Die Klage ist zulässig.
Insbesondere fehlt es der Klägerin ungeachtet des Umstandes, dass der Widerspruchsausschuss ihrem Antrag auf Zustimmung zur (beabsichtigten) Kündigung des Arbeitsvertrages zwischen ihr und dem Beigeladenen entsprochen hat, nicht an einem rechtlichen schützenswerten Interesse an der begehrten Teilaufhebung des Widerspruchsbescheids. Denn bei dem Bescheid vom 20. September 2004, der durch den Widerspruchsausschuss aufgehoben wurde, handelt es um eine die Klägerin der Sache nach begünstigende Regelung, weil mit klargestellt wurde, dass der Beigeladenen nicht dem Sonderkündigungsschutz der
§§ 85 ff. SGB IX unterliegt. Ein solches "Negativattest" steht nach der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte - von Fällen der Nichtigkeit abgesehen - der Zustimmung zur Kündigung gleich (
BAG AP
KSchG 1969 § 17
Nr. 8; Hesse in: Münchener Kommentar zum
BGB vor §§ 620 bis 630
Rdnr. 251; Düwell, BB 2004, 2811). Die Aufhebung des Bescheides vom 20. September 2004 entzieht demnach der Kündigung, die unmittelbar nach seinem Ergehen ausgesprochen wurde, die Wirksamkeit. Ein Bedürfnis nach einem gerichtlichen Schutz der mit der Kündigung getroffenen Disposition kann der Klägerin nicht abgesprochen werden.
Etwas Anderes gilt auch nicht deshalb, weil der Antrag der Klägerin vom 31. August 2004 nicht auf die Erteilung eines Negativattestes gerichtet war, die Klägerin in der Annahme, der Beigeladene sei einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt, vielmehr allein um eine Zustimmung zur Kündigung nach §§ 85
ff. SGB IX nachgesucht hat. Dieser Umstand wäre allenfalls dann von Bedeutung, wenn er zu einer Nichtigkeit des Bescheides vom 20. September 2004 geführt hätte. Das Fehlen eines erforderlichen Antrags hat indessen nicht die Unwirksamkeit des betreffenden Verwaltungsakts, sondern nur seine Rechtswidrigkeit zur Folge, die zudem heilbar ist (§ 40
Abs. 1 und 2 und § 41
Abs. 1
Nr. 1
SGB X). Eine solche - rückwirkende - Heilung ist jedenfalls mit der Klageerhebung im vorliegenden Verfahren eingetreten (
vgl. Littmann in: Hauck/Noftz,
SGB X, Kommentar, § 41
Rdnr. 6 m. N. aus der Rspr. des
BSG sowie Sachs in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, Kommentar, 6 Aufl., § 45
Rdnr. 18 zur Parallelvorschrift des § 45 VwVfG).
Der Klägerin fehlt es auch nicht deshalb an einem rechtlichen schützenswerten Interesse an der von ihr erhobenen Klage, weil die Erteilung eines Negativattestes nach der Erweiterung von
§ 90 SGB IX um die Regelung des Absatzes 2a nicht mehr zulässig wäre. Nach wie vor kann aus tatsächlichen oder - wie hier - aus rechtlichen Gründen ein Bedarf an einer verbindlichen behördlichen Klärung der Anwendbarkeit von §§ 85
ff. SGB IX im Einzelfall bestehen. Soweit an dieser Auffassung Zweifel angemeldet werden (Grimm/Brock/Windeln, DB. 2005, 282, 285), werden diese allein mit Belangen der Arbeitgeber begründet. Macht - wie im vorliegenden Fall - gerade der Arbeitgeber ein Interesse an der Erteilung oder dem Bestand eines Negativattestes geltend, besteht kein Anlass, die Zulässigkeit einer entsprechenden verwaltungsgerichtlichen Klage in Frage zu stellen.
Die Klage ist begründet.
Die Aufhebung des Bescheides vom 20. September 2004 durch den Widerspruchsbescheid vom 27. Dezember 2004 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113
Abs. 1 Satz 1
VwGO). Das Integrationsamt hat zu Recht festgestellt, dass die Kündigung des mit dem Beigeladenen geschlossenen Arbeitsvertrages durch die Klägerin nicht der Zustimmung nach §§ 85
ff. SGB IX bedarf, weil die Voraussetzungen des mit Wirkung ab dem 1. Mai 2005 in das Neunte Buch des Sozialgesetzbuches eingefügten § 90
Abs. 2a erfüllt sind.
Nach dieser Bestimmung finden die Vorschriften der §§ 85
ff. SGB IX keine Anwendung, wenn im Zeitpunkt der Kündigung (d.h. bei deren Zugang beim Arbeitnehmer) die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen ist oder das Versorgungsamt nach Ablauf der Frist des
§ 69 Abs. 1 Satz 2 SGB IX eine Feststellung wegen fehlender Mitwirkung des Arbeitnehmers nicht treffen konnte. Das erkennende Gericht folgt nicht der - die Grenzen zulässiger Auslegung überschreitenden - Auffassung des Arbeitsgerichts (Urteil vom 29. Oktober 2004, dass dem Gesetzgeber bei der Fassung von § 90
Abs. 2a
SGB IX ein redaktioneller Fehler unterlaufen sei und bei der Anwendung der Vorschrift das Wort "oder" durch das Wort "und" ersetzt werden müsse. Vielmehr ist mit der ganz überwiegenden Meinung im wissenschaftlichen Schrifttum (Düwell, a.a.O., 2812; Grimm/Brock/Windeln, a.a.O., 283; Bauer/Powietzka, NZA-RR 2004, 505, 507; Cramer, NZA 2004, 698, 704; Griebeling, NZA2005, 494, 496 f.) davon auszugehen, dass § 90
Abs. 2a
SGB IX eine Inanspruchnahme des Rechts des Sonderkündigungsschutzes nach §§ 85
ff. SGB IX regelmäßig ausschließt, wenn dem Arbeitnehmer ein Ausweis über einen Grad der Behinderung von 50 v.H. durch das zuständige Amt für soziale Angelegenheiten (Versorgungsamt) nicht ausgestellt worden ist. Etwas Anderes gilt nur dann, wenn im Zeitpunkt der Kündigung die Schwerbehinderung offenkundig ist oder anderweitig nachgewiesen wurde (§ 90
Abs. 2a, 1. Alt.
SGB IX) oder der Arbeitnehmer die Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft beantragt, das zuständige Versorgungsamt aber noch keine Entscheidung getroffen hat, obwohl der Antrag rechtzeitig gestellt wurde und der Arbeitnehmer seiner Mitwirkungslast nachgekommen ist (§ 90
Abs. 2a, 2. Alt.
SGB IX).
Nur dieses Verständnis der Norm wird dem mit ihr verfolgten Zweck gerecht, dem Arbeitgeber - jedenfalls teilweise - die Rechtsunsicherheit zu nehmen, der er nach der früheren Rechtslage während eines vor dem Zugang der Kündigung in Gang gesetzten Verfahren auf Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft ausgesetzt war (Griebeling, a.a.O., 496). Denn nach der ständigen Rechtsprechung der Arbeitsgerichte musste der Arbeitnehmer den Arbeitgeber über eine festgestellte Schwerbehinderung nur innerhalb einer angemessenen (regelmäßig einen Monat betragenden) Frist nach dem Zugang der Kündigung in Kenntnis setzen; zudem war eine erst nach dem Zugang der Kündigung getroffene, aber auf den Tag der AntragsteIlung zurückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft in einem anhängigen arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzverfahren noch zu berücksichtigen (
vgl. z.B. BAGE 30,141;
BAG AP
SchwbG § 12
Nr. 4; Grimm/Brock/Windeln, a.a.O., 282). Das verschaffte dem Arbeitnehmer eine starke Rechtsstellung, die in erhöhten Abfindungen ihren Niederschlag fand und nicht selten dazu führte, dass kurz vor dem Zugang der Kündigung eindeutig aussichtslose Anträge auf Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft gestellt wurden. Mit dem Erlass von § 90
Abs. 2a
SGB IX soll rechtsmissbräuchlichem Verhalten dieser Art entgegengewirkt werden.
Für die hier vertretene Auffassung spricht nicht zuletzt der Bericht des Ausschusses für Gesundheit und soziale Sicherung. des Deutschen Bundestages zu den Entwürfen, die dem Gesetz vom 23. April 2004 (BGBI I 606), mit dem § 90
SGB IX um
Abs. 2a ergänzt wurde, zu Grunde liegen. Dort heißt es, dass außer bei einer offenkundigen oder mit Hilfe eines Bescheides nach § 69.
Abs. 1
SGB IX oder einer Feststellung gemäß § 69
Abs. 2
SGB IX (z. B. in einem Rentenbescheid oder in einer gerichtlichen Entscheidung) nachgewiesenen Schwerbehinderung der Kündigungsschutz der §§ 85
ff. SGB IX "nur in den Fällen gilt, in denen ein Verfahren auf Feststellung der Eigenschaft als schwerbehinderter. Mensch zwar anhängig ist, das Versorgungsamt aber ohne ein Verschulden des Antragstellers noch keine Feststellung treffen konnte" (BT-Drs. 15/2357,
S. 24, Hervorhebung nicht im Original).
Das Gesetz vom 23. April 2004 sieht in zeitlicher Hinsicht auch keine Einschränkungen für eine Anwendung von § 90
Abs. 2a
SGB IX vor. Die Vorschrift ist am 1. Mai 2004 in Kraft getreten (
Art. 7
Abs. 1 des Gesetzes vom 23. April 2004) und danach auch zur Entscheidung in Verfahren heranzuziehen, in denen - wie hier ein Antrag auf Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft (längere Zeit) vor diesem Datum gestellt wurde.
Danach unterlag der Beigeladene beim Zugang der ersten Kündigung, die die Klägerin ausgesprochen hat, nicht dem Schutz der § 85
ff. SGB IX. Denn in diesem Zeitpunkt war ihm weder ein Ausweis nach
§ 69 Abs. 5 SGB IX ausgestellt noch anderweitig
(z. B. durch einen Bescheid des zuständigen Amtes für soziale Angelegenheiten nach § 69
Abs.1
SGB IX oder einen Rentenbescheid oder ein Gerichtsurteil) eine Schwerbehinderung bescheinigt worden; eine solche Bescheinigung liegt bis heute nicht vor. Auch der Umstand, dass in dem von ihm angestrengten, bislang nicht abgeschlossenen sozialgerichtlichen Verfahren noch eine Aussicht bestehen kann, eine Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft zu erreichen und er seinen Mitwirkungslasten von Anfang an in vollem Umfang nach gekommen sein mag, vermittelt ihm nicht den Sonderkündigungsschutz der §§ 85
ff. SGB IX. Insbesondere ist dieser Schutz nicht mit Hilfe der Regelung des § 90
Abs. 2a, 2. Alt.
SGB IX zu erreichen. Denn fände sie auch in einem solchen Fall und nicht nur dann Anwendung, wenn im Zeitpunkt der Kündigung kein Bescheid des zuständigen Versorgungsamts vorliegt, entstünde ein nicht lösbarer Wertungswiderspruch zu § 90
Abs. 2a, 2.
lt. SGB IX, der verlangt, dass eine bestehende Schwerbehinderung im Zeitpunkt der Kündigung in qualifizierter Form nachgewiesen werden kann (Grimm/Brock/Windeln, a.a.O., 284).
Auch aus dem Umstand, dass der Beigeladene beantragt hat, ihn einem Schwerbehinderten gleichzustellen, folgt für ihn kein Anspruch auf eine Anwendung der Regelungen des Sonderkündigungsschutzes nach § 85
ff. SGB IX. Der Gleichstellungsantrag ist durch Bescheid der Arbeitsverwaltung vom 23. März 2004, mithin vor dem Zugang der Kündigung, abgelehnt worden. Selbst wenn davon auszugehen wäre, dass das Gleichstellungsbegehren in einem Rechtsbehelfsverfahren noch zum Erfolg geführt werden kann, würde dies eine Heranziehung der §§ 85
ff. SGB IX nicht rechtfertigen. Nach § 68
Abs. 3
SGB IX sind auf gleichgestellte behinderte Menschen - mit hier nicht interessierenden Ausnahmen - die besonderen Regelungen über schwerbehinderte Menschen anzuwenden. Die Rechte gleichgestellter oder um eine Gleichstellung bemühter Arbeitnehmer reichen daher nicht weiter als diejenigen schwerbehinderter oder um die Zuerkennung einer Schwerbehinderung kämpfenden Arbeitnehmer. Eine Bevorzugung ersterer wäre auch sachlich nicht zu rechtfertigen (Griebeling, a.a.O., 496).
Der Bescheid vom 20. September 2004 ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil § 90
Abs. 2a
SGB IX im vorliegenden Fall eine unzulässige Rückwirkung entfaltete. Zwar hat der Beigeladene bereits längere Zeit vor dem Inkrafttreten der Vorschrift um eine Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft nachgesucht; er mag auch vom Fortbestand der seinerzeitigen - durch die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung geprägten Rechtslage ausgegangen sein. Private Interessen, die von Verfassungs wegen geschützt werden müssten, liegen hierin indessen nicht. Dies gilt schon deshalb, weil auch nach der früheren Rechtslage ein Antrag auf Zuerkennung der Schwerbehinderteigenschaft, der vor einer Kündigung gestellt wurde, bis dahin aber nicht zum Erfolg geführt hatte, dem Arbeitnehmer lediglich die Möglichkeit eröffnete, die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu verhindern, oder die Chance begründete, in Verhandlungen über eine solche Beendigung gegen Abfindung wirtschaftlich ein besseres Ergebnis zu erzielen. Bloße Möglichkeiten und Chancen dieser Art stellen noch keine Rechtspositionen dar, in deren Fortbestand in rechtlich schützenswerter Art und Weise vertraut werden könnte.
Die Klage konnte nach alledem nicht ohne Erfolg bleiben.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 154
Abs. 1 und 3 sowie § 188 Satz 2
VwGO und § 167
VwGO LV.m. §§ 708
Nr. 11,711
ZPO.
Die Berufung war zuzulassen, weil die Frage nach der Auslegung und Anwendbarkeit von § 90
Abs. 2a
SGB IX in der Rechtsprechung bislang ungeklärt und von grundsätzlicher Bedeutung ist (§ 124
Abs. 2
Nr. 3
VwGO).