Urteil
Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung eines Schwerbehinderten - unzulässige Stimmenthaltung eines Mitglieds des Widerspruchsausschusses der Hauptfürsorgestelle

Gericht:

VGH Kassel 9. Senat


Aktenzeichen:

9 UE 1274/90


Urteil vom:

10.08.1993


Grundlage:

  • SchwbG § 18 Abs 4 Fassung 1974-04-29 |
  • SchwbG § 21 Fassung 1986-08-26 |
  • SchwbG § 37 Fassung 1974-04-29 |
  • SchwbG § 38 Fassung 1974-04-29 |
  • SchwbG § 40 Fassung 1986-08-26 |
  • SchwbG § 41 Fassung 1986-08-26

Leitsatz:

1. Eine Stimmenthaltung bei der Entscheidung über einen eingelegten Widerspruch im Widerspruchsausschuß bei der Hauptfürsorgestelle ist unzulässig. Im übrigen Einzelfall einer erfolgreichen Klage auf Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Schwerbehinderten.

Rechtsweg:

VG Darmstadt 19.12.1989 - VI/2 E 968/86

Quelle:

JURIS-GmbH

Tatbestand:

Der im Jahre 1930 geborene Beigeladene ist gehbehindert mit einem Grad der Behinderung von 50 v. H. nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG). Seit dem 15. Oktober 1972 war er bei der Klägerin in der Telefonzentrale beschäftigt.

Unter dem 15. November 1985 beantragte die Klägerin beim Beklagten die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Beigeladenen. Als Gründe für die fristlose Kündigung nannte die Klägerin Vorfälle vom 11. November 1985, wonach der Beigeladene in angetrunkenem Zustand zwei weibliche Auszubildende in der Telefonzentrale belästigt haben soll. Als der Beigeladene gegen 15.00 Uhr vom Leiter der Personalabteilung aufgefordert worden sei, sich wegen seines Zustandes mit einem Dienstwagen nach Hause bringen zu lassen, habe er in dem sich anschließenden Wortwechsel die Bemerkung gemacht, er werde am darauffolgenden Tag wegen Krankheit nicht zum Dienst erscheinen. Dies stelle sich als angekündigte Arbeitsunfähigkeit dar. Im übrigen werde die fristlose Kündigung auf übermäßigen Alkoholgenuß durch den Beigeladenen während der Arbeitszeit zum wiederholten Male gestützt.

Der Beigeladene widersprach der Anschuldigung, er habe während der Arbeitszeit zum wiederholten Male Alkohol im Übermaß genossen. Insbesondere am 11. November 1985 habe er am ganzen Tag nur 3 Flaschen Bier zu 0,33 l getrunken. Auch die übrigen Behauptungen der Klägerin seien unzutreffend, denn er habe sich nichts zuschulden kommen lassen.

Mit ihren Stellungnahmen vom 18. November 1985 stimmten der Vertrauensmann für Schwerbehinderte und der Betriebsrat der Klägerin der außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Beigeladenen zu. Demgegenüber äußerte das Arbeitsamt Darmstadt in seiner Stellungnahme vom 19. November 1985 Bedenken gegen die Zustimmung im Hinblick auf die geringen Möglichkeiten, den Beigeladenen in ein neues Arbeitsverhältnis zu vermitteln.

Mit Bescheid vom 25. November 1985 stimmte die Hauptfürsorgestelle des Beklagten der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses zwischen der Klägerin und dem Beigeladenen im wesentlichen mit der Begründung zu, stehe eine beabsichtigte außerordentliche Kündigung nicht mit der Behinderung im Zusammenhang, habe die Hauptfürsorgestelle bei ihrer Entscheidung nur einen sehr eingeschränkten Ermessensspielraum. Aufgrund der vorgelegten Aussagen bestünden keine Zweifel über die Richtigkeit der von der Klägerin vorgetragenen Kündigungsgründe. Es sei nicht offensichtlich, daß dadurch die Kriterien eines wichtigen Grundes im Sinne des § 626 BGB nicht erfüllt seien. Bei dieser Sach- und Rechtslage sei die Zustimmung zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu erteilen.

Daraufhin sprach die Klägerin mit Schreiben vom 28. November 1985 gegenüber dem Beigeladenen die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus. Hiergegen hat der Beigeladene beim Arbeitsgericht Darmstadt unter dem 10. Dezember 1985 Klage erhoben. Das arbeitsgerichtliche Verfahren ist bis auf weiteres ausgesetzt.

Unter dem 16. Dezember 1985 erhob der Beigeladene gegen den zustimmenden Bescheid der Hauptfürsorgestelle Widerspruch, indem er die von der Klägerin behaupteten Kündigungsgründe bestritt und eine unzureichende Anhörung rügte.

Am 3. März 1986 tagte der Widerspruchsausschuß bei der Hauptfürsorgestelle des Beklagten. An der Sitzung nahmen sechs stimmberechtigte Ausschußmitglieder teil. Ausweislich der Sitzungsniederschrift wurde die Sache mit den Verfahrensbeteiligten erörtert. Anschließend befand der Ausschuß in geheimer Beratung über den Widerspruch. In der Sitzungsniederschrift heißt es unter anderem dazu:
"Es wird der Antrag gestellt, dem Widerspruch stattzugeben. Abstimmung: für den Antrag 3 Stimmen, dagegen 2 Stimmen, 1 Stimmenthaltung."

Mit Widerspruchsbescheid des Widerspruchsausschusses bei der Hauptfürsorgestelle des Beklagten vom 7. April 1986 wurde dem Widerspruch des Beigeladenen stattgegeben und der Bescheid der Hauptfürsorgestelle vom 25. November 1985 aufgehoben sowie die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Beigeladenen versagt. Zur Begründung heißt es im wesentlichen, die von der Klägerin geltend gemachten Kündigungsgründe müßten nach der gegebenen Sachlage als wahr unterstellt werden. Gleichwohl könne eine Zustimmung zur Kündigung nicht erteilt werden. Zwar lägen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 18 Abs. 4 SchwbG vor. Diese Soll-Regelung lasse aber einen eingeschränkten Ermessensspielraum zu. Ein Abweichen von der Zustimmung zur Kündigung komme insbesondere in Betracht, wenn es sich bei dem Kündigungsgrund um einen einmaligen Vorgang handele oder mit besonderen Schwierigkeiten bei der Unterbringung des Schwerbehinderten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu rechnen sei. Sowohl die Ankündigung der Arbeitsunfähigkeit als auch die Belästigung der Auszubildenden stellten einen einmaligen Vorfall dar. Wegen des Alkoholgenusses sei eine Abmahnung im Zusammenhang mit angeblichen früheren Vorkommnissen dieser Art nicht erfolgt. Wenn auch die Vorwürfe als sehr schwerwiegend anzusehen seien, so müsse doch Berücksichtigung finden, daß wegen des Alters des Beigeladenen eine Weitervermittlungsmöglichkeit kaum gegeben sei. Deshalb müsse hier im Sinne einer Grenzentscheidung das Interesse des Beigeladenen an der Erhaltung des Arbeitsplatzes höher bewertet werden als dasjenige der Arbeitgeberin an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

Mit am 7. Mai 1986 beim Verwaltungsgericht Darmstadt eingegangenem Schriftsatz hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie sich gegen die Entscheidung des Widerspruchsausschusses wandte. Zur Begründung führte sie aus, der Widerspruchsausschuß überspanne die Anforderungen an die Fürsorgepflicht gegenüber dem Beigeladenen. Die Kündigungsgründe seien so schwerwiegend, daß eine andere Entscheidung als diejenige der Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses nicht in Frage hätte kommen dürfen. Die Entscheidung des Widerspruchsausschusses sei insbesondere deshalb rechtswidrig, weil sich ein Ausschußmitglied unzulässigerweise bei der Abstimmung der Stimme enthalten habe. Mitglieder eines derartigen Ausschusses dürften sich durch Stimmenthaltung nicht ihrer kraft Gesetzes wahrzunehmenden Aufgabe zur selbstverantwortlichen Entscheidung entziehen. Die Stimmenthaltung sei im Hinblick auf das Ergebnis der Stimmabgabe auch entscheidungserheblich.


Die Klägerin hat beantragt,

den Widerspruchsbescheid des Widerspruchsausschusses beim Landeswohlfahrtsverband Hessen vom 7. April 1986 aufzuheben.


Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat er im wesentlichen Bezug auf die Gründe des Widerspruchsbescheides genommen und dargelegt, die Widerspruchsentscheidung sei auch verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden.


Der Beigeladene hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er bestritt die Kündigungsvorwürfe und widersprach der Auffassung der Klägerin, daß Stimmenthaltungen bei Beschlußfassungen von Ausschüssen nicht zulässig seien. Das Schwerbehindertengesetz treffe keine Regelung über die Auswirkung der Stimmenthaltung, so daß die Stimmenthaltung mangels entgegenstehender Regelung als zulässig angesehen werden müsse. Der Ausschuß sei unter anderem mit ehrenamtlich tätigen Laien besetzt, für die eine Rechtspflicht zur Entscheidung nicht ohne weiteres angenommen werden könne. Die Stimmenthaltung sei auch nicht den Neinstimmen zuzurechnen, weil sie sich nicht auf eine inhaltliche Alternative festlege. Sie sei von den Ja-Stimmen genausoweit entfernt, wie von den Neinstimmen. Danach wäre es willkürlich, sie als Neinstimme zu behandeln.

Mit Urteil vom 19. Dezember 1989 hat das Verwaltungsgericht der Klage stattgegeben und im wesentlichen zur Begründung ausgeführt: Die Rechtswidrigkeit des Widerspruchsbescheides beruhe darauf, daß er verfahrenfehlerhaft zustande gekommen und dieser Fehler für die getroffene Entscheidung wesentlich geworden sei. Die ausweislich der Sitzungsniederschrift von einem Mitglied des Widerspruchsausschusses geübte Stimmenthaltung bei der Entscheidung über den Widerspruch sei nicht zulässig gewesen. Die Stimmenthaltung widerspreche Aufgaben und Stellung des Widerspruchsausschusses bei der Hauptfürsorgestelle sowie seiner Mitglieder. Die in Rechtsprechung und Literatur kontrovers behandelte Frage der Zulässigkeit von Stimmenthaltungen in Kollegialorganen müsse anhand der Aufgabe, die dem Widerspruchsausschuß zugewiesen sei, beantwortet werden. Eine Stimmenthaltung verweigere sich der gesetzlichen Aufgabe, eine Entscheidung zu treffen. Würde die Möglichkeit der Stimmenthaltung grundsätzlich für statthaft gehalten, liefe dies darauf hinaus, daß sich der Ausschuß durch Stimmenthaltung sämtlicher anwesender Mitglieder selbst seiner Entscheidungsaufgabe entziehen könnte. Die von ihm geforderte Rechtmäßigkeitsund Zweckmäßigkeitsüberprüfung der angefochtenen Entscheidung fände dann nicht mehr statt. Auch die Regelung im Schwerbehindertengesetz über die Beschlußfähigkeit des Widerspruchsausschusses sei kein Indiz für die Zulässigkeit der Stimmenthaltung. Vorschriften über die Beschlußfähigkeit von Kollegialorganen seien allein Ausdruck der Verfahrenseffizienz. Damit solle aber nicht dem einzelnen Ausschußmitglied bei Teilnahme an der Sitzung die Möglichkeit eingeräumt werden, sich der ihm kraft Gesetzes auferlegten Aufgabe, eine Entscheidung zu treffen, zu entziehen. Soweit der Beigeladene ein Argument für die Möglichkeit der Stimmenthaltung von Ausschußmitgliedern darin sehe, daß der Widerspruchsausschuß unter anderem mit ehrenamtlich tätigen Laien besetzt sei, erweise sich dies schon deshalb nicht als stichhaltig, weil sämtliche Ausschußmitglieder gleiche Rechte und Pflichten hätten. Dies stehe einer Differenzierung hinsichtlich der Abstimmungsbefugnisse bzw. -pflichten der Ausschußmitglieder entgegen. Im übrigen bestehe insofern kein Unterschied zu den in verschiedenen Gerichtsbarkeiten tätigen ehrenamtlichen Laienrichtern, denen auch eine Entscheidungsverpflichtung auferlegt sei.

Sei demgemäß eine Stimmenthaltung im Widerspruchsausschuß bei der Hauptfürsorgestelle unzulässig, so hafte dem Widerspruchsbescheid vom 7. April 1986 ein Verfahrensfehler an. Dieser sei auch wesentlich. Denn angesichts des Verhältnisses der für den Antrag auf Stattgabe des Widerspruchs abgegebenen 3 Ja- zu 2 Neinstimmen und der nicht auszuschließenden Möglichkeit, daß das sich der Stimme enthaltende Ausschußmitglied mit Nein gestimmt hätte, wäre bei Stimmengleichheit eine Ablehnung des Antrags und damit die Zurückweisung des Widerspruchs des Beigeladenen gegen den Bescheid der Hauptfürsorgestelle des Beklagten vom 25. November 1985 in Frage gekommen.

Gegen das am 2. April 1990 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit am 25. April 1990 beim Verwaltungsgericht eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen, das Verwaltungsgericht verkenne, daß nicht das einzelne Ausschußmitglied über den Widerspruch entscheide, sondern das Gremium des Widerspruchsausschusses. Die Verpflichtung zur Entscheidung treffe also den Widerspruchsausschuß in seiner Gesamtheit und nicht das einzelne Ausschußmitglied. Daß das Abstimmungsverhalten des einzelnen Ausschußmitglieds sich auf die Entscheidung des Widerspruchsausschusses insgesamt auswirke, ändere an dem Charakter der Kollektiventscheidung nichts. § 36 Abs. 1 SchwbG, der über § 43 Abs. 2 SchwbG Anwendung finde, bestimme, daß Beschlüsse und Entscheidungen mit einfacher Stimmenmehrheit getroffen würden. Dies bedeute, daß sich bei der Abstimmung im Widerspruchsausschuß für die Stattgabe des Widerspruchs eine einfache Stimmenmehrheit ergeben müsse. Sei dies wie im Falle der Stimmengleichheit oder Stimmenthaltung aller Ausschußmitglieder nicht der Fall, so gelte der Widerspruch als zurückgewiesen. Der Gesetzgeber habe bewußt in Kauf genommen, daß es bei Kollektiventscheidungen zu Stimmenthaltungen und Stimmengleichheit bei den Abstimmungen kommen könne. Das Verwaltungsgericht übersehe, daß der Widerspruchsausschuß bei der Hauptfürsorgestelle anders als die Gerichte nicht mit juristisch vorgebildeten Personen besetzt sein müsse und auch nur zum Teil besetzt sei. Unter diesen Umständen könne es im Einzelfall Mitgliedern des Widerspruchsausschusses nicht zugemutet werden, bei der Abstimmung über einen Widerspruch eine eindeutige positive oder negative Haltung einzunehmen, insbesondere dann nicht, wenn es z. B. um die rechtliche Kontrolle der mit dem Widerspruch angefochtenen Entscheidung gehe. In derartigen Fällen könnten juristisch nicht vorgebildete Personen mit einer positiven oder negativen Entscheidung über den Widerspruch überfordert sein. Schließlich müsse der Auffassung des Verwaltungsgerichts widersprochen werden, daß bei Stimmenthaltung eine Rechts- und Zweckmäßigkeitskontrolle nicht stattfinde, denn zur Stimmenthaltung komme ein Ausschlußmitglied erst dann, wenn es mehrere Ergebnisse gleichermaßen für vertretbar halte.

Mit am 17. April 1990 beim Verwaltungsgericht eingegangenem Schriftsatz hat auch der Beigeladene Berufung eingelegt. Zur Begründung führt er aus: Das Verwaltungsgericht habe nicht berücksichtigt, daß Ausschußmitglieder grundsätzlich die Möglichkeit hätten, den Sitzungen des Widerspruchsausschusses fernzubleiben, ohne daß dabei die Stimme des fehlenden Mitglieds als Neinstimme gewertet werde. Keinesfalls sei es deshalb gerechtfertigt, die Stimmenthaltung eines Ausschußmitgliedes als Verfahrensfehler zu bewerten. Insbesondere spreche das Fehlen einer ausdrücklichen Regelung im Schwerbehindertengesetz gegen die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Schlußfolgerung. Das Schwerbehindertengesetz enthalte kein ausdrückliches Stimmenthaltungsverbot. Vielmehr sei im Gegenteil eine Stimmenthaltung nur dann unzulässig und führe zu einen Verfahrensfehler, wenn ein diesbezügliches Verbot ausdrücklich normiert sei. Unabhängig von dieser Frage sei nach wie vor davon auszugehen, daß der Widerspruchsausschuß nicht habe anders entscheiden können, da er aufgrund einer Ermessensreduzierung auf Null verpflichtet gewesen sei, die Zustimmung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Beigeladenen mit der Klägerin zu versagen. Ein Abweichen von der Regel des § 18 Abs. 4 SchwbG komme vor allem dann in Betracht, wenn es sich bei dem Kündigungsgrund um einen einmaligen Vorfall handele oder wenn im Falle der Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit besonders schwierigen Unterbringungsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu rechnen sei.


Der Beklagte und der Beigeladene beantragen,

das Urteil des Verwaltungsgericht Darmstadt vom 19. Dezember 1989 (VI/2 E 968/86) aufzuheben und die Klage abzuweisen.


Die Klägerin beantragt,

die Berufungen des Beklagten und des Beigeladenen zurückzuweisen. Weiterhin beantragt sie über ihren erstinstanzlichen Antrag hinaus, den Beklagten zu verpflichten, den Widerspruch des Beigeladenen gegen den Bescheid des Beklagten vom 25. November 1985 zurückzuweisen.

Sie führt aus, dem Widerspruchsausschuß obliege die nochmalige Überprüfung des angefochtenen Verwaltungsakts auf Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit. Im Rahmen dieser Überprüfung dürfe sich der Widerspruchsausschuß nicht auf die Fragen beschränken, ob die Ausgangsbehörde die gesetzlichen Vorschriften beachtet und ihr Ermessen pflichtgemäß ausgeübt habe. Vielmehr habe der Widerspruchsausschuß selbstverantwortlich zu entscheiden. Obwohl sich aus dem Schwerbehindertengesetz unmittelbar nicht ergebe, ob Stimmenthaltungen im Widerspruchsausschuß zulässig seien oder nicht, so lasse sich diese Frage gleichwohl anhand der Aufgaben beantworten, die einem solchen Ausschuß zugewiesen seien. Wenn der Widerspruchsausschuß alle Sach- und Rechtsfragen selbstverantwortlich nachzuprüfen und die Pflicht habe, eine Entscheidung herbeizuführen, so laufe eine Stimmenthaltung dieser Verpflichtung gerade zuwider. Dem könne nicht entgegengehalten werden, ein Mitglied des Widerspruchsausschusses habe die Möglichkeit, der Sitzung fernzubleiben, denn ein abwesendes Mitglied nehme an der Beratung nicht teil und habe keinen Einfluß auf die Entscheidungsfindung. Wenn aber ein Mitglied an der Sitzung teilnehme, so könne am Ende der Beratung nur die Entscheidung stehen, mit ja oder nein zu stimmen, denn nur auf diese Weise könne über den Widerspruch entschieden werden. Etwas anderes gelte für Abgeordnete in einem gewählten Parlament. Diese hätten wegen des Grundsatzes des freien Mandats die Möglichkeit, sich bei einer Abstimmung der Stimme zu enthalten. Sie könnten auf diese Weise dokumentieren, daß sie bei einer zur Beschlußfassung stehenden Angelegenheit keinen Entscheidungsbedarf sähen oder daß sie die Angelegenheit nicht interessiere. Eine solche Motivationslage dürfe aber einem Mitglied eines Ausschusses, dem Aufgaben öffentlicher Verwaltung übertragen worden seien, nicht zugestanden werden. Einen vergleichbaren Fall hinsichtlich Beratung und Abstimmung regele § 195 GVG. Danach dürfe kein Richter oder Schöffe die Abstimmung über eine Frage verweigern, weil er bei der Abstimmung über eine vorhergegangene Frage in der Minderheit geblieben sei.

Die Entscheidung des Widerspruchsausschusses sei somit mit einem Verfahrensfehler behaftet gewesen, der auch wesentlich gewesen sei. Denn es könne nicht ausgeschlossen werden, daß das sich der Stimme enthaltende Mitglied mit nein gestimmt hätte und so bei Stimmengleichheit eine Zurückweisung des Widerspruchs des Beigeladenen ergangen wäre.

Dem Senat hat ein Hefter Behördenakten des Beklagten sowie die Akte des Arbeitsgerichts Darmstadt 5 Ca 896/85 vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie den Inhalt der Beiakten ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässigen Berufungen des Beklagten und des Beigeladenen sind nicht begründet, denn das Verwaltungsgericht hat auf die Klage der Klägerin zu Recht den Widerspruchsbescheid vom 7. April 1986 aufgehoben. Dieser ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Nach der im Berufungsverfahren vorgenommenen Klageänderung, in die der Beklagte und der Beigeladene gemäß §§ 125 Abs. 1, 91 Abs. 2 VwGO. eingewilligt haben und die der Senat für sachdienlich erachtet, ist darüber hinaus der Beklagte zu verpflichten, den Widerspruch des Beigeladenen gegen den Bescheid der Hauptfürsorgestelle vom 25. November 1985 zurückzuweisen, denn der Widerspruchsbescheid vom 7. April 1986 ist auch in der Sache fehlerhaft.

Der Senat nimmt zunächst gemäß § 130 b VwGO auf die zutreffende Begründung der angefochtenen Entscheidung Bezug und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen insoweit von eigenen Ausführungen ab.

Das Berufungsvorbringen des Beklagten und des Beigeladenen führt zu keinem anderen Ergebnis.

Soweit die Berufungskläger darauf abstellen, daß nicht das Abstimmungsverhalten des einzelnen Ausschußmitglieds, sondern die abschließende Entscheidung des Kollegialorgans in seiner Gesamtheit maßgeblich sei, verkennt diese Betrachtungsweise, daß die Aufgabe des Widerspruchsausschusses sich nicht darin erschöpft, die Frage der Zustimmung zur Kündigung eines Schwerbehinderten zu erörtern. Vielmehr ist gemäß § 37 Abs. 1 SchwbG in der Fassung von 1974 (= § 40 Abs. 1 SchwbG 1986) der Widerspruchsausschuß bei der Hauptfürsorgestelle berufen, über den Widerspruch zu entscheiden und den Widerspruchsbescheid zu erlassen. Abweichend vom Regelfall, daß ein zeichnungsberechtigter Organwalter einer Behörde den Widerspruchsbescheid erläßt, sehen Gesetze bisweilen vor, daß in bestimmten Bereichen Ausschüsse über eingelegte Rechtsbehelfe wie Widersprüche entscheiden sollen. Dem liegt die Vorstellung und Erwartung des Gesetzgebers zugrunde, daß über den Sachverstand des administrativ oder juristisch vorgebildeten Einzelentscheidenden hinaus ein pluralistisch besetztes Gremium weitere Lebenserfahrung und Sachkunde "einbringen" soll. Dies ist - beispielhaft - in Sachgebieten wie Filmförderung und -Bewertung, Beurteilung jugendgefährdenden Schrifttums, Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern und vorliegend bei der Zustimmung zur Kündigung Schwerbehinderter der Fall. Wenn der Gesetzgeber einem pluralistisch zusammengesetzten Gremium wie dem Widerspruchsausschuß (vgl. § 38 Abs. 1 SchwbG 1974 (= § 41 Abs. 1 SchwbG 1986)) aus den vorgenannten Gründen Entscheidungskompetenzen überträgt, so ist davon auszugehen, daß er die Erwartung daran geknüpft hat, daß die einzelnen Ausschußmitglieder aufgrund ihrer unterschiedlichen Sichtweisen und ihrer verschiedenen Erfahrungshorizonte als Schwerbehinderte, Schwerbehindertenvertreter, Arbeitgeber, Behördenvertreter usw. nicht nur Fragen der beabsichtigten Kündigung erörtern, sondern darüber hinaus auch jedes einzelne Mitglied aus seiner Sicht der Dinge Stellung bezieht. Damit läßt sich eine Stimmenthaltung nicht vereinbaren.

Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß nach den Bestimmungen über die Beschlußfähigkeit (§§ 40 Abs. 1, 33 Abs. 3 SchwbG 1974 (= §§ 43 Abs. 1, 36 Abs. 2 SchwbG 1986)) die einzelnen Mitglieder des Widerspruchsausschusses der Sitzung und Beratung auch fernbleiben können. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, dienen diese Vorschriften der Verwaltungseffizienz. Mit ihnen soll sichergestellt werden, daß der Widerspruchsausschuß auch bei Verhinderung einzelner Mitglieder oder ihrer Vertreter zeitnah über den Widerspruch des Schwerbehinderten oder seines Arbeitgebers bezüglich der beabsichtigten Kündigung entscheiden können soll. Dies ist schon deshalb geboten, weil ein Kündigungsschutzverfahren vor dem Arbeitsgericht für die Dauer des Verfahrens hinsichtlich der Zustimmung zur Kündigung in der Regel blockiert ist.
Schließlich ist unerheblich, daß die Mitglieder des Widerspruchsausschusses überwiegend ehrenamtlich tätige, juristisch nicht vorgebildete Laien sind, denn dies entspricht gerade der gesetzgeberischen Vorstellung, wie sie in § 38 Abs. 1 SchwbG 1974 ihren Ausdruck gefunden hat. Wenn ihnen Entscheidungskompetenz zugemessen wird, bedeutet dies, daß der Gesetzgeber Wert darauf legt, lebens-, arbeits- und auch situationserfahrene Personen in den Entscheidungsprozeß einzubinden. Sollte im Einzelfall tatsächlich auf Grund einer Überforderung einzelner Mitglieder eine Fehlentscheidung des Widerspruchsausschusses zustande kommen - wie der Beklagte befürchtet -, besteht die Möglichkeit der Korrektur durch die Verwaltungsgerichte und insbesondere die Arbeitsgerichte, wobei anzumerken ist, daß auch diese Gerichte mit ehrenamtlichen Richtern besetzt sind, welche sich einer ausdrücklichen Entscheidung nicht entziehen dürfen, obwohl sie in stärkerem Maße als die Mitglieder des Widerspruchsausschusses über Rechtsfragen zu befinden haben.

Ergibt sich somit aus der Sache selbst bereits, daß eine Stimmenthaltung im Widerspruchsausschuß unzulässig ist, kann es nicht darauf ankommen, ob das Schwerbehindertengesetz oder andere Verfahrensgesetze die Stimmenthaltung ausdrücklich verbieten.
In der Sache selbst ist der Widerspruchsbescheid vom 7. April 1986 ebenfalls fehlerhaft und der Beklagte deshalb zur Zurückweisung des Widerspruchs des Beigeladenen verpflichtet, denn der Widerspruchsausschuß hat die Bedeutung der in § 18 Abs. 4 SchwbG 1974 (= § 21 Abs. 4 SchwbG 1986) enthaltenen Sollvorschrift verkannt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 2. Juli 1992, 5 C 39.90, BVerwGE 90, 275), der der erkennende Senat bereits mit Urteil vom 17. November 1992 (9 UE 1262/89) gefolgt ist, hat die Hauptfürsorgestelle im Regelfall die Zustimmung zu erteilen, wenn die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Schwerbehinderten aus einem Grunde erfolgt, der nicht mit der Behinderung im Zusammenhang steht. Nur in atypischen Fällen darf die Hauptfürsorgestelle nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden (ebenso zur Sollvorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X: BVerwG, Urteil vom 17. September 1987, NVwZ 1988, 829 (830)). Ob ein solcher atypischer Fall vorliegt, der eine Ermessensentscheidung ermöglicht, ist als Rechtsvoraussetzung gerichtlich voll überprüfbar. Dem Bundesverwaltungsgericht zufolge (Urteil vom 2. Juli 1992 a.a. O.) liegt ein atypischer Fall vor, "wenn die außerordentliche Kündigung den Schwerbehinderten in einer die Schutzzwecke des Schwerbehindertengesetzes berührenden Weise besonders hart trifft, ihm im Vergleich zu den der Gruppe der Schwerbehinderten im Falle außerordentlicher Kündigung allgemein zugemuteten Belastungen ein Sonderopfer abverlangt". Umstände, die das Vorliegen eines atypischen Falles nahelegen könnten, sind hier nicht ersichtlich. Allgemeine Schwierigkeiten, denen die Schwerbehinderten als Gruppe bei der Arbeitsplatzsuche ausgesetzt sind, reichen für die Annahme eines atypischen Falles ebensowenig aus wie das vorgerückte Alter des Beigeladenen und dessen langjährige Betriebszugehörigkeit im maßgeblichen Zeitpunkt. Diese Umstände sind nicht außergewöhnlich; sie sind vielmehr von der gesetzgeberischen Grundentscheidung in § 18 Abs. 4 SchwbG 1974 umfaßt (BVerwG, Urteil vom 2. Juli 1992 a.a.O., S. 280 f.).

Entgegen der Auffassung der Berufungskläger ist ein atypischer Fall auch nicht deshalb anzunehmen, weil der Vorfall am 11. November 1985, der zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Beigeladenen geführt hat, einmalig gewesen sein soll. Dies ist eine Frage des Vorliegens eines wichtigen Grundes im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB als Wirksamkeitsvoraussetzung für eine außerordentliche Kündigung, die nicht die Hauptfürsorgestelle bzw. das Verwaltungsgericht, sondern das Arbeitsgericht zu entscheiden hat (mit zwei ehrenamtlichen Richtern und einem Volljuristen als Vorsitzenden). Allenfalls bei negativer Evidenz - offensichtliches Nichtvorliegen eines wichtigen Grundes - mag etwas anderes gelten (offen BVerwG, Urteil vom 2. Juli 1992 a.a.O.) Dafür, daß im vorliegenden Fall eine solche Negativevidenz gegeben sein könnte, ist nichts ersichtlich. Vielmehr wird das Arbeitsgericht darüber zu befinden haben, ob die Vorgänge am 11. November 1985 ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Beigeladenen mit der Klägerin sind.

Nach alledem sind die Berufungen des Beklagten und des Beigeladenen zurückzuweisen und ist dem Klagebegehren zu entsprechen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 154 Abs. 2, 3, 159, 188 Satz 2 VwGO, 100 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO).

Referenznummer:

MWRE117429300


Informationsstand: 17.02.1994