Urteil
Verhaltensbedingte Kündigung - Zusammenhang mit der Behinderung - Ermessen

Gericht:

VG Düsseldorf 13. Kammer


Aktenzeichen:

13 K 7746/11


Urteil vom:

25.10.2012


Grundlage:

Tenor:

Der Bescheid des Beklagten vom 16. Juni 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 2011 wird aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtsgebühren nicht erhoben werden, tragen der Beklagte zu drei Vierteln und die Beigeladene zu einem Viertel mit der Maßgabe, dass ein Kostenausgleich zwischen ihnen nicht stattfindet.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem jeweiligen Vollstreckungsschuldner wird gestattet, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des aufgrund des Urteils jeweils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der jeweiligen Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Zustimmung des Beklagten zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers durch die Beigeladene.

Der Kreis O stellte bei dem Kläger mit Wirkung ab dem 6. Januar 2011 eine Behinderung mit einem Grad der Behinderung von 30 fest und führte als Beeinträchtigungen auf eine chronische Prostataentzündung mit Dranginkontinenz und eine Depression (Bescheid vom 2. Februar 2011). Die Bundesagentur für Arbeit stellte den Kläger ebenfalls ab dem 6. Januar 2011 einem schwerbehinderten Menschen gleich (Bescheid vom 7. April 2011).

Der Kläger ist seit Juni 2006 als Sozialversicherungsfachangestellter bei der Beigeladenen angestellt, während des hier maßgeblichen Zeitraums war er als Vertriebsreferent im Außendienst tätig.

Unter dem 27. April 2011 beantragte die Beigeladene bei dem Beklagten die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung des Klägers aus verhaltensbedingten Gründen. Sie führte aus: In eine E-Mail an einen Mitarbeiter des Kundencenters I vom 25. März 2011 habe der Kläger sich zur der Behandlung eines Kleindefektes an seinem Dienstwagen Stellung genommen. Dabei habe er sich in grob beleidigender Weise geäußert (u.a. Vergleich mit Stasi-Methoden). Außerdem habe er am Ende dieser E-Mail ein Schreiben von T vom 23. Februar 2011 angesprochen; er habe sich dessen Inhalt offenbar zu Eigen gemacht, sich aber zumindest von den in diesem Schreiben gemachten nötigenden Äußerungen nicht distanziert. Des Weiteren habe der Kläger am 6. April 2011 seinen Dienstwagen in einer Werkstatt zur Reparatur abgegeben. Wie sich später herausgestellt habe, hätten in dem Dienstwagen zwei volle Ordner mit Kopien, teilweise auch Originalen von Beitrittserklärungen von Versicherten der Beigeladenen gelegen. Es habe sich dabei um streng vertrauliche Unterlagen mit zahlreichen personenbezogenen Daten gehandelt. Ferner hätte sich in dem Werkstattersatzwagen in einem offenen Karton ein weiterer großer Stapel mit kopierten Beitrittserklärungen befunden. Der Kläger sei unter dem 5. März 2009 bereits wegen grober Verletzungen des Datenschutzes abgemahnt worden.

Der Kläger legte in der Folgezeit ein Attest von L, Arzt für Innere Medizin, vom 24. Mai 2011 vor. Danach bestand bei dem Kläger ein ausgeprägtes Schlaf-Defizit-Syndrom, das zu einem verminderten Konzentrationsvermögen und in Stress-Situationen zu Fehlreaktionen führen könne. Am 31. Mai 2011 fand bei der Oberbürgermeisterin der Stadt S, Fachdienst Jugend, Soziales und Wohnen, eine Kündigungsschutzverhandlung statt, an der auch der Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende des Personalrats der Beigeladenen teilnahmen.

Mit Bescheid vom 16. Juni 2011 erteilte der Beklagte der Beigeladenen die Zustimmung zur beantragten Kündigung des Klägers gemäß § 85 Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch (SGB IX). Zur Begründung führte er aus:

Das Integrationsamt habe über den Antrag der Beigeladenen nach umfassender Aufklärung des Sachverhaltes und unter Berücksichtigung des Schutzzweckes des SGB IX nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Dabei sei insbesondere das Interesse des Klägers an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit dem Interesse der Beigeladenen an dessen Beendigung abzuwägen. Das SGB IX solle die Nachteile des schwerbehinderten Menschen auf dem Arbeitsmarkt ausgleichen und seine Integration gewährleisten. Bei einer Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen sei es für das Integrationsamt von besonderer Bedeutung, ob der verhaltensbedingte Kündigungsgrund im Zusammenhang mit der anerkannten Behinderung stehe. Gestützt auf den Feststellungsbescheid des Kreises O könne zumindest ein mittelbarer Zusammenhang zwischen dem Kündigungsgrund und der Behinderung nicht ausgeschlossen werden.

Nach dem Ergebnis der Ermittlungen müsse aufgrund des vorliegenden Sachverhaltes davon ausgegangen werden, dass der Kläger das vorgetragene Fehlverhalten begangen habe. Die Äußerungen seien der besagten E-Mail zu entnehmen. Der Kläger habe sich weder von den diesbezüglichen Äußerungen noch von den Äußerungen in dem Schreiben vom 23. Februar 2011 distanziert. Zu den übrigen Vorwürfen habe er sich nicht speziell geäußert. Der Kläger sei mehrfach abgemahnt und auf die Konsequenzen im Wiederholungsfalle hingewiesen worden. Dennoch habe er sein Fehlverhalten fortgesetzt. Es könne aufgrund der Sachlage davon ausgegangen werden, dass der Kläger auch unter Berücksichtigung seiner Behinderung in der Lage sei, die im Betrieb bestehenden Regelungen und arbeitsvertraglichen Pflichten zu verstehen und einzuhalten.

Mit Schreiben vom 28. Juni 2011 und 12. Juli 2011 kündigte die Beigeladene das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger zum 31. Januar 2012 bzw. 31. März 2012. Der Kläger hat dagegen beim Arbeitsgericht Klage erhoben hat.

Der Kläger erhob gegen den Bescheid vom 16. Juni 2011 Widerspruch und legte u. a. eine ärztliche Stellungnahme von P vom 4. Juli 2011 vor, wonach die mit der Erkrankung des Klägers einhergehenden Ängste und Depressionen zur einer Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit führen könnten und Konzentrationsmängel und Verhaltensauffälligkeiten in Belastungssituationen typische Folgen seien.

Zur Begründung seines Widerspruchs führte der Kläger - u.a. unter Vorlage seines in dem arbeitsgerichtlichen Verfahren eingereichten Schriftsatzes vom 18. August 2011, dessen Inhalt er auch zum Gegenstand seines Vortrages im Widerspruchsverfahren machte - weiter aus: Seine gesundheitliche Situation sei nicht ausreichend beachtet worden. Der Inhalt der E-Mail vom 25. März 2011 sei vom Recht der freien Meinungsäußerung gedeckt. Des Weiteren habe er sich mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 3. August 2011 entschuldigt. Seinerzeit sei er wegen des aus seiner Sicht und seiner Wahrnehmung bestehenden Sachverhalts äußerst erregt gewesen und habe vor allem aufgrund seiner Krankheitssituation in dieser für ihn völlig angespannten und aggressiven Lage hinsichtlich seiner Wortwahl überreagiert. Er habe sich ganz offensichtlich in einer äußerst angespannten Situation befunden und seine Nerven hätten blank gelegen.

Die Ordner mit den Beitrittserklärungen hätten zwar in seinem Dienstfahrzeug gelegen, seien aber nicht offen zugänglich gewesen. Als er seinen Dienstwagen bei der Werkstatt abgegeben habe, sei er davon unterrichtet gewesen, dass er sich bei der Beigeladenen hätte einfinden müssen. Er habe das Gefühl gehabt, dass er sich seine Kündigung habe abholen sollen, und sei sehr aufgeregt und nervös gewesen. Er sei entsetzt darüber gewesen, dass der Personalrat ihn nicht tatkräftig unterstützt habe. Seine Nerven hätten blank gelegen. Auch habe es sich nur um eine kleine Unachtsamkeit gehandelt. Am selben Tage habe er seine fristlose Kündigung erhalten, die dann später wieder aufgehoben worden sei. Er habe keine Gelegenheit mehr gehabt, weitere Unterlagen aus dem Werkstattersatzfahrzeug zu nehmen.

Die Beigeladene nahm zu dem Widerspruch des Klägers wie folgt Stellung: Der Kläger habe mit seiner E-Mail vom 25. März 2011 Führungskräfte der Beigeladenen massiv beleidigt und herabgewürdigt. Dies sei nicht aus einer hitzigen Gesprächssituation heraus, sondern bewusst schriftlich und an einen größeren Kreis gerichtet geschehen. Entsprechendes gelte für den Verweis auf das Schreiben von T. Trotz des über Monate hinweg laufenden Kündigungsverfahrens habe der Kläger diese Beleidung aufrechterhalten, was verdeutliche, dass von einer Entgleisung "im Affekt" keine Rede sein könne. Trotz der Abmahnung vom 5. März 2009 habe der Kläger gegen für die Beigeladene essentielle Datenschutzverpflichtungen verstoßen und zwei Aktenordner mit Daten von Versicherten frei zugänglich in einer Werkstatt zurückgelassen. Es bestehe kein Zusammenhang zwischen den vorgeworfenen Pflichtverletzungen und den Erkrankungen des Klägers.

Auf Bitte des Beklagten nahm der Personalrat der Beigeladenen unter dem 19. Oktober 2011 zu der von der Beigeladenen beantragten Zustimmung zu der Kündigung des Klägers Stellung.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14. Dezember 2011 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus:

Im Rahmen der Ermessensentscheidung habe das Integrationsamt die vom Arbeitgeber geltend gemachten Kündigungsgründe mit den Schutzinteressen des behinderten Arbeitnehmers abzuwägen. Es sei dem Fürsorgegedanken des Gesetzgebers Rechnung zu tragen, der die Nachteile schwerbehinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt ausgleichen wolle und dafür Einschränkungen der Gestaltungsrechte des Arbeitgebers in Kauf nehme. Besonders hohe Anforderungen an die Zumutbarkeit für den Arbeitgeber seien im Rahmen der Abwägung dann zu stellen, wenn die Kündigung auf Gründen beruhe, die in der Behinderung ihre Ursache hätten.

Nach der Auffassung des Widerspruchsausschusses könne vorliegend ein Zusammenhang zwischen dem Kündigungsgrund und der anerkannten Behinderung nicht ausgeschlossen werden. Der Widerspruchsführer leide aufgrund seiner urologischen Grunderkrankung, die zur Anerkennung seiner Behinderung geführt habe, an einem Schlaf-Defizit-Syndrom, aufgrund dessen es laut vorgelegter ärztlicher Bescheinigungen zu einem verminderten Konzentrationsvermögen und Verhaltensauffälligkeiten in Belastungssituationen kommen könne. Zudem leide er an Depressionen. Dies könne sich ebenfalls auf seine Verhaltensweise und Aufnahmefähigkeit auswirken.

Hinsichtlich der Äußerungen des Klägers in der E-Mail vom 25. März 2011 sei der Widerspruchsausschuss bei Abwägung der vorstehend genannten Interessen zu der Überzeugung gelangt, dass die angefochtene Entscheidung zu Recht ergangen sei. Bei dem Vergleich mit Stasi-Methoden handele es sich um eine Ehrverletzung, auch wenn der Kläger seine Äußerungen allgemein gehalten habe und nicht eine bestimmte Person ausdrücklich beleidigt habe. Die Beteiligte habe bereits während der Kündigungsschutzverhandlung herausgestellt, dass Beleidigungen in Bezug auf Vergleiche mit Stasi-Methoden für sie zu der schwersten Form der Arbeitgeberbeleidigung zählten. Dennoch habe sich der Kläger erst zwei Monate später für seine Äußerungen entschuldigt. Der Einwand, in Belastungssituationen könne es behinderungsbedingt zu Verhaltensauffälligkeiten kommen, vermöge nicht zu greifen. Es handele sich nicht um eine spontane Äußerung aus einer Gesprächssituation heraus, sondern um eine schriftliche und damit überlegte Stellungnahme. Selbst wenn man zugunsten des Klägers während der Verfassung der E-Mail eine gewisse Belastungssituation unterstelle, so hätte er jedoch im Rahmen des Zustimmungsverfahrens zur Kündigung ausreichend Zeit gehabt, sich mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen und eine substantiierte Stellungnahme abzugeben. Dies sei erst nach Ausspruch der Kündigung geschehen.

Anders als bei dem Vorwurf der "Stasi-Methoden" sei der Kläger am 5. März 2009 wegen Verstoßes gegen die Datenschutzbestimmungen in einem ähnlich gelagerten Fall abgemahnt worden. Mit Ausspruch der Abmahnung sei dem Kläger bereits sein Fehlverhalten vor Augen geführt und ihm Gelegenheit zur Verhaltensänderung gegeben worden. Da es sich nun um einen ähnlich gelagerten Verstoß gegen Datenschutzbestimmungen handele, lasse der Widerspruchsführer erkennen, dass er auch angesichts der drohenden Kündigung nicht bereit gewesen sei, durch ein pflichtgemäßes Verhalten zur Aufrechterhaltung seines Arbeitsverhältnisses beizutragen. Auch wenn die Ordner geschlossen im Kofferraum gelegen hätten, hätte das Werkstattpersonal gleichwohl jederzeit ungehindert Zugang zu den Daten gehabt. Außerdem handele es sich um einen Mitarbeiter im Außendienst. Somit seien der Dienstwagen und die Aktentaschen sein "Mobiles Büro". Unter diesen Umständen seien erhöhte Anforderungen an die Einhaltung der Datenschutzbestimmungen zu stellen, zumal es sich um sensible Daten von Versicherungsnehmern handele.

Der Kläger hat am 21. Dezember 2011 Klage erhoben, mit der er sein Begehren weiter verfolgt.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 16. Juni 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 2011 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie beruft sich im Wesentlichen auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.

Die Beigeladene beantragt ebenfalls,

die Klage abzuweisen.

Sie führt aus, die Entscheidung des Beklagten über die Zustimmung zur Kündigung des Anstellungsverhältnisses mit dem Kläger sei nicht zu beanstanden. Auf die Ausführungen des Beklagten im Widerspruchsbescheid sowie auf die eigenen Ausführungen in dem behördlichen Verfahren werde ergänzend Bezug genommen, außerdem auf näher bezeichnete Ausführungen im arbeitsgerichtlichen Verfahren.

Das Arbeitsgericht X hat mit Urteil vom 22. September 2011 festgestellt, dass das zwischen dem Kläger und der Beigeladenen bestehende Arbeitsverhältnis weder durch die ordentliche Kündigung der Beigeladenen vom 28. Juni 2011 noch durch deren ordentliche Kündigung vom 12. Juli 2011 aufgelöst wird (6 Ca 1102/11). Die dagegen eingelegte Berufung der Beteiligten hat das Landesarbeitsgericht Düsseldorf mit Urteil vom 3. Juli 2012 zurückgewiesen und insoweit die Revision zum Bundesarbeitsgericht zugelassen (8 Sa 1359/11). Über die von der Beteiligten eingelegte Revision ist bislang nicht entschieden worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen.

Rechtsweg:

OVG NRW Urteil vom 22.03.2013 - 12 A 2792/12

Quelle:

Justizportal des Landes NRW

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid des Beklagten vom 16. Juni 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 2011 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO]).

Rechtsgrundlage für eine Zustimmung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers ist § 85 SGB IX. Nach dieser Vorschrift bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Das gilt nach 68 Abs. 3 SGB IX auch für behinderte Menschen, die - wie der Kläger - mit schwerbehinderten Menschen gleichgestellt sind.

Die Entscheidung des Beklagten ist materiell rechtswidrig.

Bei der Ausübung des besonderen Kündigungsschutzes trifft das Integrationsamt, soweit wie hier - nicht die besonderen Voraussetzungen des § 89 SGB IX oder des § 91 Abs. 4 SGB IX vorliegen, seine Entscheidung nach freiem Ermessen.

Dabei ist das Interesse des Arbeitgebers an der Erhaltung seiner Gestaltungsmöglichkeiten gegen das Interesse des schwerbehinderten Arbeitnehmers an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes abzuwägen. Entscheidend für die Berücksichtigung abwägungserheblicher Umstände sind ihr Bezug zur Behinderung und ihre an der Zweckrichtung des behindertenrechtlichen Sonderkündigungsschutzes gemessene Bedeutung.

Sinn und Zweck der Schwerbehindertenschutzvorschriften als Fürsorgevorschriften bestehen vor allem darin, Nachteile eines schwerbehinderten Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszugleichen. Die Vorschriften über den Sonderkündigungsschutz sollen den schwerbehinderten Menschen vor den besonderen Gefahren, denen er wegen seiner Behinderung auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt ist, bewahren und sicherstellen, dass er gegenüber nicht schwerbehinderten Menschen nicht ins Hintertreffen gerät. Dabei gewinnt der Schwerbehindertenschutz an Gewicht, wenn die Kündigung des Arbeitsverhältnisses auf Gründe gestützt wird, die in der Behinderung selbst ihre Ursache haben.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 19. Oktober 1995 - 5 C 24/93 -, BVerwGE 99, 336 (339) m.w.N.; dem folgend etwa Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. April 2009 - 12 A 2431/08 -, juris, Rdn. 21.

Entsprechend ist der Schutz umso geringer, je weniger ein Zusammenhang zwischen Kündigungsgrund und Behinderung feststellbar ist.

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 18. Juni 2008 - 12 BV 05.2467 -, juris, Rdn. 41.

Andererseits ist auch die unternehmerische Gestaltungsfreiheit des Arbeitgebers mit dem ihr zukommenden Gewicht in die Abwägung einzustellen. Sinn und Zweck des Sonderkündigungsschutzes ist es nicht, eine zusätzliche, zweite Kontrolle der arbeitsrechtlichen Zulässigkeit der Kündigung zu schaffen. Die §§ 85 ff. SGB IX sollen nach ihrer Regelungskonzeption erkennbar keinen umfassenden Schutz schwerbehinderter Arbeitnehmer vor einer Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses bieten.

Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 11. Mai 2006 - 5 B 24/06 -, juris, Rdn. 10 f.; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 18. Juni 2008 - 12 BV 05.2467 -, juris, Rdn. 41.

Das Integrationsamt hat im Zustimmungsverfahren nach § 85 ff. SGB IX deshalb grundsätzlich nicht zu prüfen, ob die beabsichtigte Kündigung des Arbeitsverhältnisses arbeitsrechtlich bzw. kündigungsschutzrechtlich zulässig ist.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 19. Oktober 1995 - 5 C 24.93 -, a.a.O., S. 340; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. April 2009 - 12 A 2431/08 -, juris, Rdn. 30.

Nur wenn die beabsichtigte Kündigung arbeitsrechtlich evident unzulässig ist, darf das Integrationsamt dies bei seiner Ermessensentscheidung berücksichtigen, da es an einer offensichtlich rechtswidrigen Kündigung zum Nachteil des Schwerbehinderten nicht mitwirken soll.

Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22. Juni 2011 - 3 L 246/09 -, juris, Rdn. 32; Verwaltungsgericht Ansbach, Urteil vom 6. Oktober 2011 - AN 14 K 11.01275 -, juris, Rdn. 33.

Die dem Integrationsamt hiernach überantwortete Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen überprüft das Gericht gemäß § 114 VwGO allein darauf hin, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise gemacht wurde. Insbesondere ist zu untersuchen, ob die Behörde alle den Streitfall kennzeichnenden widerstreitenden Interessen eingestellt, die in Frage kommenden maßgeblichen Gesichtspunkte angemessen gewichtet und gegeneinander abgewogen und sich dabei ausschließlich an sachlichen Erwägungen orientiert hat.

Verwaltungsgericht Düsseldorf, Urteil vom 13. Juli 2012 - 13 K 3548/12 -, juris, Rdn. 89.

Nach diesen Maßstäben erweist sich die von dem Beklagten getroffene Ermessensentscheidung als rechtsfehlerhaft.

In dem Widerspruchsbescheid vom 14. Dezember 2011 ist zwar ausgeführt, dass bei der zu treffenden Ermessensentscheidung von besonderer Bedeutung sei, ob der verhaltensbedingte Kündigungsgrund im Zusammenhang mit der anerkannten Behinderung stehe, und dass besonders hohe Anforderungen an die Zumutbarkeit für den Arbeitgeber im Rahmen der Abwägung dann zu stellen seien, wenn die Kündigung auf Gründen beruhe, die in der Behinderung ihre Ursache hätten. Auch heißt es dort, dass nach Auffassung des Widerspruchsausschusses im Falle des Klägers ein Zusammenhang zwischen dem Kündigungsgrund und der anerkannten Behinderung nicht ausgeschlossen werden könne. Dementsprechend wird dann im Weiteren - soweit es um die E-Mail vom 25. März 2011 geht - bei der Würdigung des dem Kläger vorgeworfenen Verhaltens berücksichtigt, dass es nach seinem Vorbringen in Belastungssituationen behinderungsbedingt zu Verhaltensauffälligkeiten kommen könne, und unter Darlegung weiterer fallbezogener Umstände zum Ausdruck gebracht, dass der Behinderung des Klägers im Ergebnis kein besonderes Gewicht zugebilligt werden soll. Diese Erwägungen lassen einen Ermessensfehler nicht erkennen, insbesondere auch was die Berücksichtigung der Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Behinderung und der Kündigung angeht.

Das ist jedoch anders, soweit es um den dem Kläger vorgeworfenen Verstoß gegen Datenschutzbestimmungen geht. Hier wird in dem Widerspruchsbescheid die Gewichtung des Fehlverhaltens des Klägers lediglich unter arbeitsrechtlichen Gesichtspunkten erörtert. So wird darauf hingewiesen, dass der Kläger bereits in einem ähnlich gelagerten Fall abgemahnt worden sei, dass das Werkstattpersonal jederzeit ungehindert Zugang zu den in dem Dienstwagen liegenden Ordnern gehabt habe und dass wegen näher dargelegter Umstände erhöhte Anforderungen an die Einhaltung der Datenschutzbestimmungen bestanden hätten. An dieser Stelle wird jedoch nicht - auch nicht ansatzweise - angesprochen, ob ein Zusammenhang mit der Behinderung des Klägers besteht und wie dieser gegebenenfalls im Blick auf den in Rede stehenden Verstoß gegen Datenschutzbestimmungen zu gewichten ist. Dabei handelt es sich jedoch - wie ausgeführt - um einen sich von der Sache her aufdrängenden und daher von Amts wegen in die Ermessenserwägungen einzustellenden maßgeblichen Gesichtspunkt, dessen Nichtberücksichtigung die Rechtswidrigkeit der Entscheidung zur Folge hat. Davon abgesehen hatte der Kläger im Widerspruchsverfahren sogar ausdrücklich geltend gemacht, dass seine Nerven seinerzeit blank gelegen hätten, und so auf einen Zusammenhang zwischen seinem Verhalten und seiner Behinderung hingewiesen. Auch deswegen hätte es nahe gelegen, bei der Entscheidung über den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 16. Juni 2011 der Frage nach einem Zusammenhang mit der Behinderung des Klägers ebenfalls insoweit nachzugehen, als um den dem Kläger vorgeworfenen Verstoß gegen Datenschutzbestimmungen geht.

Auf dieses Defizit bei den Ermessenserwägungen käme es für die Frage nach der Rechtmäßigkeit des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 2011 nicht an, wenn die getroffene Entscheidung alternativ einerseits auf das dem Kläger vorgeworfene Fehlverhalten im Zusammenhang mit der E-Mail vom 25. März 2011 und andererseits auf den ihm vorgehaltenen Verstoß gegen Datenschutzbestimmungen gestützt wäre, also allein schon sein Verhalten im Zusammenhang mit der E-Mail vom 25. März 2011 die Zustimmung zur Kündigung rechtfertigen sollte. Das kann aber den Ausführungen in dem Widerspruchsbescheid vom 14. Dezember 2011 nicht entnommen werden. Etwas anderes haben auch weder der Beklagte noch die Beigeladene substantiiert geltend gemacht.

Auf die in dem Ausgangsbescheid vom 16. Juni 2011 getroffene Ermessensentscheidung kommt es hier nicht an, weil Gegenstand der Klage dieser Ausgangsbescheid in der Gestalt ist, die er durch den Widerspruchsbescheid vom 14. Dezember 2011 gefunden hat. Davon abgesehen fehlt es in dem Bescheid vom 16. Juni 2011 ebenfalls an einer ausreichenden Würdigung der Frage, ob und inwieweit - insbesondere auch angesichts des Vorbringens des Klägers - ein Zusammenhang zwischen den vorgeworfenen Pflichtverletzungen des Klägers und seiner Behinderung bestehen und wie dieser Umstand im Blick auf Sinn und Zweck von § 85 SGB X gewichtet werden soll. Darüber hinaus sind auch bestimmte Umstände, wie etwa das Entschuldigungsschreiben des Klägers vom 3. August 2011, in dem Ausgangsbescheid vom 16. Juni 2011 nicht berücksichtigt worden, weil sie sich erst in der Zeit danach ergeben haben.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 und 3, 159 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 100 Zivilprozessordnung (ZPO). Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 ZPO.

Referenznummer:

R/R5490


Informationsstand: 15.05.2013