Urteil
Kündigungsschutzklage - Wahrung der Klagefrist - Zustimmungsbescheid des Integrationsamts

Gericht:

LAG Rheinland-Pfalz 5. Kammer


Aktenzeichen:

5 Sa 701/14


Urteil vom:

16.04.2015


Grundlage:

Leitsatz:

Erklärt der Arbeitgeber an einem Tag in zwei getrennten Schreiben sowohl eine fristlose Verdachtskündigung, als auch eine fristlose Tatkündigung, die dem Arbeitnehmer durch Boten zeitgleich in einem Umschlag zugehen, wahrt eine innerhalb der Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG erhobene Klage gegen die Tatkündigung auch die Klagefrist für die Verdachtskündigung (im Anschluss an BAG 18.12.2014 - 2 AZR 163/14). (Rn.53)

Orientierungssatz:

1. Der vorsätzliche Verstoß eines Arbeitnehmers gegen seine Verpflichtung, die abgeleistete, vom Arbeitgeber nur schwer zu kontrollierende Arbeitszeit korrekt zu dokumentieren, kommt als wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung iSv. § 626 Abs 1 BGB in Frage. Der Arbeitgeber muss auf eine korrekte Dokumentation der Arbeitszeit seiner Mitarbeiter vertrauen können. Darauf, ob dem Arbeitgeber durch das Verhalten ein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist oder das Verhalten des Arbeitnehmers auf andere - nicht wirtschaftliche - Vorteile ausgerichtet war, kommt es grundsätzlich nicht an. (Rn. 59)

2. Gemäß § 88 Abs 4 SGB 9 haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Zustimmung des Integrationsamtes keine aufschiebende Wirkung. Das bedeutet, dass die durch das Integrationsamt einmal erteilte Zustimmung zur Kündigung - vorbehaltlich ihrer Nichtigkeit - so lange Wirksamkeit entfaltet, wie sie nicht rechtskräftig aufgehoben ist. (Rn. 77)

(Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt unter dem Aktenzeichen 9 AZN 615/15)

Rechtsweg:

ArbG Mainz, Urteil vom 06.11.2014 - 7 Ca 280/14
BAG, Urteil vom 06.07.2015 - 9 AZN 615/15, sonstige Erledigung: Rücknahme
nachgehend BAG, Urteil vom 3. Juli 2015 - 9 AZN 615/15

Quelle:

Landesrecht Rheinland-Pfalz

Tenor:

1. Auf die Berufung der Beklagten wird unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz - Auswärtige Kammern Bad Kreuznach - vom 6. November 2014, Az. 7 Ca 280/14, abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die fristlosen Kündigungen der Beklagten vom 28. März 2014 aufgelöst worden ist.

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit von fristlosen, hilfsweise ordentlichen Tat- und Verdachtskündigungen der Beklagten.

Der 1975 geborene Kläger (verheiratet, zwei Kinder) war seit 16.06.2008 bei der Beklagten als Physiotherapeut zu einer Bruttomonatsvergütung von zuletzt EUR 2.391,91 beschäftigt. Beim Kläger ist aufgrund einer schweren Sehbeeinträchtigung ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen "G", "B", "H" und "RF" festgestellt. Die Beklagte beschäftigt in ihrer Klink in B-Stadt ca. 200 Arbeitnehmer; es besteht ein Betriebsrat. Die regelmäßige Arbeitszeit des Klägers betrug 38,5 Wochenstunden. Seine Arbeitszeit, die um 07:00 Uhr begann, wurde mit einer elektronischen Stechuhr erfasst.

Die Beklagte gehört zur X-Gruppe. Zu dieser Gruppe gehört auch das Gesundheitsstudio "X Y Z" in B-Stadt, das ua. von Physiotherapeuten betreutes Gerätetraining ambulant anbietet. Seit 01.05.2013 ging der Kläger mit Genehmigung der Beklagten einer Nebentätigkeit in diesem Studio nach. Er schloss mit der X. Holding GmbH einen Arbeitsvertrag für geringfügig Beschäftigte als Aufsicht/Therapeut mit einer Arbeitszeit von maximal 28 Monatsstunden zu einer Stundenvergütung von EUR 16,00 brutto/netto. Der Fußweg zwischen Klinik und Studio beträgt ca. drei Minuten.

Seit Oktober 2013 arbeitete der Kläger im Einverständnis mit seinem Vorgesetzten montags, mittwochs und freitags in der Regel von 10:00 bis 12:00 Uhr im Gesundheitsstudio. Er hatte beim Verlassen der Klinik die Stempeluhr zu betätigen (Gehen-Buchung) und bei seiner Rückkehr (Kommen-Buchung) erneut zu stempeln. Die Arbeitszeit im Studio trug der Kläger manuell in Stundennachweise ein. In der ersten Märzwoche 2014 kam der Verdacht auf, dass der Kläger beim Verlassen der Klinik, um seiner Nebentätigkeit nachzugehen, mehrfach die Stechuhr nicht betätigt haben könnte. Außerdem bestand der Verdacht, dass er im Gesundheitsstudio die Stundennachweise nicht wahrheitsgemäß ausgefüllt haben könnte. Ein Abgleich der Daten des Zeiterfassungssystems der Beklagten mit den im Studio geführten Stundennachweisen ergab, dass der Kläger an folgenden Tagen die Arbeitsunterbrechung bei der Beklagten nicht gestempelt hat:

Datum / Studiodienst laut Stundennachweis / Fehlzeit ohne Stechuhr
02.01.2014 / 10:00 - 12:00 h / 120 Min.
17.01.2014 / 10:00 - 11:30 h / 90 Min.
14.02.2014 / 10:00 - 12:00 h / 120 Min.
26.02.2014 / 10:00 - 12:00 h / 120 Min.
03.03.2014 / 10:00 - 12:00 h / 120 Min.
04.03.2014 / 10:00 - 12:00 h / 120 Min.

Darüber hinaus stimmten an mehreren Tagen die Daten der Zeiterfassung bei der Beklagten nicht mit den Stundennachweisen des Studios überein, beispielsweise am 27.12.2013 wie folgt:

Datum / Studiodienst laut Stundennachweis / Zeiterfassung laut Stechuhr
27.12.2013 / 10:00 - 11:30 h / 09:42 h Gehen 11:08 h Kommen

Am 07.03.2014 führte der Vorstand der Beklagten ein Gespräch mit dem Kläger. Zum Teilnehmerkreis gehörte ua. der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende, der auch stellvertretender Schwerbehindertenvertreter ist. Der Vorstand konfrontierte den Kläger mit dem Vorwurf, dass er seit Oktober 2013 wiederholt seiner Nebentätigkeit im Gesundheitsstudio nachgegangen sei, ohne die erforderliche Gehen-Buchung von seiner Hauptbeschäftigung vorzunehmen. Im Gesprächsprotokoll ist ua. folgendes vermerkt:

"Herr A. gibt zu, dass er, beim ersten Mal unbeabsichtigt, dann jedoch vorsätzlich die erforderlichen Zeitbuchungen nicht vorgenommen hat. Er versuchte, sein Fehlverhalten zu erklären. Seine Arbeitszeit im Akutzentrum mit 38,5 Stunden und seine Nebentätigkeit mit ca. 6 Stunden wöchentlich, dazu die Renovierung seines Hauses in Eigenregie habe dazu geführt, dass er mit seinem Zeitkonto zunehmend in Minusstunden gerutscht sei. So sei er der Versuchung erlegen, hin und wieder keine Zeitbuchungen vorzunehmen."

Mit zwei Schreiben vom 11.03.2014 hörte die Beklagte sowohl den Betriebsrat gem. § 102 BetrVG als auch die Schwerbehindertenvertretung gem. § 95 Abs. 2 SGB IX an. Im Eingangssatz heißt es jeweils:

"Wir beabsichtigen, das Arbeitsverhältnis mit Herrn A. aus verhaltensbedingten Gründen durch Ausspruch einer fristlosen Tat- und Verdachtskündigung ... unverzüglich zu beenden."

"Wir beabsichtigen, das Arbeitsverhältnis mit Herrn A. aus verhaltensbedingten Gründen durch Ausspruch einer ordentlichen Tat- und Verdachtskündigung ... zu beenden. Die ordentliche Kündigung soll hilfsweise zu einer fristlosen Kündigung erfolgen, zu der eine separate Anhörung erfolgen wird."

In einer gemeinsamen Stellungnahme vom 12.03.2014 teilten der Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung mit, dass sie der beabsichtigten fristlosen, ersatzweise ordentlichen Kündigung nicht zustimmen.

Ebenfalls mit Schreiben vom 11.03.2014 beantragte die Beklagte die Zustimmung des Integrationsamtes zur fristlosen, hilfsweise ordentlichen Kündigung des Klägers. Die Beklagte führte ua. aus:

"Wir beabsichtigen, das Arbeitsverhältnis mit Herrn A. aus verhaltensbedingten Gründen durch Ausspruch einer fristlosen, hilfsweisen ordentlichen Tat- und Verdachtskündigung zu beenden."

Das Integrationsamt hat mit Bescheid vom 27.03.2014 der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses zugestimmt. Der Widerspruchsausschuss hat den Widerspruch des Klägers mit Bescheid vom 30.10.2014 zurückgewiesen. Der Bescheid ist bestandskräftig.

Das Integrationsamt hat mit Bescheid vom 08.04.2014 auch der beabsichtigten ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses zugestimmt. Der Widerspruchsausschuss hat mit Bescheid vom 30.10.2014 den Bescheid des Integrationsamtes vom 08.04.2014 aufgehoben und die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung versagt. Dagegen hat die Beklagte Anfechtungsklage vor dem Verwaltungsgericht Koblenz erhoben (Az. 3 K1 064/14. KO). Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen.

Mit Schreiben vom 28.03.2014, das dem Kläger am selben Tag von einem Boten zugestellt worden ist, kündigte die Beklagte wegen "schuldhaft begangenen Arbeitszeitbetrugs" das Arbeitsverhältnis außerordentlich. Mit weiterem Schreiben vom 28.03.2014, vom Boten gleichzeitig zugestellt, kündigte sie wegen des "dringenden Verdachts des Arbeitszeitbetrugs" das Arbeitsverhältnis außerordentlich. Die zwei Kündigungsschreiben, die ansonsten wortgleich sind, waren in einem Umschlag. Der Kläger unterzeichnete dem Boten folgendes -vorbereitetes - Zustellungsprotokoll:

"Heute hat mich die Personalleiterin der W. Kliniken Rheinland-Pfalz AG beauftragt, als Bote zwei Schreiben zu überbringen. Es handelt sich dabei um die diesem Protokoll in Ablichtung beigehefteten und mir bekannten Kündigungsschreiben der W. Kliniken Rheinland-Pfalz AG vom 28.03.2014 an Herrn A..

Hiermit bestätige ich den Empfang des o.a. Schreibens.
B., den ____________ _________________"
A.

Ebenfalls mit zwei Schreiben vom 28.03.2014 kündigte die X. Holding GmbH das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger (Nebentätigkeit im Gesundheitsstudio) außerordentlich wegen "schuldhaft begangenen Arbeitszeitbetrugs" und wegen des "dringenden Verdachts des Arbeitszeitbetrugs". Die zwei Kündigungsschreiben, die am 28.03.2014 zeitgleich vom Botendienst zugestellt worden sind, waren in einem zweiten Umschlag. Auch hier unterzeichnete der Kläger ein vorbereitetes Zustellungsprotokoll mit entsprechendem Inhalt.

Der Kläger erhob mit am 04.04.2014 beim Arbeitsgericht eingegangenem Schriftsatz Klage und beantragte zunächst nur, festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die außerordentliche fristlose Kündigung vom 28.03.2014 beendet worden ist. Der Klageschrift fügte er das Kündigungsschreiben wegen "schuldhaft begangenen Arbeitszeitbetrugs" bei. Im Gütetermin vom 30.04.2014 teilte die Beklagte mit, dass sie dem Kläger am 28.03.2014 nicht nur eine Tat-, sondern auch eine Verdachtskündigung erklärt habe. Den Empfang von zwei Kündigungen habe der Kläger dem Boten bestätigt. Die fristlose Verdachtskündigung sei wirksam geworden, weil sie der Kläger nicht rechtzeitig gerichtlich angegriffen habe.

Mit Schreiben vom 11.04.2014, am selben Tag von einem Boten zugestellt, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30.06.2014 wegen "des dringenden Verdachts des Arbeitszeitbetrugs". Mit Klageerweiterung vom 15.04.2014 wehrte sich der Kläger gegen die ordentliche Kündigung.

Mit weiterem Schreiben vom 11.04.2014, ebenfalls am 11.04.2014 vom Botendienst zugestellt, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis wegen "schuldhaft begangenen Arbeitszeitbetrugs" außerordentlich. Diese Erklärung soll nach dem Willen der Beklagten eine ordentliche Kündigung sein.

Mit Klageerweiterung vom 02.05.2014 machte der Kläger die Unwirksamkeit der außerordentlichen Verdachtskündigung vom 28.03.2014 und der "außerordentlichen" Kündigung vom 11.04.2014 geltend. Zusätzlich stellte er einen allgemeinen Feststellungsantrag, der - ausdrücklich - auch mögliche weitere Kündigungen erfassen sollte.

Der Kläger hat vorgetragen, ihm sei nicht aufgefallen, dass ihm der Bote am 28.03.2014 zwei außerordentliche Kündigungen der Beklagten zugestellt habe. Er sei davon ausgegangen, dass es sich um identische Kündigungserklärungen handele. Er sei juristisch nicht ausgebildet und habe wegen seiner hochgradigen Sehbehinderung die Unterschiede in der Formulierung der Tat- und Verdachtskündigung nicht erkannt.

Von einer weitergehenden Darstellung des unstreitigen Tatbestandes und des erstinstanzlichen Parteivorbringens wird gem. § 69 Abs. 2 ArbGG abgesehen und auf den Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils vom 06.11.2014 Bezug genommen.


Der Kläger hat erstinstanzlich - zuletzt - beantragt,

1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die außerordentliche fristlose Kündigung vom 28.03.2014 beendet worden ist,

2. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis auch nicht durch die hilfsweise ordentliche fristgemäße Kündigung vom 11.04.2014 zum 30.06.2014 aufgelöst wird,

3. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis auch nicht durch die außerordentliche fristlose Kündigung vom 11.04.2014 aufgelöst wurde,

4. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis auch nicht durch die außerordentliche fristlose Verdachtskündigung vom 28.03.2014 aufgelöst wurde,

5. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern zu unveränderten Bedingungen über den 28.03.2014 fortbesteht.



Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 06.11.2014 festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis weder durch die zwei Kündigungen vom 28.03.2014 noch durch die zwei Kündigungen vom 11.04.2014 aufgelöst worden sei. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht -zusammengefasst- ausgeführt, der Kläger könne sich in analoger Anwendung des § 6 KSchG nach Ablauf von drei Wochen noch auf die Unwirksamkeit der fristlosen Verdachtskündigung vom 28.03.2014 berufen. Die fristlosen Kündigungen seien unwirksam. Der Kläger habe die Beklagte zwar über seine Arbeitszeit getäuscht und dadurch unberechtigte Vergütung für 13 Stunden iHv. EUR 185,50 brutto erlangt. Er habe bei seiner Anhörung am 07.03.2014 eingeräumt, dass er lediglich beim ersten Mal aus Versehen die Stechuhr nicht bedient habe. Danach habe er vorsätzlich gehandelt. Der Beklagten sei jedoch zuzumuten, die ordentliche Kündigungsfrist bis zum 30.06.2014 einzuhalten. Die ordentliche Kündigung vom 11.04.2014 sei rechtsunwirksam, weil es nach dem Ergebnis des Widerspruchsverfahrens an der gem. § 85 SGB IX erforderlichen Zustimmung des Integrationsamtes fehle. Wegen weiterer Einzelheiten wird gem. § 69 Abs. 2 ArbGG auf die Entscheidungsgründe des Arbeitsgerichts Bezug genommen.

Die Beklagte hat gegen das am 05.12.2014 zugestellte Urteil mit am 22.12.2014 beim Landesarbeitsgericht eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und diese am 05.02.1015 begründet.

Sie ist der Ansicht, ihre außerordentliche Verdachtskündigung vom 28.03.2014 gelte wegen Nichteinhaltung der dreiwöchigen Klagefrist gem. § 7 KSchG als von Anfang an wirksam. § 6 KSchG sei nicht analog anzuwenden. Die fristlosen Kündigungen seien jedenfalls nach § 626 Abs. 1 BGB wirksam. Das Arbeitsgericht hätte bei der Interessenabwägung nicht zu Gunsten des Klägers berücksichtigen dürfen, dass er vor seinem eigentlichen Arbeitsbeginn um 7:00 Uhr, täglich bereits seit 6:20 Uhr "betriebsnützliche" Tätigkeiten verrichtet habe. Es sei zwar unstreitig, dass der Kläger die Klinik bereits um 6:20 Uhr betreten habe. Die frühe Anwesenheit sei den schlechten Zugverbindungen vom Wohnort des Klägers zur Klinik geschuldet. Ihr pauschales Bestreiten, dass der Kläger vor 7:00 Uhr "betriebsnützliche" Tätigkeiten verrichtet habe, sei zulässig. Es sei nicht ihre Sache im Haus zu recherchieren, womit der Kläger die Zeit vor 7:00 Uhr verbracht habe. Die Annahme des Arbeitsgerichts, sie habe dem Kläger eine monatliche Zulage iHv. EUR 150,00 gezahlt, um überobligatorische Arbeitsleistungen vor 7:00 Uhr zu honorieren, sei unrichtig. Die Zulage habe vielmehr eine Gehaltserhöhung dargestellt, die sie auf Wunsch des Klägers gezahlt habe, weil sie mit seiner Arbeitsleistung zufrieden gewesen sei.


Die Beklagte beantragt zweitinstanzlich,

das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz - Auswärtige Kammern Bad Kreuznach - vom 06.11.2014, Az. 7 Ca 280/14, aufzuheben und die Klage abzuweisen.


Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil nach Maßgabe seines Schriftsatzes vom 11.03.2015 als zutreffend. Die Interessenabwägung des Arbeitsgerichts sei nicht zu beanstanden. Die Beklagte habe sein überobligatorisches Engagement durch Zahlung einer monatlichen Zulage iHv. EUR 150,00 ausdrücklich gewürdigt. Er habe sich keinen Vermögensvorteil zu Lasten der Beklagten verschafft, denn er habe in der Zeit vom 02.10.2013 bis 05.03.2014 Mehrarbeit von 258 Minuten geleistet. In seiner Aufstellung habe er die Wegezeit von der Klinik zum Gesundheitsstudio mit 5 Minuten berücksichtigt. Bei 50 Arbeitstagen mache dies 250 Minuten aus, so dass kein Betrug vorliege.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und den Inhalt der Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Außerdem wird Bezug genommen auf den Inhalt der zur Information des Gerichts beigezogenen Akte 7 Ca 291/14. In dem Rechtsstreit des Klägers gegen die X. Holding GmbH hat das Arbeitsgericht mit rechtskräftigem Urteil vom 06.11.2014 festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis (Nebentätigkeit im Gesundheitsstudio) zwar nicht durch die fristlosen Tat- und Verdachtskündigungen der Arbeitgeberin vom 28.03.2014, wohl aber durch die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung vom 11.04.2014 zum 15.05.2014 aufgelöst worden ist.

Entscheidungsgründe:

A.

Die nach § 64 ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist gemäß §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. §§ 517, 519 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und in ausreichender Weise begründet worden. Sie ist somit zulässig.

B.

Die Berufung hat in der Sache teilweise Erfolg. Das Arbeitsgericht hat zu Recht entschieden, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die außerordentliche Tat- und Verdachtskündigung der Beklagten vom 28.03.2014 aufgelöst worden ist. Das Arbeitsverhältnis ist auch nicht durch die "außerordentliche" Kündigung vom 11.04.2014 aufgelöst worden. Allerdings hat die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung der Beklagten vom 11.04.2014 das Arbeitsverhältnis mit Ablauf der Kündigungsfrist am 30.06.2014 beendet. Die Berufung führt deshalb zur teilweisen Abänderung des arbeitsgerichtlichen Urteils.

I.

Die außerordentlichen Kündigungen der Beklagten vom 28.03.2014 sind unwirksam.

1. Das Arbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass der Kläger sowohl gegen die außerordentliche Tatkündigung als auch gegen die außerordentliche Verdachtskündigung der Beklagten vom 28.03.2014 rechtzeitig innerhalb der Frist des § 4 Satz 1 KSchG Klage erhoben hat. Die Wirksamkeit der außerordentlichen Verdachtskündigung wird - entgegen der Ansicht der Beklagten - nicht gem. § 7 KSchG fingiert.

a) Will ein Arbeitnehmer geltend machen, eine schriftliche Kündigung sei sozial ungerechtfertigt oder aus anderen Gründen rechtsunwirksam, muss er gem. § 4 Satz 1 KSchG innerhalb von drei Wochen nach ihrem Zugang Klage auf die Feststellung erheben, dass das Arbeitsverhältnis durch sie nicht aufgelöst worden ist. Wegen § 13 Abs. 1 Satz 2 KSchG gilt diese Frist auch für die Klage gegen eine außerordentliche Kündigung. Wird die Unwirksamkeit der Kündigung nicht rechtzeitig geltend gemacht, gilt diese gem. § 7 KSchG als von Anfang an rechtswirksam. Eine verspätet erhobene Kündigungsschutzklage muss als unbegründet abgewiesen werden.

b) Selbst wenn die außerordentliche Verdachtskündigung der Beklagten vom 28.03.2014 als eigenständig zu betrachten wäre, hat der Kläger auch gegen diese rechtzeitig mit seiner Klage gegen die außerordentliche Tatkündigung vom 28.03.2014, die am 04.04.2014 beim Arbeitsgericht eingegangen ist, Klage erhoben.

Einen dem Wortlaut von § 4 Satz 1 KSchG entsprechenden gesonderten Antrag hat der Kläger gegen die Verdachtskündigung vom 28.03.2014 allerdings erstmals mit Klageerweiterung vom 02.05.2014 angekündigt. Zu diesem Zeitpunkt war die Klagefrist von drei Wochen, die mit dem Zugang des Kündigungsschreibens am 28.03.2014 begann, verstrichen. Dennoch hat der Kläger die Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG - zumindest in entsprechender Anwendung von § 6 KSchG - gewahrt, obwohl er innerhalb der Klagefrist keinen allgemeinen Feststellungsantrag nach § 256 Abs. 1 ZPO angekündigt hat.

Für die Beklagte war bereits aufgrund des Antrags nach § 4 Satz 1 KSchG, der sich gegen die außerordentliche Tatkündigung vom 28.03.2014 richtete, erkennbar, dass der Kläger auch andere Beendigungstatbestände nicht gegen sich gelten lassen wollte, die eine fristlose Auflösung des Arbeitsverhältnisses bewirken könnten. Die Klage gegen die Tatkündigung vom 28.03.2014 konnte nur dann Erfolg haben, wenn das Arbeitsverhältnis auch nicht durch die Verdachtskündigung vom 28.03.2014 fristlos beendet würde. Mit dem gegen die Tatkündigung vom 28.03.2014 gerichteten Antrag wurde damit die Frist für eine Klage gegen die Verdachtskündigung vom 28.03.2014 zumindest deshalb gewahrt, weil der Kläger deren Unwirksamkeit noch vor Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz ausdrücklich geltend gemacht und auch sie mit einem § 4 Satz 1 KSchG entsprechenden Klageantrag angegriffen hat (vgl. ausführlich BAG 18.12.2014 - 2 AZR 163/14 - Juris). § 6 KSchG zielt auch in der geltenden Fassung darauf ab, den Arbeitnehmer davor zu bewahren, seinen Kündigungsschutz aus formalen Gründen zu verlieren.

In einer Kündigungsschutzklage nach § 4 Satz 1 KSchG liegt - für den beklagten Arbeitgeber in der Regel erkennbar - zugleich der Angriff gegen solche Kündigungen, die dem Arbeitnehmer noch während des Laufs der von der ersten Kündigung ausgelösten Auflösungsfrist zugehen und innerhalb dieser Frist oder zeitgleich mit ihrem Ablauf Wirkung entfalten sollen (BAG 18.12.2014 - 2 AZR 163/14 Rn. 23, aaO). Ergibt sich weder aus der Klagebegründung noch aus sonstigen Erklärungen des Arbeitnehmers oder in den Rechtsstreit eingeführten Umständen, dass er den Gegenstand der Kündigungsschutzklage auf die Wirksamkeit der konkret angegriffenen Kündigung beschränken will, muss der Arbeitgeber davon ausgehen, der Arbeitnehmer wende sich mit seiner Klage zugleich gegen die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses durch mögliche andere Tatbestände bis zu dem in der angegriffenen Kündigung vorgesehenen Auflösungstermin.

c) Danach war hier vom Streitgegenstand der Klage gegen die Tatkündigung vom 28.03.2014 das Begehren umfasst, festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien auch durch die außerordentliche Verdachtskündigung vom 28.03.2014 nicht aufgelöst wird. Der Kläger hat durch seine am 04.04.2014 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage zu verstehen gegeben, dass er sich gegen die fristlose Auflösung seines Arbeitsverhältnisses zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung am 28.03.2014 wehre. Dieses Begehren betrifft die Tat- und die Verdachtskündigung. Es sind keine Anhaltspunkte dafür vorgetragen oder objektiv ersichtlich, dass der Kläger die Verdachtskündigung mit der Klage nicht erfassen wollte. Im Gegenteil: Für die Beklagte war deutlich, dass der Kläger mit seiner am 04.04.2014 eingegangenen Klage jedwede Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 28.03.2014 in Abrede stellen wollte. Die Klage gegen die Tatkündigung wäre sinnlos gewesen, wenn der Kläger die Verdachtskündigung hätte hinnehmen wollen.

2. Die außerordentlichen Kündigungen (Tat- oder Verdachtskündigung) der Beklagten vom 28.03.2014 haben das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst. Es fehlt an einem wichtigen Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB.

a) Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", dh. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls - jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist - zumutbar ist oder nicht (BAG 20.11.2014 - 2 AZR 651/13 - Rn. 13 mwN, Juris).

b) Das Arbeitsgericht hat zu Recht einen "an sich" wichtigen Grund angenommen. Der Kläger hat seine arbeitsvertraglichen Pflichten in erheblicher Weise verletzt, weil er seine Arbeitszeit in der Klinik der Beklagten an sechs Tagen nicht korrekt dokumentiert hat.

aa) Der vorsätzliche Verstoß eines Arbeitnehmers gegen seine Verpflichtung, die abgeleistete, vom Arbeitgeber nur schwer zu kontrollierende Arbeitszeit korrekt zu dokumentieren, kommt als wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung iSv. § 626 Abs. 1 BGB in Frage. Dies gilt für den vorsätzlichen Missbrauch einer "Stempeluhr" ebenso wie für das vorsätzlich falsche Ausstellen entsprechender Formulare. Der Arbeitgeber muss auf eine korrekte Dokumentation der Arbeitszeit seiner Mitarbeiter vertrauen können. Dies gilt erst recht, wenn diese nicht an feste Arbeitszeiten gebunden sind. Überträgt er den Nachweis der geleisteten Arbeitszeit den Arbeitnehmern selbst und füllt ein Arbeitnehmer entsprechende Formulare vorsätzlich falsch aus, liegt darin in aller Regel ein schwerer Vertrauensmissbrauch. Gleiches gilt, wenn der Arbeitnehmer verpflichtet ist, die geleistete Arbeitszeit mit Hilfe des Arbeitsplatzrechners in einer elektronischen Zeiterfassung zu dokumentieren, und er hierbei vorsätzlich falsche Angaben macht (BAG 09.06.2011 - 2 AZR 381/10 - Rn. 14 mwN, NZA 2011, 1027). Darauf, ob dem Arbeitgeber durch das Verhalten ein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist oder das Verhalten des Arbeitnehmers auf andere - nicht wirtschaftliche - Vorteile ausgerichtet war, kommt es grundsätzlich nicht an (BAG 26.09.2013 - 2 AZR 682/12 - Rn. 54 mwN, NZA 2014, 443).

bb) Nach diesen Maßstäben hat der Kläger seine Arbeitspflichten erheblich verletzt. Er hat bewusst und willentlich über die tatsächliche Arbeitszeit in der Klinik der Beklagten getäuscht und zu diesem Zweck die Stempeluhr nicht betätigt, wenn er die Klinik verlassen hat, um im Gesundheitsstudio zu arbeiten. Es ist unstreitig, dass der Kläger seinen Arbeitsplatz in der Klinik der Beklagten am 02.01.2014 von 10:00 bis 12:00 Uhr, am 17.01.2014 von 10:00 bis 11:30 Uhr, am 14.02.2014 von 10:00 bis 12:00 Uhr, am 26.02.2014 von 10:00 bis 12:00 Uhr, am 03.03.2014 von 10:00 bis 12:00 Uhr und am 04.03.2014 von 10:00 bis 12:00 Uhr verlassen hat, ohne die Stempeluhr zu betätigen. Durch das Nichtbetätigen der Stempeluhr hat er sich auf seinem Arbeitszeitkonto ohne Gegenleistung eine Zeitgutschrift für 11,5 Stunden erschlichen. Dadurch hat er gegenüber der Beklagten einen Gehaltsanspruch für 11,5 Stunden vorgetäuscht, für die ihm unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Zahlungsanspruch zustand.

cc) Die Gründe, die der Kläger zu seiner Rechtfertigung vorbringt, sind nicht geeignet, sein Verhalten - nämlich die vorsätzliche Falschangabe der geleisteten Arbeitszeit in der Klinik der Beklagten - zu entschuldigen.

Entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts erscheint das Fehlverhalten des Klägers bei der Arbeitszeiterfassung nicht in einem milderen Licht, weil er morgens schon um 06:20 Uhr in der Klinik eingetroffen ist, obwohl die bezahlte Arbeitszeit erst um 07:00 Uhr begann. Wenn der Kläger der Rechtsansicht war, die Beklagte sei verpflichtet, ihm die Anwesenheitszeit vor dem "offiziellen" Dienstbeginn als Arbeitszeit auf seinem Arbeitszeitkonto gutzuschreiben, weil er bereits "betriebsnützliche" Tätigkeiten verrichtet haben will, hätte er seinen vermeintlichen Anspruch gegenüber der Beklagten geltend machen und ggf. in einem arbeitsgerichtlichen Rechtsstreit verfolgen können. Selbst wenn ihm für diese Zeit Arbeitsentgelt zugestanden haben sollte, wofür wenig spricht, war der Kläger keinesfalls berechtigt, seine vermeintlichen Entgeltansprüche - quasi im Wege der Selbsthilfe - dadurch zu realisieren, dass er den Arbeitsplatz vormittags mehrere Stunden ohne Betätigung der Stempeluhr verlässt.

Auch die Ausführungen des Klägers zu vermeintlicher Mehrarbeit, rechtfertigen sein Verhalten nicht. Der Kläger war verpflichtet, in der Klinik der Beklagten wöchentlich 38,5 Stunden zu arbeiten. Seine Nebentätigkeit, die ihm mit EUR 16,- netto pro Stunde vergütet wurde, erforderte einen zusätzlichen wöchentlichen Zeitaufwand von 6 Stunden. Die Tätigkeit im Gesundheitsstudio, die der Kläger aufgrund eines gesonderten Arbeitsvertrags mit einer anderen Arbeitgeberin im Rahmen eines Mini-Jobs leistete, stellte offensichtlich keine Mehrarbeit im Arbeitsverhältnis mit der Beklagten dar. Die Arbeitsleistung im Gesundheitsstudio wurde von einem anderen Arbeitgeber - noch dazu netto - vergütet. Entgegen der Ansicht des Klägers gehörte die Zeit für den Fußweg von der Klinik der Beklagten zum Gesundheitsstudio und zurück (je 3 Minuten) nicht zur Arbeitszeit. Die Arbeitszeit beginnt und endet an der jeweiligen Arbeitsstelle. Den Weg zwischen zwei Arbeitsstellen in zwei Arbeitsverhältnissen bei zwei Arbeitgebern muss der Arbeitnehmer in seiner Freizeit zurücklegen. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass die Beklagte dem Kläger gestattete, seine Arbeitszeit in ihrer Klinik an drei Wochentagen vormittags zu unterbrechen, um in der Zeit von 10:00 -12:00 Uhr seiner Nebentätigkeit im Gesundheitsstudio nachzugehen.

Es vermag den Kläger auch nicht zu entlasten, dass er Zeit benötigte, um sich auf die Therapie mit den Patienten des Gesundheitsstudios vorzubereiten. Die erforderliche Vor- oder Nachbereitungszeit für das Training mit diesen Patienten hatte ihm das Gesundheitsstudio zu vergüten. Unabhängig davon konnte der Kläger nicht ernsthaft annehmen, er könne sich seine Arbeitsleistung in der Zeit von 10:00 bis 11:30 Uhr oder 12:00 Uhr doppelt bezahlen lassen. Dem Kläger musste vollkommen klar sein, dass er für ein zusätzliches Arbeitsentgelt iHv. wöchentlich EUR 96,- netto (EUR 16,- x 6 Std.) zusätzlich zu den 38,5 Wochenstunden bei der Beklagten auch 6 Wochenstunden im Gesundheitsstudio arbeiten musste. Wenn ihm eine Arbeitszeit von 44,5 Wochenstunden zzgl. der Wegezeiten von 18 Minuten (3 Tage x 2 x 3 Min.) für den Hin- und Rückweg zu viel war, durfte er sich nicht für berechtigt halten, bei der Beklagten seine Abwesenheitszeit nicht auszustempeln, um auf seinem Zeitkonto nicht "ins Minus zu rutschen".

c) Der Beklagten war es nach den Umständen des Streitfalls gleichwohl zuzumuten, den Kläger bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist am 30.06.2014 weiterzubeschäftigen.

aa) Liegt - wie hier - ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung "an sich" vor, bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und der Abwägung der Interessen beider Vertragsteile jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn mildere Mittel als Reaktion auf die eingetretene Vertragsstörung ausscheiden. Mildere Mittel sind insbesondere die Abmahnung und die ordentliche Kündigung (BAG 20.11.2014 - 2 AZR 651/13 - Rn. 21 mwN, Juris). Im Hinblick darauf ist die ausgesprochene außerordentliche Kündigung unverhältnismäßig.

bb) Dies ist sie nicht deshalb, weil es vorrangig einer Abmahnung bedurft hätte.

Zwar gilt das durch § 314 Abs. 2 BGB konkretisierte Erfordernis einer Abmahnung grundsätzlich auch bei Störungen im Vertrauensbereich. Die Abmahnung ist aber, wie § 314 Abs. 2 Satz 2 BGB iVm. § 323 Abs. 2 BGB zeigt, unter besonderen Umständen entbehrlich. Das ist der Fall, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft trotz Abmahnung nicht erwartet werden kann oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass die Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich - für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist (BAG 25.10.2012 - 2 AZR 495/11 - Rn. 15, 16 mwN, Juris).

Danach war im Streitfall eine Abmahnung entbehrlich. Der Kläger konnte keinesfalls damit rechnen, dass die Beklagte die Täuschung über die erbrachte Arbeitszeit billigen oder seinen Falschangaben bei der Arbeitszeiterfassung lediglich mit einer Abmahnung begegnen würde. Eine Hinnahme des vorsätzlichen und systematischen Missbrauchs der Stempeluhr durch die Beklagte war - auch für den Kläger erkennbar - aufgrund der Schwere seiner Pflichtverletzungen unabhängig von einer Wiederholungsgefahr ausgeschlossen.

cc) Dennoch erweist sich die fristlose Kündigung als unwirksam. Der Beklagten war es unter Beachtung der Besonderheiten des Einzelfalls und der gebotenen Abwägung der Interessen beider Vertragsteile zuzumuten, das Arbeitsverhältnis noch bis zum Ablauf der maßgebenden Kündigungsfrist von zwei Monaten zum Monatsende (§ 622 Abs. 2 Nr. 2 BGB) fortzusetzen. Zugunsten des Klägers fällt seine Schwerbehinderung mit einem GdB von 100 entscheidend ins Gewicht. Denn aufgrund seiner hochgradigen Sehbehinderung ist der Kläger in besonderem Maße sozial schutzbedürftig.


II.

Die "außerordentliche" Kündigung der Beklagten vom 11.04.2014 wäre ebenfalls rechtsunwirksam. Es fehlt - wie oben ausgeführt - an einem wichtigen Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB. Im Übrigen hätte die Beklagte die Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB nicht gewahrt.

Diese Kündigung war nach dem Vortrag der Beklagten als hilfsweise ordentliche Kündigung gewollt. Auch wenn für den Kläger als Erklärungsempfänger - entgegen der Ansicht der Beklagten - nicht offensichtlich war, dass seiner Arbeitgeberin bei der Formulierung ein Fehler unterlaufen ist, und bei Kündigungserklärungen das Bestimmtheitsgebot gilt (BAG 20.06.2013 - 6 AZR 805/11 - Rn. 14-15, NZA 2013, 1137), hat die Beklagte gegenüber dem Kläger durch ihr prozessuales Verhalten deutlich gemacht, dass sie mit dieser Kündigung das Arbeitsverhältnis nicht mit sofortiger Wirkung, sondern unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist zum 30.06.2014 beenden wollte. Hieran muss sie sich festhalten lassen.


III.

Die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung der Beklagten vom 11.04.2014 hat das Arbeitsverhältnis zum 30.06.2014 aufgelöst.

1. Die Wirksamkeit der ordentlichen Kündigung scheitert - entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts - nicht daran, dass der Widerspruchsausschuss beim Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung den Zustimmungsbescheid des Integrationsamtes mit Bescheid vom 30.10.2014 aufgehoben hat.

Nach § 85 SGB IX bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Eine ohne wirksame Zustimmung ausgesprochene Kündigung ist nach § 134 BGB nichtig.

Im Streitfall hatte das Integrationsamt die erforderliche Zustimmung zur ordentlichen Kündigung mit Bescheid vom 08.04.2014 vor Abgabe der Kündigungserklärungen vom 11.04.2014 erteilt. Der Beklagten war damit die Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger gestattet. Diese Wirkung des Zustimmungsbescheides ist entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts nicht dadurch entfallen, dass der Widerspruchsausschuss den Bescheid aufgehoben hat. Die Aufhebung des Zustimmungsbescheides des Integrationsamtes ist nicht bestandskräftig, weil die Beklagte vor dem Verwaltungsgericht Koblenz Anfechtungsklage (Az. 3 K 1064/14.KO) erhoben hat.

Gem. § 88 Abs. 4 SGB IX haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Zustimmung des Integrationsamtes keine aufschiebende Wirkung. Das bedeutet, dass die durch das Integrationsamt einmal erteilte Zustimmung zur Kündigung - vorbehaltlich ihrer Nichtigkeit - so lange Wirksamkeit entfaltet, wie sie nicht rechtskräftig aufgehoben ist. Für die Berechtigung des Arbeitgebers, auf der Grundlage des Zustimmungsbescheides die Kündigung zunächst zu erklären, ist es folglich ohne Bedeutung, ob die Zustimmung vom Widerspruchsausschuss oder einem Gericht aufgehoben wird, solange die betreffende Entscheidung nicht bestands- bzw. rechtskräftig ist (BAG 23.05.2013 - 2 AZR 991/11 - NZA 2013, 1373).

2. Die ordentliche Kündigung ist aus verhaltensbedingten Gründen iSv. § 1 Abs. 1, Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt.

Die Pflichtverletzung des Klägers im Zusammenhang mit der falschen Dokumentation seiner Arbeitszeit in der Klinik der Beklagten rechtfertigt aus den oben angeführten Gründen die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Eine Abmahnung war, wie ausgeführt, entbehrlich. Besondere Umstände des Einzelfalls, die ein anderes Ergebnis rechtfertigten, sind nicht ersichtlich.

Die Pflichtverletzungen des Klägers sind von solchem Gewicht, dass sie auch unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und aller Umstände des vorliegenden Falls zum Überwiegen des berechtigten Interesses der Beklagten führen, das Arbeitsverhältnis unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist zu beenden. Wie bereits oben ausgeführt fällt zu Gunsten des Klägers seine Schwerbehinderung mit einem GdB von 100 erheblich ins Gewicht. Zu seinen Gunsten sprechen auch seine Unterhaltspflichten gegenüber der Ehefrau und zwei Kindern. Der Kläger war zwar mehr als fünf Jahre unbeanstandet bei der Beklagten beschäftigt, allerdings ist diese Betriebszugehörigkeit noch nicht derart lang, dass von einem generell erhöhten Bestandsschutz ausgegangen werden muss. Der Kläger war zum Kündigungszeitpunkt 38 Jahre alt. In diesem Alter ist es - trotz der hochgradigen Sehbehinderung - nicht ausgeschlossen, eine vergleichbare Anstellung als Physiotherapeut zu finden.

Zu Lasten des Klägers ist zu berücksichtigen, dass er gravierend gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen hat, weil er beim Verlassen der Klinik in mindestens sechs Fällen absichtlich die Stempeluhr nicht betätigt hat, wenn er seiner Nebentätigkeit im Gesundheitsstudio nachgegangen ist. Damit wollte sich der Kläger vorsätzlich einen Vermögensvorteil verschaffen, weil ihm auf seinem Arbeitszeitkonto 11,5 Stunden gutgeschrieben worden sind, die er nicht für die Beklagte gearbeitet hat. Durch dieses Verhalten hat der Kläger das in ihn gesetzte Vertrauen, seine Arbeitszeiten wahrheitsgemäß anzugeben, nachhaltig zerstört. Die Beklagte braucht es nicht hinzunehmen, in absehbarer Zukunft ihr Vermögen durch weitere ähnliche Pflichtverletzungen des Klägers zu gefährden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Beklagte auf wahrheitsgemäße Angaben des Klägers angewiesen ist, weil sie nicht alle Arbeitsbereiche - insbesondere die Zeiterfassung - so kontrollieren kann, dass Pflichtverletzungen der Arbeitnehmer zwingend aufgedeckt würden. Der Beklagten ist deshalb nicht zuzumuten, den Kläger über den Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist hinaus, weiterzubeschäftigen.

3. Die Beklagte hat die ordentliche Kündigungsfrist von zwei Monaten zum Ende eines Kalendermonats gem. § 622 Abs. 2 Ziff. 2 BGB eingehalten. Die Kündigung vom 11.04. zum 30.06.2014 wahrt diese Frist.

4. Die Kündigung ist nicht wegen fehlerhafter Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 BetrVG unwirksam.

Die Beklagte hat erstinstanzlich auf einfaches Bestreiten des Klägers unter Vorlage des Anhörungsschreibens schlüssig vorgetragen, den Betriebsrat zur beabsichtigten ordentlichen Tat- und Verdachtskündigung angehört zu haben. Es wäre Aufgabe des Klägers gewesen, nach § 138 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO im Einzelnen darzulegen, inwieweit die Betriebsratsanhörung gleichwohl unvollständig und damit fehlerhaft gewesen sein soll. Hieran fehlt es, so dass der Vortrag der Beklagten gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden gilt. Ein materieller Rechtsfehler ist angesichts der Schlüssigkeit des Vorbringens der Beklagten nicht zu erkennen (zum Erfordernis einer solchen Schlüssigkeitsprüfung BAG 24.05.2012 - 2 AZR 206/11 - Rn. 48 ff., NZA 2013, 137).


C.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO.

Ein Grund, der nach den hierfür maßgeblichen gesetzlichen Kriterien des § 72 Abs. 2 ArbGG die Zulassung der Revision rechtfertigen könnte, besteht nicht.

Referenznummer:

R/R7258


Informationsstand: 03.04.2017