996, 121/124 = NZA 1996, 371 am Ende der Entscheidungsgründe). So liegt der Sachverhalt hier. Die Beschäftigungszeit des Klägers zwischen Einstellung und Anfechtung hat mehr als sechs Jahre betragen. Der Vertreter des beklagten Landes hat hierzu im Gütetermin vor dem Arbeitsgericht am 11.11.1997 selbst erklärt, bis zum Sommer 1997 habe es im Arbeitsverhältnis weder Störungen noch Anlass gegeben, das Verhalten des Klägers zu rügen, abzumahnen oder dem Kläger sonstig einen Verweis zu erteilen, das Arbeitsverhältnis habe vielmehr insoweit beanstandungsfrei abgewickelt werden können. Das beklagte Land hat in keiner Weise vorgetragen, dass das Anfallsleiden des Klägers die Eignung des Klägers für die von ihm vertraglich geschuldete Leistung überhaupt beeinträchtigt. Allein der Hinweis darauf, dass der Kläger sein Anfallsleiden am 4.7.1997 offenbart hat und seinerseits möglicherweise erklärt hat, er habe in einer ganz besonderen Situation, nämlich als Mehrarbeit zu leisten war, die mit besonderen Stressfaktoren verbunden war, möglicherweise einen Anfall erlitten, genügt insoweit nicht. Insbesondere trägt das beklagte Land allein hierdurch nicht vor, der Kläger leide nicht an Schlafepilepsie, sondern an einer anderen Form der Epilepsie. Wenn aber der Kläger unter normalen Umständen in vollem Umfang in der Lage war und ist, seine Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis zu erfüllen, war nach objektiver Sachlage eine Beeinträchtigung berechtigter Interessen des beklagten Landes im Zeitpunkt der Anfechtungserklärung nicht zu befürchten. Der von dem beklagten Land behauptete Anfechtungsgrund - falsche Beantwortung von Fragen bei der Einstellungsuntersuchung - hatte vielmehr im Zeitpunkt der Anfechtungserklärung seine Bedeutung verloren.

Auch die Erwägungen des beklagten Landes, bei dem ersten Arbeitsvertrag habe es sich um einen bedingten Arbeitsvertrag gehandelt, der Kläger habe den Eintritt der Bedingung arglistig herbeigeführt, sadass er so zu behandeln sei, als ob die Bedingung eingetreten sei (§ 162 BGB), rechtfertigen nicht die Annahme der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ex nunc. Wie dargelegt, war der Kläger für die vorgesehene Tätigkeit gesundheitlich geeignet.

Referenznummer:

R/R1251


Informationsstand: 09.11.1999