Urteil
Zustimmung des Integrationsamts zur krankheitsbedingten Kündigung aufgrund hoher Fehlzeiten und gescheiterten Eingliederungsversuchen

Gericht:

VG Augsburg 3. Kammer


Aktenzeichen:

Au 3 K 11.1470 | 3 K 11.1470


Urteil vom:

07.02.2012


Grundlage:

Tenor:

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Zustimmung des Beklagten zur ordentlichen Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses.

1. Die 1961 geborene Klägerin ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 90; diesem liegt u.a. die Gesundheitsstörung einer Schwerhörigkeit beidseits (Einzel-GdB: 70) zugrunde. Die Klägerin ist bei der Beigeladenen, einem Omnibushersteller, bzw. deren Rechtsvorgängerin seit August 1983 als Näherin eingestellt (die Betriebszugehörigkeit ist ab dem 24.10.1980 anerkannt). Jedenfalls ab Januar 2000 bis Juli 2008 war die Klägerin als Gruppenführerin im Bereich Zuschnitt/Näherei tätig.

Unter dem 11. Oktober 2010 beantragte die Beigeladene beim Zentrum Bayern Familie und Soziales, Region ... - Integrationsamt - in ... die Zustimmung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin wegen hoher Fehlzeiten seit dem Jahr 2006 und negativer Zukunftsprognose. Die Klägerin sei im Jahr 2006 80 Tage, im Jahr 2007 93 Tage, im Jahr 2008 103 Tage, im Jahr 2009 121 Tage und im Jahr 2010 bis zum 7. September 2010 139 Tage krank gewesen. Seit Januar 2000 sei sie im Bereich Zuschnitt/Näherei als Gruppenführerin tätig gewesen. Im Jahr 2004 habe es Personalgespräche wegen erhöhter Fehlzeiten und der Schwerhörigkeit gegeben, die Beigeladene habe im Juni 2005 einen technischen Berater hinzugezogen, um die Klägerin dabei zu unterstützen, Hörgeräte zu testen. Die Klägerin habe sich geweigert, ein Hörgerät zu tragen, da es in der Arbeitssituation nicht optimal funktioniere. Aufgrund der hohen Fehlzeiten und der fehlenden Qualifizierung durch eine Gruppenführerschulung sei die Klägerin seit Juli 2008 nicht mehr als Gruppenführerin tätig. Im Rahmen des betrieblichen Eingliederungsmanagements hätten mehrere Gespräche und Arbeitsversuche auf leidensgerechten Arbeitsplätzen stattgefunden (im Einzelnen im Kleinteilelager ab 9.3.2009 für etwa zwei Wochen, im Zollmanagement vom 23.3. bis 30.4.2009, auf dem Arbeitsplatz Arbeitsbekleidung vom 12.5. bis 29.6.2009, in der Kantine ab 7.7.2009 für etwa ein bis zwei Wochen und im Bereich Wareneingangsbuchung/Logistik vom 19.4. bis 31.4.2010 - mit der Ausübung der Tätigkeiten in der Wareneingangsbuchung sei die Klägerin völlig überfordert gewesen), welche aufgrund körperlicher und fachlicher Einschränkungen gescheitert seien. Der Klägerin habe nur noch der Arbeitsplatz als Näherin angeboten werden können.

Mit Schreiben vom 25. Oktober 2010 trug der Bevollmächtigte der Klägerin vor, ein ausreichendes betriebliches Eingliederungsmanagement mit begleitenden Qualifizierungsmaßnahmen habe nicht stattgefunden. Die Klägerin sei als Gruppenführerin in der Näherei, einem Arbeitsplatz mit überwiegend administrativen Anforderungen, zu beschäftigen; diese Anforderungen könne die Klägerin erfüllen. Im Jahr 2008 sei aufgrund Täuschung eine neue Gruppenleiterin gewählt und der Klägerin der Arbeitsplatz als einfache Näherin zugewiesen worden, der zu den erheblichen Krankheitszeiten geführt habe, weil er nicht leidensgerecht sei. Hinsichtlich des Arbeitsversuches im Bereich "MLO Logistik" im Rahmen des betrieblichen Eingliederungsmanagements vom April 2010 habe der Betriebsarzt eine wechselnde Tätigkeit mit ergonomischem Arbeitsstuhl und Handgelenksauflage als notwendig erachtet. Diese Maßnahmen seien nicht erfolgt.

Mit Stellungnahme vom 27. Oktober 2010 führte der Betriebsrat im Wesentlichen aus, die Fehlzeiten seien darauf zurückzuführen, dass die Klägerin in den Jahren 2006 und 2007 Verhältnissen ausgesetzt gewesen sei, die an systematisches Mobbing - durch ihre damalige Teamleiterin - grenzten. Die Art des Umgangs zu dieser Zeit habe die Klägerin psychisch krank gemacht. Trotz mündlicher Vereinbarung sei kein geeigneter Arbeitsplatz außerhalb der Sitzfertigung bereitgestellt worden. Die Klägerin habe eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen sollen, wenn sie die Tätigkeit als Näherin im Akkord nicht ausführen könne; diese sei der Klägerin aufgrund ihres Gesundheitszustandes nicht möglich gewesen, so dass erhebliche Fehlzeiten zustande kamen. Es sei kein betriebliches Eingliederungsmanagement durchgeführt worden, es hätten lediglich Personal- bzw. Fehlzeitengespräche stattgefunden. Die Mehrkosten für ein Hörgerät, welches den Umgebungslärm herausfiltere und eine Verbesserung der Hörleistung bringe, habe das Integrationsamt nicht übernommen. Nachdem die Klägerin im Jahr 2007 wegen einer Magenspiegelung an einer Gruppenführerschulung nicht teilgenommen habe, sei hinsichtlich der Qualifikation nichts mehr unternommen worden. Die Arbeitsversuche hätten aufgrund der konkreten Belastungen bzw. Anforderungen sowie mangels Einarbeitung nicht erfolgreich sein können.

Das Integrationsamt führte am 10. Januar 2011 eine Aussprache mit dem Ergebnis durch, dass die Beigeladene einen Arbeitsplatz bereitstelle und die Klägerin qualifiziere.

Die Beigeladene trug hierzu vor, dass der mit dem Integrationsamt abgestimmte Arbeitsversuch als Lageristin trotz Excel- und SAP-Einzelschulung und begleitender Einarbeitung gescheitert sei. Die Klägerin sei nach der üblichen Einarbeitungszeit von drei bis fünf Tagen nicht in der Lage gewesen, die Aufgaben selbständig zu erledigen, es seien vermehrt Fehler aufgetreten und die Klägerin sei seit 21. März 2011 bis auf Weiteres arbeitsunfähig erkrankt. Ein anderer leidensgerechter Arbeitsplatz sei - auch nach eigenen Angaben der Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht ... - im Unternehmen nicht vorhanden. Die krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeitstage (176 Tage im Jahr 2010, 129 Tage bis zum 19.8.2011) zeigten, dass von einer negativen Prognose auszugehen sei. Die Position der Gruppenleiterin stelle keinen leidensgerechten Arbeitsplatz dar, nach dem Attest der Klinik ... vom 13. August 2008 sei die Klägerin nicht in der Lage, die prägenden Tätigkeiten einer Gruppenführerin zu leisten. Es handle sich bei der Position um eine Zusatzfunktion, die aufgrund der Betriebsvereinbarung eine Wahl durch die Gruppe und den Meister erfordere.

Die Klägerin führte hierzu aus, aufgrund der Schikane durch den Arbeitgeber wegen ihrer Schwerhörigkeit sei sie psychisch erkrankt, das Attest vom 13. August 2008 sei nicht mehr aktuell. Für den Arbeitsversuch habe sie sich das geforderte Hörgerät besorgt, sie habe jedoch keine Chance erhalten, da sie vom Meister "geblockt" worden sei. Die unsubstantiierte Behauptung, die Leistung sei mangelhaft gewesen, werde zurückgewiesen.

Der die Klägerin behandelnde Facharzt für Neurologie und Psychiatrie teilte unter dem 11. August 2011 auf Anfrage des Integrationsamtes im Wesentlichen mit, die Klägerin könne die Tätigkeit als Näherin in vollem Umfang auf Dauer ausüben. Das Verhältnis am Arbeitsplatz scheine zerrüttet, er habe der Klägerin dringend geraten, sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen. Im Übrigen lägen keine objektiven Tatsachen vor, welche die Besorgnis weiterer Erkrankungen rechtfertigten. Ein Vermerk vom 29. August 2011 (Bl. 130 der Behördenakte) beinhaltet, der Arzt habe auf telefonische Nachfrage bestätigt, dass bei einem Verbleib der Klägerin an Ihrem Arbeitsplatz bei der Beigeladenen mit weiteren Erkrankungen und hohen Fehlzeiten zu rechnen sei.

Mit Bescheid vom 30. August 2011 stimmte das Integrationsamt der Kündigung der Klägerin aus krankheitsbedingten Gründen zu. Bei Abwägung der beiderseitigen Interessen sei dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr länger zumutbar. Die Klägerin sei nach Einschätzung des behandelnden Arztes auf Dauer nicht mehr in der Lage, die geschuldete Arbeitsleistung beim jetzigen Arbeitgeber zu erbringen. Wesentlich sei der Wechsel des Arbeitsumfeldes; nur an einem anderen Arbeitsplatz sei nicht mehr mit unüblichen Fehlzeiten von mehr als sechs Wochen jährlich zu rechnen. Nach der ständigen Rechtsprechung sei eine Kündigung wegen lang anhaltender Krankheit dann gerechtfertigt, wenn eine negative Prognose hinsichtlich des voraussichtlichen Gesundheitszustandes vorliege, und die Dauererkrankung zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führe. Dauererkrankungen gleichgestellt seien die Fälle, in denen die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit völlig ungewiss sei.

Mit Urteil vom 29. November 2010, Az. ..., hat das Arbeitsgericht ... die Klage der Klägerin auf Beschäftigung als Gruppenführerin in der Näherei abgewiesen; die hiergegen eingelegte Berufung hat das Landesarbeitsgericht ... mit Urteil vom 14. Juli 2011, Az. ..., zurückgewiesen.

2. Die Klägerin beantragt:

Der Bescheid des Beklagten vom 30. August 2011 wird aufgehoben.

Die Behörde stütze ihre Zustimmung zur mittlerweile erklärten Kündigung auf die angebliche fachärztliche Stellungnahme, wonach die Klägerin nicht mehr in der Lage sei, die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen. Diese Stellungnahme bestätige jedoch gerade das Gegenteil. Nach einem nicht weiter benannten Gutachten sei damit zu rechnen, dass die Fehlzeiten der Klägerin nur an einem anderen Arbeitsplatz zurückgingen. Im Rahmen der Interessenabwägung werde ausschließlich das betriebliche Interesse herangezogen, nicht aber das Interesse der Klägerin am Erhalt des Arbeitsplatzes sowie, dass ein leidensgerechter Arbeitsplatz im Bereich Logistik zur Verfügung stehe. Es bestehe ein Restleistungsvermögen der Klägerin am Vertragsarbeitsplatz von zwei bis drei Stunden täglich. Die personenbedingte Kündigung sei offensichtlich sozialwidrig.

3. Das Integrationsamt beantragt für den Beklagten,

die Klage abzuweisen.

Die ordnungsgemäße Durchführung eines Präventionsverfahrens sei keine formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die Zustimmungsentscheidung; die fehlende Durchführung könne jedoch im Rahmen der Ermessensentscheidung zu Lasten des Arbeitgebers gewertet werden, wenn andernfalls die Möglichkeit bestanden hätte, die Kündigung zu vermeiden. Aufgrund der ärztlichen Stellungnahme vom 11. August 2011 sei nicht erkennbar, wie durch ein betriebliches Eingliederungsmanagement eine Kündigung hätte vermieden werden können.

4. Mit Beschluss vom 7. Oktober 2011 wurde die Arbeitgeberin der Klägerin zum Verfahren beigeladen. Sie führt aus, die Klage sei abzuweisen, da die Zustimmung zur Kündigung rechtmäßig sei. Aus den Fehlzeiten der Vergangenheit und den Mitteilungen der Klägerin im Rahmen von Gesprächen und Gerichtsverhandlungen sei eine negative Prognose zu stellen, so dass auch künftig mit weiteren erheblichen krankheitsbedingten Fehlzeiten zu rechnen sei. Eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit bestehe nicht. Die im Rahmen des betrieblichen Eingliederungsmanagements durchgeführten Arbeitsversuche seien alle gescheitert; dieses sei eingeleitet worden, nachdem es die Klägerin abgelehnt habe weiter als Näherin tätig zu sein. Der Vortrag, dieser Arbeitsplatz sei leidensgerecht, werde daher mit Nichtwissen bestritten. Die Beigeladene habe größte Anstrengungen darauf verwendet, die Klägerin trotz krankheitsbedingter Leistungseinschränkungen weiterzubeschäftigen. Die Entgeltfortzahlungskosten beliefen sich auf insgesamt 74.225,22 EUR, für das Jahr 2010 auf 23.203,79 EUR und für das Jahr 2011 auf 9.260,18 EUR (Stand: 22.8.2011). Das Bestehen eines Restleistungsvermögens werde bestritten, ebenso ein Zusammenhang zwischen der Krankheit der Klägerin und dem Verhalten der Beigeladenen ihr gegenüber.

5. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsakten Bezug genommen.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

BAYERN.RECHT

Entscheidungsgründe:

Das Verwaltungsgericht kann ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der angefochtene Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales Region ... - Integrationsamt - vom 30. August 2011 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Die Anfechtungsklage ist zulässig. Das Gericht hält die Zweifel dahingehend, ob eine Rechtsbehelfsbelehrung, die entsprechend Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung (AGVwGO) auf ein (lediglich) fakultatives Widerspruchsverfahren hinweist, im Hinblick auf § 118 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgesetzbuches Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) zutreffend ist bzw. richtig erteilt wurde, nicht aufrecht. Mit Erlass des Art. 15 Abs. 1 AGVwGO wurde für Verwaltungsakte bayerischer Behörden ab dem 1. Juli 2007 das fakultative Widerspruchsverfahren eingeführt und - auch nach Ansicht des bayerischen Landesgesetzgebers (vgl. LT-Drs. 15/7252 S. 10) - von der Öffnungsklausel des § 68 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO, die der Bundesgesetzgeber zum 1. Januar 1997 in der derzeit gültigen Fassung normiert hatte, für abweichende landesrechtliche Regelungen Gebrauch gemacht. (Solche Regelungen waren nach § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO a. F. nicht möglich gewesen, da hiernach Ausnahmen nur "für besondere Fälle" vorgesehen waren.) Im Übrigen erachteten auch die Bayerischen Verwaltungsgerichte München und Ansbach die unmittelbare Klageerhebung als zulässig (vgl. VG München vom 22.9.2011 Az. M 15 K 10.4594 (juris); VG Ansbach vom 20.5.2010 Az. AN 14 K 09.02476 (juris)).

2. Rechtsgrundlage für die erteilte Zustimmung ist § 85 SGB IX, wonach die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen im Sinne von § 2 Abs. 2 SGB IX durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes bedarf. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt ist insoweit der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, hier der Erlass des Bescheides am 30. August 2011. Die Zustimmungsbehörde hat also für Ihre Entscheidungsfindung all diejenigen Umstände zu berücksichtigen, die bis zu diesem Zeitpunkt von den Beteiligten an sie herangetragen worden sind oder die sich sonst hätten aufdrängen müssen (vgl. BayVGH vom 17.9.2009 Az. 12 B 09.52).

a) Der streitgegenständliche Bescheid begegnet in formeller Hinsicht keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken, insbesondere wurden die Klägerin, die Schwerbehindertenvertretung und der Betriebsrat der Beigeladenen zur beantragten Zustimmung angehört (§ 87 Abs. 2 SGB IX). Auch ist die Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 84 SGB IX, wozu u.a. ein betriebliches Eingliederungsmanagement zählt (§ 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX), keine Rechtmäßigkeitsvorausetzung für die Zustimmungsentscheidung des Integrationsamtes (BVerwG vom 29.8.2007 NJW 2008, 166; BayVGH vom 5.10.2011 Az. 12 B 10.2811 (juris)).

b) Die Zustimmung des Beklagten zur ordentlichen Kündigung der Klägerin aus krankheitsbedingten Gründen verletzt auch nicht materielles Recht.

Die Entscheidung über die Zustimmung zur Kündigung oder deren Versagung liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Integrationsamtes, wobei die vom Arbeitgeber geltend gemachten Kündigungsgründe mit den Schutzinteressen des behinderten Arbeitnehmers unter Berücksichtigung der in § 89 SGB IX vorgesehenen Einschränkungen abwägen sind (vgl. BayVGH vom 28.9.2010 Az. 12 B 10.1088 (juris)). Die Ermessensentscheidung unterliegt gemäß § 114 Satz 1 VwGO nur einer eingeschränkten gerichtlichen Prüfung dahingehend, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

Zu überprüfen ist dabei auch, ob das Integrationsamt den der Ermessensentscheidung zugrunde gelegten Sachverhalt zutreffend ermittelt und seiner Aufklärungspflicht aus § 20 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) genügt hat. Das Integrationsamt hat, anknüpfend an den Antrag des Arbeitgebers auf Zustimmung zur Kündigung, all das zu ermitteln und zu berücksichtigen, was erforderlich ist, um die Interessen des Arbeitgebers und des schwerbehinderten Arbeitnehmers gegeneinander abwägen zu können (BVerwG vom 19.10.1995, BVerwGE 99, 336).

Bei einer personenbedingten Kündigung aus Krankheitsgründen, wie sie hier in Streit steht, hat das Integrationsamt u.a. zu prüfen, welche Fehlzeiten voraussichtlich in Zukunft auftreten werden, ob die zu erwartenden Fehlzeiten eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen bedeuten und ob diese Beeinträchtigung dem Arbeitgeber (noch) zugemutet werden kann.

Die Entscheidung des Integrationsamtes ist an Sinn und Zweck des Sonderkündigungsschutzes für schwerbehinderte Menschen auszurichten. Danach ist das Interesse des schwerbehinderten Arbeitnehmers, seinen Arbeitsplatz zu behalten, mit dem Interesse des Arbeitgebers, Personalkosten einzusparen, abzuwägen (BVerwG vom 19.10.1995 BVerwGE 99, 336). Es ist dem Fürsorgegedanken der Regelungen des SGB IX Rechnung zu tragen, das die Nachteile schwerbehinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt ausgleichen will. Der schwerbehinderte Mensch soll vor den Gefahren, denen er wegen seiner Behinderung ausgesetzt ist, bewahrt werden und es soll sichergestellt sein, dass er gegenüber gesunden Menschen nicht benachteiligt wird. Besonders hohe Anforderungen an die Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung beim Arbeitgeber sind im Rahmen der Interessenabwägung dann zu stellen, wenn die Kündigung auf Gründen beruht, die in der Behinderung ihre Ursache haben; entsprechend geringer ist der Schutz, je weniger ein Zusammenhang zwischen Kündigungsgrund und Behinderung feststellbar ist.

Andererseits ist auch die unternehmerische Gestaltungsfreiheit des Arbeitgebers mit dem ihr zukommenden Gewicht in die Abwägung einzustellen. Sinn und Zweck des Zustimmungserfordernisses ist es nicht, eine zusätzliche zweite Kontrolle der arbeitsrechtlichen Zulässigkeit der Kündigung zu schaffen, so dass im Rahmen der Ermessensentscheidung grundsätzlich nicht zu prüfen ist, ob eine Kündigung nach § 1 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) sozial gerechtfertigt ist. Vielmehr kann der Schwerbehinderte, wenn das Integrationsamt der Kündigung zugestimmt hat, arbeitsgerichtlich klären lassen, ob die Kündigung im Sinne des Kündigungsschutzgesetzes sozial gerechtfertigt ist (vgl. BVerwG vom 2.7.1992 BVerwGE 90, 287/293). Allerdings darf das Integrationsamt an einer offensichtlich unwirksamen Kündigung in dem Sinne, dass die Unwirksamkeit der Kündigung "ohne jeden vernünftigen Zweifel in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht offen zu Tage liegt und sich jedem Kundigen geradezu aufdrängt", nicht mitwirken (vgl. BVerwG vom 2.7.1992 BVerwGE 90, 287; BayVGH vom 28.9.2010 Az. 12 B 10.1088 (juris)).

Ist der Schwerbehinderte krankheits- oder behinderungsbedingt nicht zur Fortsetzung der Arbeit am bisherigen Arbeitsplatz in der Lage, sind jedoch an die Zumutbarkeitsgrenze beim Arbeitgeber besonders hohe Anforderungen zu stellen, um auch den im Schwerbehindertenrecht zum Ausdruck gekommenen Schutzgedanken der Rehabilitation verwirklichen zu können (vgl. BVerwG vom 18.09.1989 Az. 5 B 100/89 (juris); BVerwG vom 26.10.1971 BVerwGE 39,36). Der Arbeitgeber braucht nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für den Schwerbehinderten keinen neuen Arbeitsplatz zu schaffen und auch keinen anderen Arbeitnehmer zu entlassen, um für den Schwerbehinderten Platz zu schaffen. Es wird ihm aber zugemutet, den Schwerbehinderten nach Möglichkeit umzusetzen, d.h. ihm im Rahmen der vorhandenen Arbeitsplätze einen geeigneten anderen Arbeitsplatz zuzuweisen, wobei das Bemühen um einen anderen geeigneten Arbeitsplatz von fürsorgerischem Denken und Fühlen getragen sein muss (BVerwG vom 11.9.1990 Az. 5 B 63/90 (juris)).

c) Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Zustimmung des Beklagten nicht zu beanstanden, da die geltend gemachten krankheitsbedingten Kündigungsgründe die Zustimmungsentscheidung tragen und Ermessensfehler nicht ersichtlich sind. Eine Einschränkung der Ermessensentscheidung gemäß § 89 SGB IX ist nicht einschlägig, ebenso liegt keiner der Ausnahmetatbestände des § 90 SGB IX vor. Im Rahmen der Amtsermittlung des Beklagten forderte das Integrationsamt Stellungnahmen der behandelnden Ärzte der Klägerin an. Hinsichtlich der Prognose des Gesundheitszustandes der Klägerin und zukünftig zu erwartenden Fehlzeiten führte der die Klägerin behandelnde Facharzt für Neurologie und Psychiatrie aus (Bl. 130 der Behördenakte), dass bei einem Verbleib der Klägerin an Ihrem Arbeitsplatz bei der Beigeladenen mit weiteren Erkrankungen und hohen Fehlzeiten zu rechnen sei. Die weiteren von der Klägerin gegenüber dem Integrationsamt benannten behandelnden Ärzte gaben trotz Aufforderung keine Stellungnahme gegenüber der Behörde ab.

Dass in der Stellungnahme des vorgenannten Arztes vom 11. August 2011 auch ausgeführt ist, die Klägerin könne die Tätigkeit als Näherin in vollem Umfang ausüben, steht hierzu angesichts der angeführten Zerrüttung des Verhältnisses am Arbeitsplatz nicht in Widerspruch und lässt die von Seiten des Integrationsamtes getroffene Entscheidung der Zustimmung zur Kündigung nicht als ermessensfehlerhaft erscheinen. Ein Ermessensfehlgebrauch liegt insoweit ebenfalls nicht vor. Das Integrationsamt hat nämlich bei der von ihm zu treffenden Entscheidung stets das konkret betroffene Arbeitsverhältnis - hier das der Klägerin bei der Beigeladenen - in den Blick zu nehmen (vgl. VG Augsburg vom 1.3.2011 Az. Au 3 K 11.61). Kann der Schwerbehinderte die Arbeit am bisherigen Arbeitsplatz, hier also die Tätigkeit als Näherin bei der Beigeladenen, krankheits- oder behinderungsbedingt nicht fortsetzen, fordert das Bundesverwaltungsgericht demnach vom Arbeitgeber, den Schwerbehinderten nach Möglichkeit umzusetzen (BVerwG vom 11.9.1990 Az. 5 B 63/90 a.a.O.).

Zwar mag es soweit zutreffen, dass die Klägerin grundsätzlich einer Tätigkeit als Näherin weiter nachgehen kann, jedoch war gerade eine Fehlzeitenprognose in Bezug auf das Arbeitsverhältnis bei der Beigeladenen zu treffen. Die diesbezügliche Gesundheitsprognose ist nach medizinischer Einschätzung jedoch negativ, so dass der behandelnde Facharzt der Klägerin dringend geraten hat, sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen, weil das Verhältnis am Arbeitsplatz zerrüttet scheine. Das erst im Klageverfahren allgemein geltend gemachte Restleistungsvermögen war für die Entscheidungsfindung des Integrationsamtes bereits deshalb nicht zu berücksichtigen, weil es bis zu diesem Zeitpunkt nicht an die Behörde herangetragen wurde (BayVGH vom 5.10.2011 Az. 12 B 10.2811 a.a.O.) und überdies, wie dargelegt, auf das konkrete Arbeitsverhältnis abzustellen war. Auch der Gesichtspunkt der Rehabilitation und der Fürsorgegesichtspunkt, den auch das Integrationsamt bei der zu treffenden Entscheidung zu beachten hat, steht der Kündigung und Auflösung des bisherigen Arbeitsverhältnisses beim Arbeitgeber nicht entgegen. Der Gedanke der Rehabilitation kann hier nicht fordern, ein Arbeitsverhältnis fortzusetzen, welches im Ergebnis der Gesundheit der Klägerin abträglich wäre.

Schließlich ist davon auszugehen, dass keine Möglichkeit einer alternativen Weiterbeschäftigung besteht bzw. bestand. Vor Antragstellung der Zustimmung zur Kündigung fanden nach Darlegung des insoweit unbestrittenen Vortrags der Beigeladenen mehrere Arbeitsversuche auf verschiedenen Arbeitsplätzen statt, die im Ergebnis nicht erfolgreich waren. Die von der Klägerin begehrte Funktion der Gruppenführerin stellte, unabhängig davon, ob die Klägerin diese Tätigkeit aufgrund Ihres Gesundheitszustandes hätte ausüben können, keinen vorhandenen Arbeitsplatz dar, nachdem diese Position anderweitig besetzt und die Klägerin formell rechtmäßig aus dieser Funktion "abgewählt" worden war (vgl. auch die Feststellungen des Landesarbeitsgerichts im vorgenannten Urteil). Der Vortrag, bei dem Arbeitsversuch auf dem in Abstimmung mit dem Integrationsamt zuletzt angebotenen Arbeitsplatz keine Chance erhalten zu haben, führt nicht dazu, dass dieser Arbeitsplatz nicht zumutbar bzw. leidensgerecht gewesen wäre. Soweit die Klägerin im Klageverfahren lediglich pauschal behauptet, es stehe ein leidensgerechter Arbeitsplatz im Bereich Logistik zur Verfügung, wurde hierdurch (bis zum maßgeblichen Zeitpunkt) nicht konkret dargetan, dass tatsächlich ein freier und behindertengerechter Arbeitsplatz vorhanden war.

Des Weiteren hat der Sache nach ein betriebliches Eingliederungsmanagement stattgefunden; § 84 Abs. 2 SGB IX enthält diesbezüglich keine nähere gesetzliche Ausgestaltung; zu den insoweit erkennbaren Mindeststandards gehört es, die gesetzlich dafür vorgesehenen Stellen, Ämter und Personen zu beteiligen und mit ihnen eine am Ziel des Eingliederungsmanagements orientierte Klärung zu versuchen (BayVGH vom 5.10.2011 Az. 12 B 10.2811 a.a.O.). Ziel ist es, festzustellen, auf Grund welcher gesundheitlicher Einschränkungen es zu den Fehlzeiten gekommen ist und ob Möglichkeiten bestehen, diese künftig zu verringern (vgl. BVerwG vom 10.12.2009 NZA 2010, 398). Dem entspricht es, dass Arbeitsplätze und Einsatzmöglichkeiten unter Einbeziehung der Klägerin, der Schwerbehindertenvertretung, des Betriebsrates und des Integrationsamtes besprochen wurden und mehrere Arbeitsversuche stattfanden. Unabhängig davon würde ein unterlassenes betriebliches Eingliederungsmanagement einer Kündigung dann nicht entgegenstehen, wenn, wie hier, keine alternative (Weiter-)Beschäftigungsmöglichkeit besteht.

Zusammenfassend kam das Integrationsamt daher in rechtlich nicht zu beanstandender Weise bei der Interessenabwägung zu dem Schluss, dass das Interesse der Beigeladenen an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses höher zu bewerten ist als das Interesse der Klägerin an dem Erhalt ihres Arbeitsplatzes. Mit dem Beklagten ist von einer Langzeit- bzw. Dauererkrankung auszugehen. Letztlich verbleibt hier auch im Interesse der Wiederherstellung der Gesundheit der Klägerin nur die Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Die dauerhafte und fortdauernde Abwesenheit der Klägerin von ihrem Arbeitsplatz seit 21. März 2011, die hohen Fehlzeiten in den Vorjahren und die negative Gesundheitsprognose hinsichtlich künftiger Fehlzeiten bedeuten eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen, so dass diese Beeinträchtigung der Beigeladenen nicht mehr zugemutet werden konnte. Demnach war der Ausspruch der Kündigung gegenüber der Klägerin auch nicht offensichtlich unwirksam.

Nach allem ist daher festzustellen, dass der Bescheid des Integrationsamtes vom 30. August 2011 rechtmäßig ist.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 188 Satz 2 VwGO). Da die Beigeladene keinen Antrag im Verfahren gestellt und sich damit auch keinem Kostenrisiko aus § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat, entspricht es billigem Ermessen, dass sie ihre außergerichtlichen Aufwendungen selbst zu tragen hat (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 15. Auflage 2007, § 162, Rdnr. 21, 23). Eine Kostenerstattung gemäß § 162 Abs. 3 VwGO ist insoweit ausgeschlossen.

Der Ausspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).

Referenznummer:

R/R5409


Informationsstand: 11.03.2013