Urteil
Kündigungszustimmungsverfahren: Pflicht zu Ermittlungen der Hauptfürsorgestelle zum Umfang der behinderungsbedingten Leistungsminderung

Gericht:

BVerwG 5. Senat


Aktenzeichen:

5 C 24/93 | 5 C 24.93


Urteil vom:

19.10.1995


Grundlage:

  • SGB 10 § 20 |
  • SchwbG § 15 Fassung 1986-08-26

Leitsatz:

1. Die Hauptfürsorgestelle hat bei ihrer Ermessensentscheidung im Verfahren über den Sonderkündigungsschutz nach § 15 SchwbG von Amts wegen all das zu ermitteln, was erforderlich ist, um die gegensätzlichen Interessen des Arbeitgebers und des schwerbehinderten Arbeitnehmers abwägen zu können.

2. Die Aufklärungspflicht gewinnt ihre Konturen und Reichweite aus dem materiellen Recht; entscheidend ist der Bezug eines Umstandes zur Behinderung und seine an der Zweckrichtung des behindertenrechtlichen Sonderkündigungsschutzes gemessene Bedeutung.

3. Die Aufklärungspflicht wird verletzt, wenn die Hauptfürsorgestelle sich damit begnügt, das Vorbringen des Arbeitgebers, soweit es im Rahmen der nach § 15 SchwbG gebotenen Interessenabwägung zu berücksichtigen ist, nur auf seine Schlüssigkeit hin zu überprüfen.

Orientierungssatz:

(zu LS 3)

1. Die Hauptfürsorgestelle ist nicht dadurch der Pflicht enthoben, sich von der Richtigkeit der für ihre Entscheidung wesentlichen Behauptungen eine eigene Überzeugung zu verschaffen, daß das Arbeitsgericht gegebenenfalls die für die Kündigungszustimmung wesentlichen Behauptungen einer selbständigen Feststellung unterziehen kann; wären nämlich unter dieser Voraussetzung Hauptfürsorgestelle und Verwaltungsgericht an den Tatsachenvortrag des Arbeitgebers gebunden, dann würde das Zustimmungsverfahren zu einer leeren Förmlichkeit ausgehöhlt und damit im Ergebnis dem Schwerbeschädigten der Rechtsschutz verweigert (so bereits Urteil vom 28. November 1958 - BVerwG 5 C 32.56 - BVerwGE 8, 46 (52)).

Rechtszug:

vorgehend OVG Lüneburg 1993-04-14 - 4 L 6322/92
vorgehend VG Stade 1992-06-10 4 A 183/90

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

JURIS-GmbH

Tatbestand:

Der 1946 geborene Kläger, ein Diplom-Ingenieur in der Fachrichtung Elektrotechnik, wurde im Januar 1981 bei der Beigeladenen als Entwicklungsingenieur eingestellt und ist zunächst im Entwicklungslabor tätig gewesen. Nachdem er sich im September 1985 wegen einer seelischen Erkrankung in ärztliche Behandlung begeben hatte, stellte das Versorgungsamt H. eine Psychose als Behinderung fest; der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt nach dem Feststellungsbescheid 50 v.H. Im Oktober 1985 wurde der Kläger gemeinsam mit einem anderen Mitarbeiter mit der Erarbeitung von Dokumentationsunterlagen beauftragt. Die Beigeladene begründete die Umsetzung des Klägers u.a. damit, daß er verstärkt Schwierigkeiten habe, Arbeiten unter Termindruck fertigzustellen.
Im Dezember 1986 beantragte die Beigeladene bei dem Beklagten erstmals die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers. Sie machte geltend, daß die Arbeitsgruppe "Dokumentation" aufgrund betriebsinterner Umstrukturierungen entfallen solle und der Kläger wegen seiner Behinderung unter dem Aspekt einer normalen, unter Termindruck zu erbringenden Arbeitsleistung nicht mehr anderweitig als Entwicklungsingenieur eingesetzt werden könne. In der im März 1987 durchgeführten Einigungsverhandlung einigten sich die Beteiligten darauf, daß der Kläger seine Dokumentationstätigkeit in der Entwicklungsabteilung in einer um eine Stufe niedrigeren Gehaltsgruppe fortsetzen solle. Der Beklagte gewährte der Beigeladenen ab August 1987 einen Lohnkostenzuschuß von 600 DM monatlich auf der Grundlage der Annahme, daß der Kläger infolge seiner Behinderung nicht nur vorübergehend offensichtlich nur eine wesentlich verminderte Arbeitsleistung erbringen könne.

Am 3. Oktober 1989 beantragte die Beigeladene erneut die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung gemäß § 15 SchwbG. Zur Begründung führte sie aus, daß es ihr nicht länger zuzumuten sei, den Kläger weiterzubeschäftigen, weil er seit Jahren keine den Gehaltszahlungen adäquate Arbeitsleistung erbringe. Eine Auswertung der im Jahre 1989 geleisteten Arbeitsstunden ergebe, daß lediglich 31 v.H. nominell als produktive Stunden angenommen werden könnten; selbst diese 31 v.H. seien aber im Ergebnis unproduktiv, weil der Kläger ständig von seinem Vorgesetzten angeleitet und kontrolliert werden müsse und einer Stunde Arbeit des Klägers mehr als eine Stunde unproduktiver Kontrolltätigkeit des Vorgesetzten gegenüberstehe.

Nach Einholung von Stellungnahmen des Betriebsrates, des Vertrauensmannes der Schwerbehinderten, des Arbeitsamtes und des behandelnden Psychiaters fand im Dezember 1989 eine Einigungsverhandlung statt, in welcher der Vorgesetzte des Klägers anhand von Beispielen schilderte, wie er diesen "in kleinsten Schritten" anleiten und kontrollieren müsse. Das Zustimmungsverfahren wurde bis Ende Januar 1990 ausgesetzt, um ein Konzept für eine externe Therapie zu erarbeiten. Nachdem der Kläger Gespräche darüber mit der Vertreterin des Vereins zur Förderung seelisch Behinderter e.V. und dem Beklagten abgelehnt hatte, stellte ihn die Beigeladene ab 1. Februar 1990 von der Arbeit frei.
Mit Bescheid vom 23. Februar 1990 erteilte der Beklagte die Zustimmung zur Kündigung des Klägers und führte zur Begründung aus: Unter Berücksichtigung insbesondere der eingeholten Stellungnahmen und der Einigungsverhandlung liege zu seiner Überzeugung eine erhebliche, leidensbedingte Minderleistung des Klägers vor, weshalb der Beigeladenen eine Weiterbeschäftigung nicht zumutbar sei. Selbst nach der Umsetzung auf den "Schonarbeitsplatz" in der Dokumentation habe er kaum noch produktive Arbeit geleistet. Alle Versuche, durch eine berufsbegleitende psychosoziale Betreuung seine Wiedereingliederung in den Betrieb zu ermöglichen, habe er abgelehnt. Eine Stabilisierung seines Gesundheitszustandes und eine künftige Leistungssteigerung seien deshalb nicht zu erwarten.

Die nach Zurückweisung seines Widerspruchs erhobene Anfechtungsklage hat der Kläger im wesentlichen damit begründet, daß die von der Beigeladenen behaupteten leidensbedingten Minderleistungen nicht belegt seien; die pauschale Behauptung unproduktiver Arbeitszeiten unter Angabe von Prozenten reiche keinesfalls aus. Das Verwaltungsgericht hat der Klage im wesentlichen mit der Begründung stattgegeben, daß die Ermessensentscheidung des Beklagten auf der Grundlage eines nicht ausreichend ermittelten Sachverhalts getroffen worden sei. Der Beklagte habe nicht präzise ermittelt, in welchem Umfang die Leistung des Klägers hinter den Anforderungen zurückgeblieben sei, und es unterlassen, die Beigeladene zur Vorlage von Belegen, z. B. nachvollziehbaren Aufzeichnungen über die vom Kläger tatsächlich erbrachten Arbeitsleistungen, aufzufordern.

Auf die Berufung der Beigeladenen hat das Oberverwaltungsgericht unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Juli 1992 - BVerwG 5 C 51.90 - (BVerwGE 90, 287) ausgeführt, die Klärung der Frage, ob die Kündigung durch Gründe bedingt sei, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers lägen, sei nach § 1 Abs. 2 KSchG den Arbeitsgerichten vorbehalten. Die Prüfung, ob die Leistung des Schwerbehinderten am Arbeitsplatz in dem vom Arbeitgeber behaupteten Umfang hinter den Anforderungen zurückbleibe, obliege also grundsätzlich den Arbeitsgerichten; dies gelte auch dann, wenn die behauptete Leistungsminderung auf der Behinderung beruhe. In diesem Falle habe die Abwägung der Interessen des Arbeitgebers und des Schwerbehinderten auf der Grundlage des Sachvortrages des Arbeitgebers zum Umfang der Leistungsminderung zu erfolgen. Eine Ausnahme gelte nur, wenn die Unrichtigkeit dieses Sachvortrages und damit die arbeitsrechtliche Unwirksamkeit der Kündigung offen zutage trete. Eine solche Ausnahme sei hier nicht gegeben. Aus diesen Gründen sei auch dem Hilfsantrag des Klägers auf Einholung eines arbeitsmedizinischen Gutachtens über den Umfang der Einschränkung seiner Leistungsfähigkeit nicht zu entsprechen gewesen. Auf der Grundlage des Sachvortrages der Beigeladenen habe die Hauptfürsorgestelle die besonderen fürsorgerischen Belange zutreffend geprüft und erwogen. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers, der eine Verletzung des § 15 SchwbG rügt und der Auffassung ist, das Berufungsgericht hätte seinem Antrag auf Einholung eines arbeitsmedizinischen Gutachtens stattgeben müssen. Der Beklagte und die Beigeladene halten zwar die Begründung des angegriffenen Urteils für fehlerhaft; gleichwohl sei es jedoch im Ergebnis richtig, weil die Hauptfürsorgestelle den Sachverhalt ausreichend aufgeklärt habe und die angefochtenen Bescheide rechtmäßig seien. Der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht hält das angefochtene Urteil für rechtsfehlerhaft.

Entscheidungsgründe:

Die Revision des Klägers ist begründet. Das Berufungsgericht ist der Ansicht, im Verfahren über den Sonderkündigungsschutz nach § 15 SchwbG habe die Hauptfürsorgestelle die Frage, ob die Leistung des Schwerbehinderten am Arbeitsplatz in dem vom Arbeitgeber behaupteten Umfang hinter den Anforderungen zurückbleibt, auch dann, wenn die behauptete Leistungsminderung auf der Behinderung beruht, auf der Grundlage des Sachvortrages des Arbeitgebers zu entscheiden. Das verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

Gemäß § 15 des Gesetzes zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft ( Schwerbehindertengesetz - SchwbG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. August 1986 (BGBl I S. 1421, ber. S. 1550) bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Schwerbehinderten der vorherigen Zustimmung der Hauptfürsorgestelle. Bei der Ausübung des besonderen Kündigungsschutzes nach § 15 SchwbG trifft die Hauptfürsorgestelle, soweit nicht die besonderen Voraussetzungen des § 19 SchwbG erfüllt sind, eine Ermessensentscheidung, bei welcher das Interesse des Arbeitgebers an der Erhaltung seiner Gestaltungsmöglichkeiten gegen das Interesse des schwerbehinderten Arbeitnehmers an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes abzuwägen ist (stRspr, vgl. nur BVerwGE 90, 287 (292 f.)).

Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits in seinem Urteil vom 28. November 1958 - BVerwG 5 C 32.56 - (BVerwGE 8, 46 (52)) entschieden, daß die Hauptfürsorgestelle nicht dadurch der Pflicht enthoben ist, sich von der Richtigkeit der für ihre Entscheidung wesentlichen Behauptungen eine eigene Überzeugung zu verschaffen, daß das Arbeitsgericht gegebenenfalls die für die Kündigungszustimmung wesentlichen Behauptungen einer selbständigen Feststellung unterziehen kann; wären nämlich unter dieser Voraussetzung Hauptfürsorgestelle und Verwaltungsgericht an den Tatsachenvortrag des Arbeitgebers gebunden, dann würde das Zustimmungsverfahren zu einer leeren Förmlichkeit ausgehöhlt und damit im Ergebnis dem Schwerbeschädigten der Rechtsschutz verweigert. Die Aufklärungspflicht, die ihre Rechtsgrundlage nunmehr in § 20 SGB X findet, wird verletzt, wenn die Hauptfürsorgestelle (oder der zuständige Widerspruchsausschuß) sich damit begnügt, das Vorbringen des Arbeitgebers, soweit es im Rahmen der nach § 15 SchwbG gebotenen Interessenabwägung zu berücksichtigen ist, nur auf seine Schlüssigkeit hin zu überprüfen (vgl. auch Senatsbeschluß vom 06. Februar 1995 - BVerwG 5 B 75.94 - (Buchholz 436.61 § 15 SchwbG Nr. 9)).

Dem vom Berufungsgericht für seine entgegengesetze Auffassung in Anspruch genommenen Urteil vom 02. Juli 1992 - BVerwG 5 C 51.90 - (BVerwGE 90, 287) ist nichts dafür zu entnehmen, daß die Prüfungszuständigkeit der Hauptfürsorgestelle in dem Sinne eingeschränkt wäre, daß es nur den Arbeitsgerichten vorbehalten sei, vom Arbeitgeber behauptete behinderungsbedingte Minderleistungen des Schwerbehinderten am Arbeitsplatz zu prüfen, und die Hauptfürsorgestelle sich demgemäß darauf zu beschränken habe, die fürsorgerischen Belange auf der Grundlage des Sachvortrages des Arbeitgebers abzuwägen. In diesem Urteil ist vielmehr ausgeführt, daß die Hauptfürsorgestelle, um im Verfahren nach § 15 SchwbG ihre Ermessensentscheidung sachgerecht treffen zu können, anknüpfend an den Antrag des Arbeitgebers und von ihm ausgehend von Amts wegen all das zu ermitteln und dann auch zu berücksichtigen hat, was erforderlich ist, um die gegensätzlichen Interessen des Arbeitgebers und des schwerbehinderten Arbeitnehmers gegeneinander abwägen zu können (a.a.O. S. 294 unter weiterem Hinweis auf BVerwGE 48, 264 (266) und Beschluß vom 28. September 1983 - BVerwG 5 B 6.83 -).
Die der Hauptfürsorgestelle durch § 20 SGB X auferlegte Aufklärungspflicht gewinnt ihre Konturen und Reichweite aus dem materiellen Recht (a.a.O. S. 294). Soweit ein Umstand materiellrechtlich für die gebotene Interessenabwägung Bedeutung hat, unterliegt er der Aufklärungspflicht. Welche Umstände im einzelnen und mit welchem Gewicht für die Interessenabwägung maßgeblich sind, läßt sich nicht allgemein bestimmen; entscheidend sind der Bezug zur Behinderung und die an der Zweckrichtung des behindertenrechtlichen Sonderkündigungsschutzes (vgl. dazu BVerwGE 90, 287 (292 f.)) gemessene Bedeutung.

Im vorliegenden Fall geht es um die Frage, ob - behinderungsbedingt - die Leistung des Schwerbehinderten am Arbeitsplatz in dem vom Arbeitgeber behaupteten Umfang hinter den Anforderungen zurückbleibt. Diese Frage ist für den behindertenrechtlichen Kündigungsschutz von wesentlicher Bedeutung. Denn das Bundesverwaltungsgericht hat bereits mehrfach herausgestellt, daß der Schwerbehindertenschutz an Gewicht gewinnt, wenn die Kündigung des Arbeitsverhältnisses auf Gründe gestützt wird, die in der Behinderung selbst ihre Ursache haben, und daß infolgedessen an die im Rahmen der interessenabwägenden Ermessensentscheidung zu berücksichtigende Zumutbarkeitsgrenze für den Arbeitgeber besonders hohe Anforderungen zu stellen sind, um auch den im Schwerbehindertenrecht zum Ausdruck gekommenen Schutzgedanken der Rehabilitation verwirklichen zu können ( vgl. BVerwGE 29, 140 (141); 39, 36 (38) sowie Beschluss vom 16. Juni 1990 - BVerwG 5 B 127.89 - (Buchholz 436. 61 § 15 SchwbG 1986 Nr. 3 S. 4)). So kann der Arbeitgeber in Ausnahmefällen sogar verpflichtet sein, den schwerbehinderten Arbeitnehmer "durchzuschleppen", während andererseits die im Interesse der Schwerbehindertenfürsorge gebotene Sicherung des Arbeitsplatzes auf jeden Fall dort ihre Grenze findet, wo eine Weiterbeschäftigung des Schwerbehinderten allen Gesetzen wirtschaftlicher Vernunft widersprechen, insbesondere dem Arbeitgeber einseitig die Lohnzahlungspflicht auferlegt würde (vgl. BVerwGE 8, 46 (51); Beschluß vom 16. Juni 1990 (a.a.O. S. 5)).

In das Abwägungsmaterial für die Ermessensentscheidung der Hauptfürsorgestelle ist also, wenn die Kündigung auf behinderungsbedingte Leistungsdefizite gestützt werden soll, auch und vor allem einzustellen, welchen Umfang und welche Auswirkungen die Leistungsdefizite haben. Der Beklagte war deshalb nach dem Amtsermittlungsgrundsatz gehalten, die Auswirkungen der Behinderung des Klägers auf seine Arbeitsleistung konkret festzustellen; er durfte die Interessenabwägung nicht allein auf die vom Kläger bestrittenen Angaben der Beigeladenen zum Umfang der behinderungsbedingten Minderleistung stützen. Der vom Berufungsgericht aufgestellte Rechtssatz, die Prüfung des tatsächlichen Umfangs einer vom Arbeitgeber behaupteten, behinderungsbedingten Leistungsminderung sei den Arbeitsgerichten vorbehalten, verstößt demnach gegen die vom Bundesverwaltungsgericht geklärten Rechtsgrundsätze für die Ermessensentscheidung nach § 15 SchwbG.

Hiervon unberührt bleibt der zutreffende rechtliche Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, daß die Hauptfürsorgestelle grundsätzlich nicht zu prüfen habe, ob die beabsichtigte Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Schwerbehinderten sozial ungerechtfertigt im Sinne des § 1 Abs. 1 KSchG ist (vgl. BVerwGE 90, 287 (293 f.)). Mit der Prüfung des Umfangs der behinderungsbedingten Leistungsminderung im Rahmen der Klärung der Voraussetzungen der Abwägungsentscheidung wird entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht die Prüfung der sozialen Rechtfertigung der Kündigung vorweggenommen, sondern dem zusätzlich zum allgemeinen arbeitsrechtlichen Schutz gegebenen Rechtsgesichtspunkt der speziellen Schwerbehindertenfürsorge Geltung verschafft. Die Auffassung, schutzwürdige Belange des Schwerbehinderten könnten noch ausreichend im arbeitsgerichtlichen Verfahren berücksichtigt werden, weil dort die Schwerbehinderteneigenschaft bei der Prüfung der Sozialwidrigkeit zu berücksichtigen sei und die Arbeitsgerichte weitgehend oder vollständig den Schutz gewähren könnten, der sonst im Zustimmungsverfahren gelte, ist vom Bundesverwaltungsgericht bereits in seinem Urteil vom 15. Dezember 1988 - BVerwG 5 C 67.85 - (BVerwGE 81, 84 (90)) unter Hinweis auf die spezifische Wirkungsweise des Sonderkündigungsschutzes nach dem Schwerbehindertengesetz abgelehnt worden. Eine Kündigung ohne Zustimmung nach dem Schwerbehindertengesetz führt nämlich zur Nichtigkeit der Kündigung (§§ 15, 21 Abs. 1 SchwbG in Verbindung mit § 134 BGB) und damit zu einem Weiterbeschäftigungsanspruch des Schwerbehinderten. Einen gleichwertigen Arbeitsplatzschutz für den Schwerbehinderten vermag die Berücksichtigung der Schwerbehinderteneigenschaft im Kündigungsschutzprozeß nicht zu bewirken, da ihm dort ein Weiterbeschäftigungsanspruch grundsätzlich nicht gewährt wird (vgl. BAGE 29, 334 (344)).

Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Sinne von § 144 Abs. 4 VwGO als richtig dar. Als "andere Gründe" im Sinne dieser Vorschrift kommen nur solche in Betracht, für die das angegriffene Urteil bereits hinreichende tatsächliche Feststellungen enthält (§ 137 Abs. 2 VwGO; vgl. BVerwGE 29, 261 (269)). § 144 Abs. 4 VwGO ist nicht anwendbar, wenn die erforderlichen Feststellungen erst vom Bundesverwaltungsgericht getroffen werden müßten. Das Berufungsgericht hat - seiner Rechtsauffassung entsprechend - nicht geprüft, ob die Ermittlungen der Hauptfürsorgestelle zum Umfang der behinderungsbedingten Leistungsminderung dem der Sicherung des behindertenrechtlichen Kündigungsschutzes dienenden Aufklärungsgebot genügten oder ob zur Klärung des Umfangs der Minderleistung noch eine Beweisaufnahme erforderlich gewesen wäre. Dem Bundesverwaltungsgericht ist es verwehrt, hierzu selbst Feststellungen zu treffen und das behördliche Ermittlungsergebnis zu bewerten. Das nötigt zur Zurückverweisung an die Vorinstanz.

Referenznummer:

WBRE410001752


Informationsstand: 21.05.1996