Urteil
Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen - Sonderkündigungsschutz - Kostenquote bei nur teilweise erfolgreicher Kündigungsschutzklage

Gericht:

LAG Berlin-Brandenburg 6. Kammer


Aktenzeichen:

6 Sa 2062/11


Urteil vom:

27.01.2012


Grundlage:

Leitsatz:

1. Wendet sich der Arbeitnehmer gegen zwei ordentliche Kündigungen, deren Endtermine drei Monate voneinander entfernt liegen, beträgt der Gebührenstreitwert gemäß § 42 Abs. 3 Satz 1 GKG sechs Monatseinkommen, wenn das Arbeitsverhältnis länger als ein Jahr bestanden hat (LAG Berlin, Beschluss vom 10.04.2001 - 17 Ta (Kost) 6052/01).

2. Obsiegt der Arbeitnehmer nur hinsichtlich der ersten Kündigung, so hat er trotz der gebührenrechtlichen Gleichwertigkeit beider Anträge gemäß § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO 2/3 die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, weil die gebührenrechtliche Privilegierung das Ausmaß der Verfehlung des weiterreichenden Prozessziels nicht vollständig widerspiegelt.

Rechtsweg:

ArbG Eberswalde Urteil vom 25.08.2011 - 4 Ca 17/11

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Berlin

Tenor:

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Eberswalde vom 25.08.2011 - 4 Ca 17/11 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz haben die Klägerin zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3 zu tragen.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin stand seit dem 01.01.2008 als Ingenieur für Straßenplanung in einem Arbeitsverhältnis zur Beklagten. Ihr Gehalt belief sich zuletzt auf 2.000 EUR brutto monatlich.

Durch Bescheid des Versorgungsamts vom 01.09.2005 war bei der Klägerin ein Grad der Behinderung von 60 festgestellt worden (Abl. Bl. 14 und 15 GA). Ihr Schwerbehindertenausweis war bis Ende 11/2010 gültig (Abl. Bl. 16 und 17 GA). Mit Schreiben vom 10.11.2010 bestätigte ihr das Versorgungsamt den Eingang eines erneuten Feststellungsantrags am 27.10.2010 (Abl. Bl. 18 GA).

Die Beklagte sprach der Klägerin mit Schreiben vom 27.12.2010 die ordentliche Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses zum 31.01.2011 aus. Nach Zustimmung des Integrationsamts kündigte die Beklagte der Klägerin erneut mit Schreiben vom 14.03. zum 30.04.2011.

Das Arbeitsgericht Senftenberg hat festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin durch die erste Kündigung der Beklagten nicht aufgelöst worden sei, und die weitere Klage abgewiesen. Die Kosten des Rechtsstreits hat es den Parteien bei einem Streitwert von drei Monatseinkommen je zur Hälfte auferlegt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Kündigung vom 27.12.2010 sei unwirksam, weil die Beklagte dazu die Zustimmung des Integrationsamts nicht eingeholt habe. Dies sei jedoch erforderlich gewesen, weil die Klägerin ihren Antrag auf Anerkennung einer Schwerbehinderung mehr als drei Wochen vor Zugang der Kündigung gestellt habe. Für die Kündigung vom 14.03.2011 habe die Beklagte die erforderliche Zustimmung des Integrationsamts eingeholt; andere Unwirksamkeitsgründe lägen nicht vor.

Gegen dieses ihr am 13.09.2011 zugestellte Urteil richtet sich die am 12.10.2011 eingelegte und am 28.11.2011 nach entsprechender Verlängerung der Begründungsfrist begründete Berufung der Beklagten, soweit sie durch dieses Urteil beschwert ist. Sie meint, dass mit dem Bescheid vom 01.09.2005 eine zeitliche Befristung der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft der Klägerin verbunden gewesen sei. Es sei von einer vollständigen Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin auszugehen. Sie wisse nicht, ob die Klägerin beim Versorgungsamt überhaupt einen neuen Antrag gestellt habe. § 85 SGB IX wolle nicht einen Arbeitnehmer schützen, der sich rechtsmissbräuchlich einer Schwerbehinderteneigenschaft berühme.


Die Beklagte beantragt,

die Klage unter Änderung des angefochtenen Urteils vollständig abzuweisen.


Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie tritt den Angriffen der Berufung entgegen und verweist auf einen inzwischen erlassenen Bescheid des Versorgungsamts vom 09.09.2011 mit der Feststellung eines Grads der Behinderung von 30 und Aufhebung früherer Entscheidungen (Abl. Bl. 257 - 259 GA) und auf ein Schreiben des Versorgungsamts vom 08.12.2011, wonach wegen ihres Widerspruchs gegen diesen Bescheid bei ihr weiterhin ein Grad der Behinderung von 60 vorliege (Abl. Bl. 260 GA).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils und die in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die innerhalb der verlängerten Begründungsfrist ordnungsgemäß begründete Berufung der Beklagten war gemäß § 64 Abs. 2 lit. b ArbGG statthaft. Der Wert des Beschwerdegegenstands überstieg 600 EUR, obwohl das Arbeitsgericht den Streitwert gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG ohne Begründung auf insgesamt nur drei Monatseinkommen der Klägerin festgesetzt hat.

2. Die Berufung ist unbegründet.

Das Arbeitsverhältnis ist durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 27.12.2010 nicht aufgelöst worden. Diese Kündigung war unwirksam, weil es an der gemäß § 85 SGB IX für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen erforderlichen Zustimmung des Integrationsamts fehlte.

2.1 Schwerbehindertenkündigungsschutz genoss die Klägerin nicht schon aufgrund ihres erneuten Antrags vom 27.10.2010, dessen Stellung durch die Eingangsbestätigung des Versorgungsamts vom 10.11.2010 allerdings bewiesen war (§ 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Sofern der Arbeitgeber mangels Offensichtlichkeit von einer Schwerbehinderung des Arbeitnehmers nichts wissen konnte, kommt einem solchen Antrag kündigungsschutzrechtlich allein keine Bedeutung zu, sondern muss er im Fall seiner Stattgabe gemäß § 90 Abs. 2a SGB IX mindestens drei Wochen vor Zugang der Kündigung gestellt worden sein (BAG, Urteil vom 01.03.2007 - 2 AZR 217/06 - BAGE 121, 335 = AP SGB IX § 90 Nr. 2 zu III der Gründe).

2.2 Die Klägerin war indessen aufgrund des Anerkennungsbescheids vom 25.04.2005 weiterhin als schwerbehindert anzusehen. Dieser Bescheid enthielt entgegen der Ansicht der Beklagten gerade keine Befristung, sondern sah lediglich vor, dass nach Ablauf der Heilbewährung 05/2010 der Grad der Behinderung entsprechend der dann tatsächlich vorliegenden Funktionsbeeinträchtigung festgesetzt werden kann, was dann durch Bescheid vom 09.09.2011 auch geschehen ist. Dass der Schwerbehindertenausweis der Klägerin nur bis 11/2010 gültig war, änderte daran nichts. Gemäß § 116 Abs. 1 SGB IX werden die besonderen Regelungen für schwerbehinderte Menschen und damit auch ihr Sonderkündigungsschutz nach Wegfall der Voraussetzungen nach § 2 Abs. 2 SGB IX erst ab Ende des dritten Kalendermonats nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des die Verringerung feststellenden Bescheids nicht mehr angewendet, vorliegend mithin weit nach Ausspruch der Kündigung vom 22.12.2010.

2.3 Für einen mit Treu und Glauben gemäß § 242 BGB unvereinbaren Rechtsmissbrauch der Klägerin war nichts ersichtlich. Vielmehr hat sie ihren Verlängerungsantrag noch vor Ablauf der Gültigkeit ihres Schwerbehindertenausweises gestellt.

3. Nebenentscheidungen

3.1 Die Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Berufung zu tragen.

Die erstinstanzliche Kostenentscheidung war gemäß § 308 Abs. 2 ZPO ohne Bindung an den Berufungsantrag der Beklagten nach § 528 Satz 2 ZPO von Amts wegen zu ändern. Zwar sind die beiden Kündigungen mit Rücksicht auf den Bestand des Arbeitsverhältnisses von mehr als einem Jahr mit jeweils drei Monatseinkommen zu bewerten, und findet wegen des Abstands ihrer Endtermine von drei Monaten keine Wertanrechnung statt (dazu LAG Berlin, Beschluss vom 10.04.2001 - 17 Ta 6052/01 (Kost) zu II 2.1.2 der Gründe). Die gebührenrechtliche Privilegierung arbeitsgerichtlicher Kündigungsschutzklagen spiegelt jedoch den für § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO maßgebenden Umfang von Obsiegen und Unterliegen nicht angemessen wider. Mit der Verhinderung einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses bereits durch die erste Kündigung hat die Klägerin lediglich eine Verlängerung ihres Arbeitsverhältnisses um drei Monate erreicht, während ihr prozessuales Begehren auf seinen zeitlich unbegrenzten Fortbestand gerichtet war, indem sie sich auch gegen die zweite Kündigung gewandt hat. Die Verfehlung des weiterreichenden Prozessziels einerseits und dessen gebührenrechtliche Gleichbewertung mit dem zeitlich begrenzten Prozessziel andererseits ließen es angemessen erscheinen, das Unterliegen der Klägerin als doppelt so hoch wie das Unterliegen der Beklagten einzuschätzen.

3.2 Die Voraussetzungen des § 72 Abs. 2 ArbGG für eine Zulassung der Revision waren nicht erfüllt.

Referenznummer:

R/R3957


Informationsstand: 11.07.2012