Urteil
Klage gegen die Zustimmung des Integrationsamtes zur außerordentlichen fristlosen Kündigung - Zusammenhang des Kündigungsgrundes mit der Behinderung - Ermittlungspflicht des Integrationsamtes

Gericht:

OVG Nordrhein-Westfalen 12. Senat


Aktenzeichen:

12 A 2431/08


Urteil vom:

20.04.2009


Grundlage:

Nicht-amtliche Leitsätze:

1. In einem Fall, in dem die Kündigung des Arbeitsverhältnisses auf Gründe gestützt wird, die in der Behinderung selbst ihre Ursache haben, reicht nicht jedes als Kündigungsgrund geltend gemachte Verhalten eines Schwerbehinderten aus, um die Zumutbarkeitsgrenze für den Arbeitgeber, an die in einem derartigen Fall besonders hohe Anforderungen zu stellen sind, zu überschreiten. Vielmehr bedingen die auf der einen Seite zu Lasten des Arbeitgebers bestehenden besonders hohen Anforderungen an dessen Zumutbarkeitsgrenze, dass auf der anderen Seite der Schwerbehinderte durch sein Verhalten, das den Kündigungsgrund bildet, seine arbeitsvertraglichen Pflichten nach Art und Umfang in besonders schwerem Maße verletzt haben muss.

2. In einem Fall, in dem die Kündigung mit einem konkreten Fehlverhalten begründet wird, das im Rahmen der Ermessensbetätigung zu gewichten ist, sind die Feststellung dieses Fehlverhaltens und die Feststellung der für die Bewertung der Schwere dieses Fehlverhaltens unerlässlichen Begleitumstände einschließlich etwaiger Verantwortungsanteile des Arbeitgebers oder von Kollegen erforderlich.

Quelle: Behindertenrecht 03/2010

Nichtamtliche Leitsätze:

1. Im Rahmen der Ermessensentscheidung hat das Integrationsamt anknüpfend an den Antrag des Arbeitgebers und von ihm ausgehend all das zu ermitteln und zu berücksichtigen, was erforderlich ist, um die gegensätzlichen Interessen des Arbeitgebers und des schwerbehinderten Arbeitnehmers gegeneinander abwägen zu können.

2. In einem Fall, in dem die Kündigung des Arbeitsverhältnisses auf Gründe gestützt wird, die in der Behinderung selbst ihre Ursache haben, reicht nicht jedes als Kündigungsgrund geltend gemachte Verhalten des Schwerbehinderten aus, um die Zumutbarkeitsgrenze für den Arbeitgeber, an die in einem derartigen Fall besonders hohe Anforderungen zu stellen sind, zu überschreiten.

3. Soweit ein behinderungsbedingter Umstand materiellrechtlich für die gebotene Interessenabwägung Bedeutung hat, unterliegt er der Aufklärungspflicht. Das Integrationsamt ist dabei nicht der Pflicht enthoben, sich von der Richtigkeit der für seine Entscheidung wesentlichen Behauptungen eine eigene Überzeugung zu verschaffen; gründet es seine Entscheidung auf unrichtige Behauptungen, dann begeht es einen Ermessensfehler.

Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH)

Rechtsweg:

VG Düsseldorf - 19 K 2232/08

Quelle:

Justizportal des Landes NRW

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird geändert.

Der Bescheid des Integrationsamtes beim Beklagten vom 28. März 2007 über die Erteilung der Zustimmung zur außerordentlichen fristlosen Kündigung in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Widerspruchsausschusses des Integrationsamtes beim Beklagten vom 19. Februar 2008 wird aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens beider Instanzen. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Der Beschluss ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der im Jahre 1957 geborene Kläger ist seit 1987 im öffentlichen Dienst beschäftigt, seit dem Jahr 2000 im Bereich des Polizeipräsidiums E. . Das Versorgungsamt E. stellte mit Bescheid vom 16. Dezember 2005 bei dem Kläger einen Grad der Behinderung von 50 fest, wobei es eine psychische Behinderung, eine Schulterluxation links und ein Wirbelsäulenleiden berücksichtigte.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts, des Verwaltungsverfahrens, des erstinstanzlichen Klageverfahrens und des angefochtenen Urteils wird auf den Inhalt von dessen Tenor, Tatbestand und Entscheidungsgründen Bezug genommen.

Der beschließende Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 2. Februar 2009, auf dessen Begründung Bezug genommen wird, zugelassen.


Der Kläger, der zur Begründung seiner Berufung sein Vorbringen aus dem erstinstanzlichen Verfahren und aus dem Zulassungsverfahren wiederholt und vertieft, beantragt,

das angefochtene Urteil zu ändern und den Bescheid des Integrationsamtes beim Beklagten vom 28. März 2007 über die Erteilung der Zustimmung zur außerordentlichen fristlosen Kündigung in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Widerspruchsausschusses des Integrationsamtes beim Beklagten vom 19. Februar 2008 aufzuheben.


Der Beklagte und der Beigeladene stellen keine Anträge.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Über die Berufung kann gem. § 130a VwGO durch Beschluss entschieden werden, weil der Senat die Berufung einstimmig für begründet und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht für erforderlich hält (§ 130a Satz 1 VwGO). Die Beteiligten sind hierzu nach § 130a Satz 2 VwGO i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO mit gerichtlicher Verfügung vom 12. März 2009 angehört worden.

Die zulässige Berufung ist begründet.

Der Bescheid des Integrationsamtes beim Beklagten vom 28. März 2007 über die Erteilung der Zustimmung zur außerordentlichen fristlosen Kündigung in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Widerspruchsausschusses des Integrationsamtes beim Beklagten vom 19. Februar 2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Das bei der Erteilung der Zustimmung zur Kündigung nach § 85 SGB IX bestehende Ermessen ist fehlerhaft ausgeübt worden.

Das Ermessen des Integrationsamtes und des Widerspruchsausschusses bei der Entscheidung über die Erteilung der Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung ist nicht nach § 91 Abs. 4 SGB IX gebunden gewesen. Gemäß § 91 Abs. 4 SGB IX soll das Integrationsamt die Zustimmung (zur außerordentlichen Kündigung) erteilen, wenn die Kündigung aus einem Grund erfolgt, der nicht im Zusammenhang mit der Behinderung steht; die Entscheidung, ob der Kündigungsgrund im Zusammenhang mit der Behinderung steht, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf der Grundlage des vom Arbeitgeber angegebenen, nur im arbeitsgerichtlichen Verfahren zu überprüfenden Kündigungsgrundes zu treffen.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. September 1996

- 5 B 109/96 -, Buchholz 436.61 § 21 SchwbG Nr. 8; Urteil vom 2. Juli 1992 - 5 C 39.90 -, BVerwGE 90, 275 ff. jeweils zu der wortgleichen Vorgängerregelung des § 21 Abs. 4 SchwbG; OVG NRW, Beschluss vom 23. Mai 2008 - 12 A 3176/07 -.

Besteht danach kein Zusammenhang zwischen dem Kündigungsgrund und der Behinderung, ist das freie Ermessen nach § 85 SGB IX durch § 91 Abs. 4 SGB IX dahingehend eingeschränkt, dass das Integrationsamt im Regelfall die Zustimmung zu erteilen hat. Nur bei Vorliegen von Umständen, die den Fall als atypisch erscheinen lassen, darf das Integrationsamt nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. September 1996

- 5 B 109/96 -, a.a.O.; Urteil vom 2. Juli 1992

- 5 C 39.90 -, a.a.O.; OVG NRW, Beschlüsse vom 22. Januar 2009 - 12 A 2094/08 -, vom 23. Mai 2008 - 12 A 3176/07 - und vom 31. Oktober 2006

- 12 A 3554/06 -; die gegen den letztgenannten Beschluss eingelegte Verfassungsbeschwerde hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluss vom 20. Februar 2007

- 1 BvR 3222/06 - zurückgewiesen.

Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass ein Zusammenhang zwischen dem als Kündigungsgrund geltend gemachten Verhalten des Klägers am 5. März 2007 und seiner Behinderung besteht.

Vgl. die Begründung des Widerspruchsbescheides vom 19. Februar 2008:

"... Hier stehen Kündigungsgrund und anerkannte Schwerbehinderung jedoch in unmittelbarem Zusammenhang, da gerade die manische Depression, die auch die Schwerbehinderteneigenschaft begründet, die Zusammenarbeit mit Kollegen und Vorgesetzten massiv einschränkt bzw. unmöglich macht.

... Der Widerspruchsausschuss schließt sich der Auffassung des Integrationsfachdienstes an, und sieht in dem Verhalten des Widerspruchsführers Auswirkungen einer manischen Phase. Auf allen bisherigen Arbeitsplätzen des Widerspruchsführers ist es nach einiger Zeit zu ähnlichen verhaltensbedingten Schwierigkeiten gekommen. Der Widerspruchsführer fühlt sich nach einer euphorischen Anfangsphase später von den Vorgesetzten böswillig kontrolliert und gemobbt. ... Die Beeinträchtigungen der Beteiligten sind nach Auffassung des Widerspruchsausschusses so erheblich, dass eine Weiterbeschäftigung nicht möglich ist. Alle Wiedereingliederungsversuche in das Arbeitsleben sind letztlich gescheitert. Der Widerspruchsführer konnte trotz verschiedener Hilfestellungen nicht dauerhaft psychisch stabil ins Arbeitsleben integriert werden. ... "

Angesichts des danach anerkannten unmittelbaren Zusammenhangs zwischen den psychisch bedingten Defiziten des Klägers in der Verhaltenssteuerung und dem als Kündigungsgrund angeführten Verhalten des Klägers am 5. März 2007 war die Ermessensbindung nach § 91 Abs. 4 SGB IX entfallen. Da sich insoweit aus § 91 Abs. 4 SGB IX nichts Abweichendes mehr ergab, galten kraft gesetzlicher Anordnung nach § 91 Abs. 1 SGB IX - mit Ausnahme des hier nicht interessierenden § 86 SGB IX - die Vorschriften des vierten Kapitels über den Kündigungsschutz (§§ 85 bis 92 SGB IX) auch bei außerordentlicher Kündigung (ob mit oder ohne sozialer Auslauffrist). Griff die Ermessensbindung nach § 91 Abs. 4 SGB IX nicht, war dementsprechend über die Erteilung der Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist im Rahmen der allgemeinen, nicht gebundenen Ermessensentscheidung nach - § 85 SGB IX zu befinden.

Im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 85 SGB IX hat das Integrationsamt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anknüpfend an den Antrag des Arbeitgebers und von ihm ausgehend all das zu ermitteln und zu berücksichtigen, was erforderlich ist, um die gegensätzlichen Interessen des Arbeitgebers und des schwerbehinderten Arbeitnehmers gegeneinander abwägen zu können.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Oktober 1995 - 5 C 24.93 -, BVerwGE 99, 336 ff.; Beschluss vom 6. Februar 1995 - 5 B 75.94 -, Buchholz 436.61 § 15 SchwbG Nr. 9; Urteil vom 2. Juli 1992 - 5 C 51.90 -, BVerwGE 90, 287 ff.; Beschluss vom 11. Juni 1992

- 5 B 16.92 -, Buchholz 436.61 § 15 SchwbG 1986 Nr. 5; Beschluss vom 18. Mai 1988 - 5 B 135.87 -, Buchholz 436.61 § 15 SchwbG 1986 Nr. 1; Beschluss vom 12. Juni 1978 - V B 97.77 -, Buchholz 436.6 § 14 SchwbG Nr. 9; Urteil vom 26. Oktober 1971 - V C 78.70 -, BVerwGE 39, 36 ff.; Urteil vom 28. Februar 1968 - V C 33.66 -, BVerwGE 29, 140 ff.; Urteil vom 28. November 1958 - V C 32.56 -, BVerwGE 8, 46 ff., jeweils zu den Vorgängerregelungen des § 85 SGB IX; OVG NRW, Beschluss vom 23. Mai 2008 - 12 A 3176/07 -.

Der Schwerbehindertenschutz gewinnt dabei an Gewicht, wenn - wie hier - die Kündigung des Arbeitsverhältnisses auf Gründe gestützt wird, die in der Behinderung selbst ihre Ursache haben, so dass an die im Rahmen der interessenabwägenden Ermessensentscheidung zu berücksichtigende Zumutbarkeitsgrenze für den Arbeitgeber besonders hohe Anforderung zu stellen sind, um auch den im Schwerbehindertenrecht zum Ausdruck gekommenen Schutzgedanken der Rehabilitation verwirklichen zu können.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Oktober 1995

- 5 C 24.93 -, a.a.O. m.w.N.; Beschluss vom 18. September 1989 - 5 B 100.89 -, Buchholz 436.61

§ 15 SchwbG Nr. 2.; OVG NRW, Beschluss vom 23. Mai 2008 - 12 A 3176/07 - .

Die um den vom Gesetz auferlegten Schwerbehindertenschutz gesteigerte Fürsorgepflicht des Arbeitgebers kann dazu führen, dass dessen Interesse an der Vermeidung aller Störungen des betrieblichen Ablaufs in zumutbarer Weise zurücktreten muss.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 1971

- V C 78.70 -, a.a.O.

In einem Fall, in dem - wie hier - die Kündigung des Arbeitsverhältnisses auf Gründe gestützt wird, die in der Behinderung selbst ihre Ursache haben, reicht daher nicht jedes als Kündigungsgrund geltend gemachte Verhalten des Schwerbehinderten aus, um die Zumutbarkeitsgrenze für den Arbeitgeber, an die in einem derartigen Fall besonders hohe Anforderungen zu stellen sind, zu überschreiten. Vielmehr bedingen die auf der einen Seite zu Lasten des Arbeitgebers bestehenden besonders hohen Anforderungen an dessen Zumutbarkeitsgrenze, dass auf der anderen Seite der Schwerbehinderte durch sein Verhalten, das den Kündigungsgrund bildet, seine arbeitsvertraglichen Pflichten nach Art und Umfang in besonders schwerem Maß verletzt haben muss, um im Rahmen der Ermessensabwägung die besonders hohen Anforderungen an die für den Arbeitgeber geltende besonders hohe Zumutbarkeitsgrenze signifikant überschreiten zu können.

Vgl. das auch in diesem Zusammenhang zu beachtende Rangverhältnis zwischen Abmahnung und Kündigung: OVG NRW, Urteil vom 22. November 2006 - 12 A 1474/05 -.

Die danach an die Schwere der Pflichtverletzung zu stellenden besonders hohen Anforderungen sind umso mehr von zentraler Bedeutung, wenn sie nicht nur als Grund für eine - hier aufgrund der Beschäftigungsdauer ausgeschlossene - ordentliche Kündigung, sondern zum Anlass für eine außerordentliche, zudem fristlose Kündigung genommen werden und zugunsten des Schwerbehinderten weitere abwägungsrelevante Umstände streiten, wie sie hier im Rahmen der Ermessensbetätigung bei dem Erlass des Widerspruchsbescheides Berücksichtigung gefunden haben. Zu denken ist hier insoweit an das hohe Alter des Klägers (51 Jahre), zwei Kinder, die schwere Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt und die Nichterfüllung der Pflichtquote der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen von 5 % (§ 71 SGB IX) durch die Besetzung von lediglich 75 der insgesamt 2.948 Arbeitsplätze im Polizeipräsidium E. mit Schwerbehinderten (Quote: 2,5 %).

Soweit danach ein behinderungsbedingter Umstand materiellrechtlich für die gebotene Interessenabwägung Bedeutung hat, unterliegt er der Aufklärungspflicht. Das Integrationsamt ist dabei nicht der Pflicht enthoben, sich von der Richtigkeit der für seine Entscheidung wesentlichen Behauptungen eine eigene Überzeugung zu verschaffen; gründet es seine Entscheidung auf unrichtige Behauptungen, dann begeht es einen Ermessensfehler. Die Aufklärungspflicht wird verletzt, wenn das Integrationsamt (oder der zuständige Widerspruchsausschuss) sich damit begnügt, das Vorbringen des Arbeitgebers, soweit es in der Interessenabwägung zu berücksichtigen ist, nur auf seine Schlüssigkeit zu überprüfen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Oktober 1995

- 5 C 24.93 -, a.a.O.; Beschluss vom 6. Februar 1995 - 5 B 75.94 -, a.a.O., jeweils zu der Vorgängerregelung des § 85 SGB IX; OVG NRW, Beschlüsse vom 12. Februar 2009 - 12 A 3108/ 08 - und vom 23. Mai 2008 - 12 A 3176/07 -.

Hiervon unberührt bleibt die vom Integrationsamt nicht zu prüfende arbeitsrechtliche bzw. kündigungsschutzrechtliche Wirksamkeit der Kündigung.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Oktober 1995

- 5 C 24.93 -, a.a.O.

Hieraus folgt, dass in einem Fall, in dem - wie hier - die Kündigung mit einem konkreten Fehlverhalten begründet wird, das im Rahmen der Ermessensbetätigung zu gewichten ist, die Feststellung dieses Fehlverhaltens und die Feststellung der für die Bewertung der Schwere dieses Fehlverhaltens unerlässlichen Begleitumstände einschließlich etwaiger Verantwortungsanteile des Arbeitgebers oder von Kollegen,

vgl. insoweit etwa BVerwG, Urteil vom 2. Juli 1992

- 5 C 51.90 -, a.a.O., Urteil vom 26. Oktober 1971

- V C 78.70 -, a.a.O.; OVG NRW, Beschluss vom 12. Februar 2009 - 12 A 3108/08 -, Urteil vom 22. November 2006 - 12 A 1474/05 -,

erforderlich ist.

Wird seitens des Schwerbehinderten - wie hier aufgrund des dezidierten Widerspruchsvorbringens des Klägers, das dieser ungeachtet des weitergehenden Vorbringens einer "Herabwürdigung" in der Zulassungsbegründung wiederholt hat - substantiiert geltend gemacht, das Fehlverhalten sei auf eine besondere psychische Belastungssituation zurückzuführen, die (auch) auf dem von ihm auf seinem Arbeitsplatz ohne Rücksicht auf seine Erkrankung geforderten Arbeitseinsatz beruhe, ist auch dieser für die Bewertung der Schwere des Fehlverhaltens maßgebliche Umstand aufzuklären und die nach dem die Ermessensbetätigung steuernden verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebotene Feststellung erforderlich, ob der Arbeitgeber die ihm nach § 84 Abs. 1 SGB IX obliegenden Präventionsmaßnahmen zur Vermeidung einer Kündigung,

vgl. BAG, Urteil vom 23. April 2008

- 2 AZR 1012/06 -, Der Betrieb 2008, 2091,

vollständig ergriffen und dem Schwerbehinderten einen Arbeitsplatz zugewiesen hat, der nach der Arbeitsplatzbeschreibung und der praktischen Ausgestaltung den psychischen und/oder physischen Leiden des Schwerbehinderten (hier nach dem Bescheid des Versorgungsamtes E. vom 16. Dezember 2005: psychische Behinderung, Schulterluxation links, degeneratives Wirbelsäulensyndrom, Bandscheibenvorwölbung, Wirbelsäulenfehlhaltung) angemessen ist.

Gemessen hieran erweist sich der Bescheid des Integrationsamtes beim Beklagten vom 28. März 2007 über die Erteilung der Zustimmung zur außerordentlichen fristlosen Kündigung in der Gestalt des Widerspruchsausschusses des Integrationsamtes beim Beklagten vom 19. Februar 2008 schon deshalb als ermessensfehlerhaft, weil die Ermessensentscheidung, die durch den Widerspruchsbescheid ihre der gerichtlichen Überprüfung unterliegende Gestalt erlangt hat, auf einem unzureichend ermittelten und damit unvollständigen Sachverhalt beruht und dieses Sachverhaltsdefizit gerade das entscheidende Geschehen vom 5. März 2007 sowie die "laut Meldungen vom 08.02.2007 und 06.03.2007" behaupteten weiteren Verstöße des Klägers gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten betrifft.

Denn der Widerspruchsausschuss hat bei seiner Ermessensbetätigung unter Verkennung des zutreffenden rechtlichen Maßstabes von der Feststellung des dem Kläger vorgeworfenen Fehlverhaltens ausdrücklich und vollständig abgesehen.

Vgl. S. 6, 7. Absatz, der Begründung des Widerspruchsbescheides: "Ob das Fehlverhalten tatsächlich stattgefunden hat, ist allein von den Arbeitsgerichten zu klären".

Das Verhalten des Klägers am 5. März 2007 und die unmittelbaren abwägungsrelevanten Begleitumstände, wie etwa das Verhalten der Zeugin C. - T. während der Fahrt nach F. sowie die Tatsache, dass die Zeugin nach der verbalen Aggression des Klägers zu diesem wieder in das Fahrzeug eingestiegen ist, auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat und mit dem Kläger zurückgefahren ist - was die Annahme, diese habe die verbale Aggression gar nicht als reale Bedrohung angesehen, jedenfalls nicht ohne weiteres als fernliegend erscheinen lässt -, sowie der Umstand, dass die Überführung eines Fahrzeuges nach der Arbeitsplatzbeschreibung nicht zum Aufgabenkreis des Klägers gehört hat und ihm möglicherweise mit Blick auf die bestehenden psychischen Belastungen auch gar nicht hätte zugemutet werden dürfen, bleiben danach ebenso unaufgeklärt wie das schon gar nicht hinreichend konkretisierte angebliche weitere Fehlverhalten des Klägers "laut Meldungen vom 08.02.2007 und 06.03.2007".

Der Widerspruchsbescheid und die ihn tragende Ermessensbetätigung sind danach offenkundig nur auf der Grundlage des von dem Beigeladenen als Arbeitgeber vorgetragenen - streitigen - Kündigungsgrundes erfolgt. Eine Heilung dieses Aufklärungsmangels kommt im gerichtlichen Verfahren regelmäßig nicht in Betracht.

Vgl. zum Ausschluss des Nachschiebens von Ermessenserwägungen, wenn der Bescheid von einem Ausschuss erlassen worden ist, der - wie auch hier (vgl. §§ 118 f. SGB IX) - nicht nur aus Bediensteten der betreffenden Behörde besteht, etwa: BVerwG, Beschluss vom 25. Juni 1968 - V B 174.67 -, Buchholz 436.6 § 14 SchwbG Nr. 6; Urteil vom 15. April 1959 - V C 162.56 -, Buchholz 436.6 § 14 SchwBG Nr. 3; OVG NRW, Beschlüsse vom 23. Mai 2008

- 12 A 3176/07 -, vom 25. September 2007 - 12 A 1243/07 - und vom 9. Oktober 2007 - 12 A 2269/07 -, Juris; letzterer zum Nachschieben von Ermessenserwägungen bei der Entscheidung über Leistungen aus Mitteln der Ausgleichsabgabe.

Auf die Ausführungen des Beigeladenen im Berufungsverfahren zur Bewertung des Vorfalls am 5. Juli 2007 kommt es danach nicht an.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, Abs. 3 Halbsatz 1, 162 Abs. 3, 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht gegeben sind.

Referenznummer:

R/R4338


Informationsstand: 06.10.2009