Urteil
Zustimmung bei krankheitsbedingter außerordentlicher Kündigung

Gericht:

VG Oldenburg


Aktenzeichen:

13 A 3791/02


Urteil vom:

21.01.2003


Grundlage:

1. Zum Beginn der Antragsfrist des § 91 Abs. 2 SGB IX bei andauernder Arbeitsunfähigkeit.

2. Lang andauernde Arbeitsunfähigkeit eines ordentlich nicht mehr kündbaren schwerbehinderten Menschen kann eine außerordentliche Kündigung seines Arbeitsverhältnisses mit sozialer Auslauffrist rechtfertigen.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Behindertenrecht 07/2003

Aus den Gründen:

Der Beklage (Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben) hat der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung der Klägerin formell rechtmäßig gemäß § 91 SGB IX zugestimmt. Insbesondere hat die beigeladene Arbeitgeberin die Zustimmung zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung der Klägerin innerhalb der Zwei-Wochen-Frist des § 91 Abs. 2 SGB IX beantragt. Nach Satz 2 dieser Vorschrift beginnt die Frist mit dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Die Vorschrift entspricht in vollem Umfang § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB.
Die zur Auslegung dieser Norm entwickelten Grundsätze, insbesondere dazu, wann der Arbeitgeber von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt, sind deshalb auch bei der Auslegung des § 91 Abs. 2 Satz 2 SGB IX zu berücksichtigen (VGH Mannheim, Urteil vom 5.8.1996 - 7 S 483/95 - m.w.N.). Bei der im Falle der Klägerin vorliegenden Unfähigkeit, die arbeitsvertraglich geschuldeten Dienste erbringen zu können, handelt es sich um einen Dauertatbestand, bei dem es für die Einhaltung der Zwei-Wochen-Frist ausreicht, dass er in den letzten zwei Wochen vor Ausspruch der Kündigung angehalten hat. Bei der weitgehenden Arbeitsunfähigkeit der Klägerin handelt es sich um einen "Dauer-Störtatbestand", bei dem zumindest zusätzliche Umstände fortwirkend eintreten, mit der Folge, dass der Beginn der Frist von §§ 626 Abs. 2 BGB, 91 Abs. 2 Satz 2 SGB IX nicht eindeutig festgelegt werden kann. Selbst wenn die zum Kündigungsgrund zählende sog. negative Prognose über die Arbeitsfähigkeit der Klägerin noch zeitlich näher bestimmbar gewesen wäre, so gilt dies jedenfalls nicht für die nach der Rechtsprechung weiter erforderliche erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen der Beigeladenen (s. zu alledem BAG, Urteil vom 21.3. 1996 - 2 AZR 455/95 - NJW 1997, 1656).

Der Beklagte hat die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung der Klägerin auch innerhalb der Frist von § 91 Abs. 3 SGB IX erklärt.

Die Zustimmung ist auch materiell rechtmäßig. Die Kammer teilt die Auffassung des Beklagten, dass § 91 Abs. 4 SGB IX hier zugunsten der Beigeladenen nicht anzuwenden war. Nach dieser Vorschrift soll das Integrationsamt die Zustimmung (zur außerordentlichen Kündigung) erteilen, wenn die Kündigung aus einem Grund erfolgt, der nicht im Zusammenhang mit der Behinderung steht. Dieser Zusammenhang ist bei der Klägerin indes nach den vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen nicht auszuschließen. Einerseits ist die Lebererkrankung, die für den Abhilfebescheid des Versorgungsamtes und für die Zuerkennung eines Grades der Behinderung von 70 maßgeblich gewesen ist, möglicherweise für Fehlzeiten der Klägerin verantwortlich. Anderseits kann auch die Arbeitsunzufriedenheit, die nach der amtsärztlichen Stellungnahme vom 10.3.1999 die Krankheitsbilder der Klägerin begünstigt und u.U. zu ihrer Behinderung beiträgt, ebenfalls für Fehlzeiten der Klägerin ursächlich sein. Bei dieser Sachlage sind die angefochtenen Bescheide daher an § 91 Abs. 1 SGB IX zu messen. Nach dieser Vorschrift gelten die §§ 85 ff. SGB IX zum Kündigungsschutz schwerbehinderter Menschen auch materiell bei außerordentlicher Kündigung. Unter Zugrundelegung der zu diesen Vorschriften bzw. den bis zum 30. Juni 2001 maßgeblichen und im Wesentlichen gleichlautenden §§ 15 ff. SchwbG ist die Zustimmung zur Kündigung der Klägerin durch die Beigeladene rechtmäßig.

Die Klägerin unterfällt dem Kündigungsschutz nach §§ 85 ff. SGB IX, da sie im maßgeblichen Zeitpunkt der Kündigung durch die Beigeladene im September 2000 aufgrund des Bescheides des Versorgungsamtes vom 26.7.2001 gamäß § 1 SchwbG schwerbehindert war.

Nach § 85 SGB IX bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Schwerbehinderten durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Bei der Entscheidung darüber, ob die Zustimmung zur Kündigung zu erteilen ist, trifft das Integrationsamt, soweit nicht die Voraussetzungen des § 89 SGB IX eingreifen, eine Ermessensentscheidung, bei der das Interesse des Arbeitgebers an der Erhaltung seiner Gestaltungsmöglichkeiten gegen das Interesse des schwerbehinderten Arbeitnehmers an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes abzuwägen ist (BVerwG, Urteil vom 19.10.1995, br 1996 S. 142 = NDV-RD 1996 S. 90 zu § 15 SchwbG).
Welche Umstände im Einzelnen und mit welchem Gewicht für die Interessenabwägung maßgeblich sind, lässt sich nicht allgemein bestimmen; entscheidend sind der Bezug zur Behinderung und die Bedeutung, die einzelnen Sachverhaltenselementen im Hinblick auf die Zweckrichtung des Kündigungsschutzes der Behinderten zukommt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Schwerbehindertengesetz in erster Linie ein "Fürsorgegesetz" ist, da es mit seinen Vorschriften über den Sonderkündigungsschutz vor allem die Nachteile des Schwerbehinderten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgleichen soll.
Der Zweck des § 85 SGB IX geht deshalb dahin, den Behinderten vor den besonderen Gefahren, denen er wegen seiner Behinderung auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt ist, zu bewahren und sicherzustellen, dass er gegenüber gesunden Arbeitnehmern nicht ins Hintertreffen gerät. Das hat auch Leitlinie bei der Ermessensentscheidung zu sein, ob der Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Schwerbehinderten zuzustimmen ist. Bei dieser Abwägung muss das Integrationsamt berücksichtigen, ob und inwieweit die Kündigung die besondere durch sein Leiden bedingte Stellung des einzelnen Schwerbehinderten im Wirtschaftsleben berührt.

Dagegen ist es grundsätzlich nicht Aufgabe des Integrationsamtes, bei seiner Entscheidung die allgemeinen sozialen Interessen des einzelnen Schwerbehinderten als Arbeitnehmer zu wahren. Das bedeutet, dass der Schwerbehinderte, wenn das Integrationsamt der Kündigung zugestimmt und der Arbeitgeber diese ausgesprochen hat, noch eine arbeitsgerichtliche Überprüfung darüber herbeiführen kann, ob die Kündigung gerechtfertigt im Sinne des Kündigungsschutzgesetzes ist (BVerwG, Urteil vom 2.7.1992 - 5 C 51.90 - BVerwGE 90 S. 287 = br 1993 S. 15).

In der Rechtsprechung ist weiter geklärt, dass für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der erteilten Zustimmung zur Kündigung eines Schwerbehinderten es auf den so genannten "historischen Sachverhalt", nämlich denjenigen, der im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung gegeben war, ankommt (vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 7.3.1991 - 5 B 114.89 - br 1991 S. 113; OVG Lüneburg, Urteil vom 22.11.1996 - 4 L 232/96 -).

Nach diesen Maßstäben sind die angegriffenen Bescheide rechtlich nicht zu beanstanden. Von einer Darstellung seiner Entscheidungsgründe sieht das Gericht ab, da es der zutreffenden Begründung der angefochtenen Bescheide folgt (Feststellung gemäß § 117 Abs. 5 VwGO).

Ergänzend ist auszuführen: Zwar mag der Schutz des Schwerbehinderten dort an Gewicht gewinnen, wo die Kündigung des Arbeitsverhältnisses auf Gründe gestützt wird, die - wie hier - ihre Ursachen in der Behinderung selbst hat. Insoweit sind die Anforderungen an das, was der Arbeitgeber zumutbarerweise für eine Weiterbeschäftigung des Schwerbehinderten unternehmen muss, u.U. verschärft.

Es ist in der Rechtsprechung (des OVG Lüneburg, vgl. Beschlüsse vom 15.11.1999 - 4 L 3375/99 - und vom 27.1. 2000 - 4 L 4282/99 -, sowie der erkennenden Kammer, vgl. Urteile vom 14.9.1999 - 13 A 2875/98 - und vom 10. 10.2000 - 13 A 347/99 -) aber geklärt, dass Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich auch in diesen Fällen die Zustimmung des Integrationsamts zur beabsichtigten Kündigung rechtfertigen kann. Das Integrationsamt ist verpflichtet, lange Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers in die Abwägung der Interessen der Schwerbehinderten an der Erhaltung ihres Arbeitsplatzes und den Belangen des Arbeitgebers einzubeziehen, damit dessen Freiheit, sein Unternehmen zu planen und zu führen, mithin das ihm rechtlich zustehende Direktionsrecht, nicht ausgehöhlt wird (OVG Lüneburg, Urteil vom 11.12.1996 - Az. 4 L 231/96 -).
Die erhöhten Zumutbarkeitsgrenzen für den Arbeitgeber - seine "gesteigerte Fürsorgepflicht" - können (nur) im Ausnahmefall zu seiner Verpflichtung führen, den schwerbehinderten Arbeitnehmer gleichsam "durchzuschleppen". Die im Interesse der Schwerbehindertenfürsorge gebotene Sicherung des Arbeitsplatzes findet auf jeden Fall dort ihre Grenze, wo eine Weiterbeschäftigung des Schwerbehinderten allen Gesetzen wirtschaftlicher Vernunft widersprechen, insbesondere dem Arbeitgeber eine einseitige Lohnzahlungspflicht auferlegen würde (BVerwG, Urteil vom 19.10.1995, a.a.O., m.w.N.; vgl. auch OVG Münster, Urteil vom 27.2.1998 - 24 A 6870/ 95 -, br 1998, S. 170).

Insoweit hat das Bundesverwaltungsgericht (Beschluss vom 16.6.1990 - 5 B 127.89 - Buchholz 436. 61 § 15 SchwbG 1986 Nr. 3, m.w.N.) nämlich ausgeführt, "dass der Arbeitgeber in Ausnahmefällen verpflichtet sein kann, den schwerbehinderten Arbeitnehmer "durchzuschleppen" (vgl. BVerwGE 8, 46/51; 48, 264/267), andererseits die im Interesse der Schwerbehindertenfürsorge gebotene Sicherung des Arbeitsplatzes auf jeden Fall dort ihre Grenze findet, wo eine Weiterbeschäftigung des Schwerbehinderten allen Gesetzen wirtschaftlicher Vernunft widersprechen würde (BVerwGE 8, 46/51; Urteil vom 17.12.1958 - 5 C 151.56 - FEVS 5, 181/185)." (ebenda).

In einem solchen Fall widerspricht eine Weiterbeschäftigung des Schwerbehinderten allen Gesetzen wirtschaftlicher Vernunft. Etwas anderes kann nur angenommen werden könnnen, wenn eine hinreichend sichere Aussicht bestanden hätte, dass der Behinderte wieder arbeitsfähig wird (vgl. Urteile der erkennenden Kammer vom 14.9.1999 - 13 A 2875/98 -, und vom 10.10.2000 - 13 A 347/99 -, jew. m.w.N.). Das hat der Beklagte zutreffend verneint. Insbesondere hat der Beklagte zutreffend ermittelt, dass für die Klägerin zum maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Kündigung ein leidensgerechter Arbeitsplatz in ihrer Vergütungsgruppe nicht zugänglich war. ....

Referenznummer:

R/R1859


Informationsstand: 23.03.2004