Urteil
Zustimmung des Integrationsamtes zu einer Kündigung - Verwertung eines Sachverständigengutachten

Gericht:

OVG Nordrhein-Westfalen


Aktenzeichen:

12 A 2914/07


Urteil vom:

26.03.2008


Tenor:

Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die nicht erstattungsfähig sind.

Rechtsweg:

VG Minden - 6 K 2401/06

Quelle:

Justizportal des Landes NRW

Entscheidungsgründe:

Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet.

Dabei kann offen bleiben, ob in Bezug auf die allein erhobene Verfahrensrüge i.S.v.

§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO nicht bereits Rügeverlust eingetreten ist, weil der anwaltlich vertretene Kläger in der mündlichen Verhandlung am 17. August 2007 nach der Stellung seines auf die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens gerichteten Beweisantrags ausdrücklich auf eine Vorabentscheidung über seinen Beweisantrag verzichtet und sich damit der prozessualen Möglichkeit des § 86 Abs. 2 VwGO zur Durchsetzung seines rechtlichen Gehörs begeben hat.

Vgl. zum Rügeverlust etwa: Vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. April 1986 - 9 C 318.85 -, NVwZ 1986, 928 ff.; OVG NRW, Beschluss vom 9. Oktober 2007

- 12 A 2425/07 -.

Offen bleiben kann des weiteren, ob angesichts der mittlerweile rechtskräftig feststehenden Unwirksamkeit der fristlosen Kündigung vom 20. April 2005 einerseits sowie der im Zulassungsverfahren nicht angegriffenen Abweisung der Klage auch in Bezug auf die hilfsweise erteilte Zustimmung zur - ebenfalls unter dem 20. April 2005 hilfsweise erklärten - ordentlichen Kündigung des Klägers zum 30. November 2005 und des diesbezüglichen Unterliegens des Klägers auch in zweiter Instanz andererseits noch ein Rechtsschutzbedürfnis für eine verwaltungsgerichtliche Überprüfung (lediglich) der Zustimmung zur fristlosen Kündigung besteht, wie sie hier nach der Begründung des Zulassungsantrags begehrt wird.

Denn der allein geltend gemachte Verfahrensmangel liegt nicht vor. Die vom Kläger gerügte Ablehnung des Beweisantrags findet im Prozessrecht eine Stütze. Die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens steht nach § 98 VwGO i. V. m. §§ 404, 412 ZPO im Ermessen des Tatsachengerichts. Ein Verfahrensfehler kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn sich dem Tatsachengericht eine weitere Beweisaufnahme hätte aufdrängen müssen.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. August 2006 - 4 A 1067/06 , u.a. -, Juris; Beschluss vom 8. Dezember 1988 - 9 B 388.88 -, NJW 1989, 1233 f.

Dies ist dann der Fall, wenn das Tatsachengericht zu der Überzeugung gelangen muss, dass die Grundvoraussetzungen nicht gegeben sind, die für die Verwertbarkeit vorliegender Gutachten im allgemeinen oder nach den besonderen Verhältnissen des konkreten Falles gegeben sein müssen, weil diese Gutachten und gutachterlichen Stellungnahmen offen erkennbare Mängel enthalten, von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgehen oder unlösbare Widersprüche aufweisen, wenn sich aus ihnen Zweifel an der Sachkunde oder der Unparteilichkeit der Gutachter ergeben oder wenn sich herausstellt, dass es sich um eine besonders schwierige Sachfrage handelt, die ein spezielles Fachwissen erfordert, das bei den bisherigen Gutachtern nicht vorhanden ist. Eine Verpflichtung, zusätzlich zu den vorliegenden gutachterlichen Stellungnahmen weitere Gutachten einzuholen oder in sonstige Ermittlungen einzutreten, besteht hingegen nicht allein schon deshalb, weil ein Beteiligter die bisher vorliegenden Erkenntnisquellen im Ergebnis für unzutreffend hält.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Oktober 1987 - 9 C 12.87 -, Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 31.

Danach bestand keine Verpflichtung des Verwaltungsgerichts, dem Beweisantrag auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zu entsprechen.

Gem. § 91 Abs. 4 SGB IX soll das Integrationsamt die Zustimmung (zur außerordentlichen Kündigung) erteilen, wenn die Kündigung aus einem Grund erfolgt, der nicht im Zusammenhang mit der Behinderung steht. In diesem Fall ist das nach § 85 SGB IX grundsätzlich bestehende freie Ermessen nach § 91 Abs. 4 SGB IX dahingehend eingeschränkt, dass das Integrationsamt im Regelfall die Zustimmung zu erteilen hat. Nur bei Vorliegen von Umständen, die den Fall als atypisch erscheinen lassen, darf das Integrationsamt nach pflichtgemäßen Ermessen entscheiden.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Juli 1992 - 5 C 39.90 -, BVerwGE 90, 275 ff. zu der wortgleichen Vorgängerregelung des § 21 Abs. 4 SchwbG; OVG NRW, Beschluss vom 31. Oktober 2006 - 12 A 3554/04 -.

Für einen Zusammenhang zwischen der Behinderung und dem Kündigungsgrund i.S.d. § 91 Abs. 4 SGB IX reicht entgegen der Auffassung des Klägers nicht jedweder Einfluss der Behinderung auf das Verhalten des Behinderten. Der erforderliche Zusammenhang ist vielmehr erst dann gegeben,

- wenn die jeweilige Behinderung unmittelbar oder mittelbar zu Defiziten in der Einsichtsfähigkeit und/oder Verhaltenssteuerung des schwerbehinderten Arbeitnehmers geführt hat, denen behinderungsbedingt nicht entgegengewirkt werden konnte, und

- wenn das einer Kündigung aus wichtigem Grund zugrunde liegende Verhalten des schwerbehinderten Arbeitnehmers gerade auf diese behinderungsbedingte, mangelhafte Verhaltenssteuerung zurückzuführen ist.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. Juni 2006

- 12 A 1880/06 -, m.w.N.

Konkrete Anhaltspunkte für eine behinderungsbedingte, mangelhafte Verhaltenssteuerung des Klägers haben sich dem Verwaltungsgericht im Zeitpunkt der Entscheidung über den Beweisantrag nicht aufgedrängt. Die bei dem Kläger bestehenden - vorrangig körperlichen - Behinderungen, die Grundlage seiner Anerkennung als Schwerbehinderter sind,

"Bewegungsstörung zahlreicher Extremitätengelenke mit Einsteifung des linken Unterarms, muskulärer Unterentwicklung mit allgemeiner körperlicher Schwäche und geringgradiger Koordinationsstörung bei hirnorganischer Schädigung;

allgemeine körperliche Schwäche mit Funktionsstörungen"

sind als solche nicht ohne weiteres geeignet, Defizite in der Verhaltenssteuerung zu begründen; solches wird auch von dem Kläger nicht behauptet. Diesbezügliche weiterführende, konkrete Anhaltspunkte lagen im Zeitpunkt der Entscheidung über den Beweisantrag nicht nur nicht vor, behinderungsbedingte Defizite in der Verhaltenssteuerung waren nach dem vom Arbeitsgericht E. eingeholten und bereits im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides des Widerspruchsausschusses beim Integrationsamt des Beklagten vom 9. Juni 2006 vorliegenden - und seitens des Widerspruchsausschusses auch verwerteten - Nervenärztlichen Gutachten des Arztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, Dr. med. Q. , vom 13. Februar 2006 vielmehr auszuschließen. Auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts, die die Bewertung des Landesarbeitsgerichts Hamm in seinem Urteil vom 7. Mai 2007 - Sa - wiedergeben, wird zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO Bezug genommen.

Entgegen der Auffassung des Klägers war das Sachverständigengutachten auch verwertbar. Der Sachverständige hat unter dem Blickwinkel des schuldhaften Verhaltens gerade auch die im vorliegenden Verfahren entscheidenden Feststellungen zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Klägers getroffen und ist insoweit - unter Einbeziehung von Voruntersuchungen, eigener Anamnese und apparativen Zusatzuntersuchungen sowie unter ausdrücklicher Berücksichtigung der bei dem Kläger bestehenden hirnorganischen Schädigungen und der hieraus folgenden motorischen Behinderungen und Verlangsamung der Auffassungsgabe (S. 16, 17, 18, 20, 21, 23 des Gutachtens) - aufgrund der beim Kläger festzustellenden Fähigkeit zu rationalem, zielgerichtetem Verhalten, wegen seines Durchhaltevermögens und seiner Zähigkeit (S. 22, 23 des Gutachtens) zu dem eindeutigen Ergebnis gelangt, "dass die aus der hirnorganischen Schädigung resultierenden Störungen nicht dazu führen konnten, dass der Untersuchte die Vorwerfbarkeit seiner Fehlhandlungen nicht hätte einsehen und entsprechend anders handeln können" (S. 23 des Gutachtens).

Soweit der Kläger auf eine Passage des Sachverständigengutachtens auf S. 24 Bezug nimmt, wonach "dann eine indirekte Beziehung zu seiner anerkannten Schwerbehinderung denkbar" wäre, mag dies im Hinblick auf den Kontext, in dem diese Ausführungen zu sehen sind, auf eine durch die Mutter-Kind-Beziehung beeinträchtigte Persönlichkeitsstruktur und damit auf eine psychische Fehlentwicklung hindeuten. Gleichwohl hat der Gutachter auch unter Einbeziehung einer etwaigen psychischen Fehlentwicklung sein Gutachten mit der - nachvollziehbaren - Feststellung abgeschlossen: "Die psychische Fehlentwicklung ist aber nicht als so schwer einzuschätzen, dass der Untersuchte die Vorwerfbarkeit der Taten nicht hätte einsehen und dementsprechend anders handeln können" (S. 24 a.E. des Gutachtens).

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2, 1. Halbsatz, 162 Abs. 3 VwGO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Das angefochtene Urteil ist rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Referenznummer:

R/R4443


Informationsstand: 19.01.2010