Urteil
Kündigungszustimmung - Beginn der Fristen des § 91 Abs. 2 SGB IX

Gericht:

VG Göttingen


Aktenzeichen:

2 A 275/06


Urteil vom:

16.01.2007


Grundlage:

Leitsatz:

Hat der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber vor dem Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses nicht von seiner Schwerbehinderteneigenschaft in Kenntnis gesetzt, beginnt die Frist des § 91 Abs. 2 SGB IX regelmäßig erst mit dessen Kenntnis von diesem Umstand.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Justizportal des Landes Niedersachsen

Aus dem Entscheidungstext

Der Kläger wehrt sich gegen die Zustimmung des beklagten Amtes zu der außerordentlichen Kündigung seines Arbeitsverhältnisses durch den Beigeladenen.

Der am xx.xx.xxxx geborene Kläger ist seit 1995 als Heilerziehungspfleger bei dem beigeladenen Landeskrankenhaus beschäftigt. Durch Feststellungsbescheid des Versorgungsamtes J., Außenstelle K. vom 09.07.2003 ist sein Grad der Behinderung wegen Diabetes mellitus, Wirbelsäulenschäden und Gelenkleiden auf 40 festgesetzt worden. Durch Bescheid der Agentur für Arbeit L. vom 30.07.2004 wurde er mit Wirkung vom 29.06.2004 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Vorausgegangen war am 29.06.2004 eine Anhörung des Beigeladenen, in der der Hinweis enthalten war, dass eine Gleichstellung nicht in die eigenen rechtlichen Interessen des Arbeitgebers eingreift und es deshalb ausschließlich dem Arbeitnehmer obliegt, den Arbeitgeber von der Gleichstellung in Kenntnis zu setzen; der Beigeladene hatte der Agentur für Arbeit L. seinerzeit mitgeteilt, für die Gleichstellung des Klägers bestehe kein Anlass.

Am 16.11.2005 wurde der stellvertretende Verwaltungsdirektor des Beigeladenen, Herr M., davon unterrichtet, dass der Kläger einen Patienten geschlagen habe. Nach einer Besprechung mit dem Kläger und der Anhörung des Personalrates erstattete der Beigeladene am 23.11. 2005 Strafanzeige gegen den Kläger und kündigte das Arbeitsverhältnis mit ihm am 29.11.2005 außerordentlich. Dagegen erhob der Kläger Kündigungsschutzklage. In dem Gütetermin vor dem Arbeitsgericht L. am 22.12.2005 legte er den Feststellungsbescheid des Versorgungsamtes J. und den Gleichstellungsbescheid der Agentur für Arbeit L. vor. Daraufhin zog der Beigeladene die Kündigung zurück; das Arbeitsgerichtsverfahren wurde eingestellt.

Unter dem 29.12.2005 beantragte der Beigeladene bei dem beklagten Amt die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger. Das beigeladene Amt hörte den Kläger, den Personalrat und den Vertrauensmann für Schwerbehinderte bei dem Beigeladenen an und erteilte die Zustimmung mit Bescheid vom 10.01.2006. Der Bescheid wird im wesentlichen wie folgt begründet: Der Antrag des Beigeladenen auf Zustimmung der Kündigung sei fristgerecht erfolgt, denn der Beigeladene habe erst am 22.12.2005 erfahren, dass der Kläger einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt sei und deshalb unter den Schutz des SGB IX falle; die von dem beklagten Amt zu treffende Entscheidung habe nach § 91 Abs. 4 SGB IX, einer Sollbestimmung, zu ergehen, da der Kündigungsgrund nicht im Zusammenhang mit der Behinderung des Klägers stehe; ein atypischer Fall sei nicht gegeben; ob tatsächlich ein wichtiger Grund für die Kündigung vorliege, sei nicht zu prüfen gewesen; das offensichtliche Fehlen eines solchen wichtigen Grundes sei jedenfalls nicht festzustellen. Der Beigeladene sprach die Kündigung am 18.01.2006 aus.

Der Kläger legte am 23.01.2006 Widerspruch gegen den Bescheid vom 10.01.2006 ein. Er machte geltend, der Beigeladene habe die gesetzliche Zwei-Wochen-Frist versäumt, weil er bereits im November 2005 alle entscheidungserheblichen Umstände gekannt habe; er könne auch nicht geltend machen, er habe den Gleichstellungsbescheid der Agentur für Arbeit nicht gekannt, denn er sei seinerzeit im Gleichstellungsverfahren angehört worden und hätte sich bei der Agentur für Arbeit danach erkundigen können, ob eine Gleichstellung des Klägers erfolgt sei; jedenfalls hätte der Beigeladene vor dem Ausspruch der Kündigung den Kläger danach befragen müssen, ob er schwerbehindert oder einem Schwerbehinderten gleichgestellt sei.

Der Widerspruchsausschuss bei dem beklagten Amt - 1. Kammer - wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 12.06.2006 ( zugestellt am 15.06.2006) zurück, wobei er sich auf die Begründung des Erstbescheides bezog und diese vertiefte.
Der Kläger hat am (Montag, dem) 17.07.2006 Klage erhoben. Er trägt ergänzend zu seinem Vorbringen im Widerspruchsverfahren vor: Die gesetzliche Zwei-Wochen-Frist sei absolut; ggf. habe der Arbeitgeber die Verpflichtung, Nachforschungen zu treffen, der Kläger sei jedenfalls nicht verpflichtet gewesen, ihn von seiner Gleichstellung zu unterrichten; der Sonderkündigungsschutz bestehe im übrigen unabhängig von der Kenntnis des Arbeitgebers von diesem Umstand; der Kläger habe die Gleichstellung seinerzeit nicht offenbart, weil sie zu seiner Stigmatisierung hätte führen können, er habe sie jedoch ( wie es die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung verlange) binnen eines Monats nach Ausspruch der Kündigung dem Beigeladenen mitgeteilt.


Der Kläger beantragt,

den Bescheid des beklagten Amtes vom 10.01.2006 und den Widerspruchsbescheid des Widerspruchsausschusses beim beklagten Amt vom 12.06.2006 aufzuheben.

Das beklagte Amt beantragt,

die Klage abzuweisen.

Es wiederholt und vertieft die Gründe der angefochtenen Bescheide.

Der Beigeladene stellt keinen Antrag. Er führt ergänzend aus, in Ansehung seiner Stellungnahme gegenüber der Agentur für Arbeit L. im Gleichstellungsverfahren sei er davon ausgegangen, dass dem Antrag des Klägers seinerzeit nicht stattgegeben worden sei; eine Nachforschungsverpflichtung treffe ihn insoweit nicht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze und auf den Verwaltungsvorgang des beklagten Amtes Bezug genommen. Die Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid und der ihn bestätigende Widerspruchsbescheid sind rechtmäßig.

Nach § 85 SGB IX bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes, dessen Aufgaben in Niedersachsen das beklagte Amt wahrnimmt. Nach § 87 Abs. 2 des Gesetzes holt das Integrationsamt eine Stellungnahme des Betriebs- oder Personalrates und der Schwerbehindertenvertretung ein und hört den schwerbehinderten Menschen an. Diese Vorschriften gelten nach § 91 SGB IX auch im Falle der außerordentlichen Kündigung. In diesem Fall kann die Zustimmung zur Kündigung gem. § 91 Abs. 2 des Gesetzes jedoch nur innerhalb von zwei Wochen beantragt werden, nachdem der Arbeitgeber von dem für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt hat. Das Integrationsamt trifft sodann nach § 91 Abs. 3 des Gesetzes die Entscheidung innerhalb von zwei Wochen vom Tag des Eingangs des Antrags an. Nach § 91 Abs. 4 des Gesetzes soll es die Zustimmung erteilen, wenn die Kündigung aus einem Grunde erfolgt, der nicht im Zusammenhang mit der Behinderung steht. Alle diese Bestimmungen gelten auch für schwerbehinderten Menschen Gleichgestellte (§ 2 SGB IX Abs. 3 SGB IX § 68 Abs. 3). Sie finden gem. SGB IX § 90 Abs. 2 a des Gesetzes jedoch keine Anwendung, wenn zum Zeitpunkt der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen ist.
Der Kläger genießt als einem schwerbehinderten Menschen Gleichgestellter seit dem 29.06.2004 den vollen Schutz des SGB IX. Dem steht die in dem vorigen Absatz zuletzt genannte Bestimmung nicht entgegen. Nachgewiesen ist die Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung bereits dann, wenn der entsprechende Bescheid der zuständigen Behörde dem Arbeitnehmer bekannt gegeben worden ist; maßgeblich ist also die objektive Tatsache der Anerkennung und nicht die Kenntnis des Arbeitgebers von ihr (vgl. Griebeling in Hauck/Noftz, SGB IX, § 90 Rn. 22 a unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung).

Das beklagte Amt hat das Verfahren vorliegend ordnungsgemäß durchgeführt. Es ist auch zu Recht davon ausgegangen, dass zwischen dem Kündigungsgrund und der Behinderung des Klägers kein Zusammenhang besteht, und hat ebenfalls zu Recht einen Regelfall des § 91 Abs. 4 SGB IX angenommen. Beides wird vom Kläger nicht in Frage gestellt und muss deshalb nicht vertieft werden.

Problematisch ist lediglich die Einhaltung der Zwei-Wochen-Frist des § 91 Abs. 2 SGB IX, die der ebenso bemessenen Frist des § 626 Abs. 2 BGB entspricht. Unterliegt der Arbeitnehmer nicht dem Schwerbehindertenschutz, muss der Arbeitgeber nach dieser Norm die fristlose Kündigung eines Arbeitsverhältnisses binnen zwei Wochen aussprechen, nachdem er von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt hat. Dabei bestimmt der Arbeitgeber in beiden Fällen, ob er, wenn dem Arbeitnehmer ein strafwürdiges Verhalten vorgeworfen wird, den Ausgang des Strafverfahrens abwartet oder ob er einen bestimmten Kenntnisstand für ausreichend hält, um eine sog. Verdachtskündigung auszusprechen. Im vorliegenden Fall hat der verantwortliche Mitarbeiter des Beklagten, der stellvertretende Verwaltungsdirektor M., frühestens am 16. und spätestens am 23.11.2005 sich die Kenntnisse verschafft, die nach seiner maßgeblichen Auffassung ausreichten, um das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger fristlos zu beenden. Ob tatsächlich ein wichtiger Grund vorliegt, hat weder das Integrationsamt noch das Verwaltungsgericht zu prüfen; das beklagte Amt ging zutreffend davon aus, dass ein derartiger Grund nicht offensichtlich fehlte, denn das dem Kläger vorgeworfene Fehlverhalten war keine Bagatelle. Herr M. hat dann - da ihm die Gleichstellung des Klägers mit einem schwerbehinderten Menschen nicht bekannt war - binnen zwei Wochen die fristlose Kündigung ausgesprochen und nicht - was objektiv jedoch erforderlich gewesen wäre - die Zustimmung des beklagten Amtes zur Kündigung beantragt. Letzteres ist jedoch binnen zwei Wochen geschehen, nachdem dem Beigeladenen die Gleichstellung des Klägers ( nämlich in dem Gütetermin vor dem Arbeitsgericht L. am 22.12.2005) bekannt gegeben worden ist. Es ergibt sich, dass die zuletzt genannte Frist im vorliegenden Fall im Sinne von § 91 Abs. 2 SGB IX maßgebend ist.

Es trifft zwar zu, dass nach der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. aus jüngerer Zeit etwa BAG, Urteil vom 20.01. 2005 - 2 AZR 675/03 - NJW 2005, S. 2796) der Arbeitnehmer nicht von vornherein verpflichtet ist, seine Schwerbehinderteneigenschaft bzw. die Gleichstellung dem Arbeitgeber mitzuteilen, sondern dass er dies noch ohne Rechtsnachteil binnen eines Monats nach Zugang der Kündigung tun kann (vgl. dazu auch Griebeling in Hauck/Noftz, a.a.O., § 85 Rn. 12 ff.). Würde man diese Auffassung auch in der vorliegenden Fallgestaltung ohne Abstriche für maßgeblich halten, hätte das zur Folge, dass ein Arbeitgeber einem schwerbehinderten Arbeitnehmer, der ihm die Tatsache der Schwerbehinderung nicht mitgeteilt hat, praktisch aus wichtigem Grunde nicht kündigen könnte, weil die Frist des § 91 Abs. 2 SGB IX einen Monat nach Ausspruch der fristlosen Kündigung allemal abgelaufen ist. Eine derartige Bevorzugung Schwerbehinderter ist jedoch keinesfalls gerechtfertigt; das SGB IX bezweckt nämlich lediglich die Gleichstellung des Schwerbehinderten mit anderen Arbeitnehmern, nicht aber ihre deutliche Besserstellung. Deswegen ist in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung seit langem geklärt, dass zu den in § 91 Abs. 2 S. 2 SGB IX genannten maßgebenden Tatsachen auch die Kenntnis des Arbeitgebers von der Schwerbehinderteneigenschaft bzw. der Gleichstellung des Arbeitnehmers gehört (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 13.04. 1994 - 4 L 6200/93 - Veröffentlichung nicht bekannt, bestätigt durch Urteil des BVerwG vom 05. 10. 1995 - 5 B 73/94 - Buchholz 436.61, § 21 Nr. 6). Das erkennende Gericht folgt allerdings der relativierenden Ansicht von Griebeling (in Hauck/Noftz, a.a.O., § 91, Rn. 7), wonach ergänzend verlangt werden muss, dass der Arbeitgeber, der zunächst keine Kenntnis von der Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers hatte, innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 BGB gekündigt haben muss, weil sonst er über Gebühr bevorzugt wäre. Das ist vorliegend jedoch geschehen.

Es mag erwägenswert sein, Arbeitgeber nicht in den Genuss der vorgenannten Rechtsansicht kommen zu lassen, der es schuldhaft versäumt hat, sich über die Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers bzw. seine Gleichstellung zu informieren. Dieser Überlegung muss das Gericht im vorliegenden Fall jedoch nicht näher treten. Nachdem sich der Beigeladene in dem Gleichstellungsverfahren gegenüber der Agentur für Arbeit L. dahingehend geäußert hatte, eine Gleichstellung des Klägers mit einem schwerbehinderten Menschen sei nicht erforderlich, weil nicht zu befürchten sei, dass er infolge seiner Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz erlangen oder nicht behalten könnte (§ 2 Abs. 3 SGB IX), hatte er keinen Anlass anzunehmen, dass der Kläger unter den Schutz des Schwerbehindertenrechts fällt. Mithin musste er vor dem Ausspruch der fristlosen Kündigung weder die Agentur für Arbeit - die bereits mitgeteilt hatte, dass sie keine Auskunft geben würde - noch den Kläger entsprechend befragen. Es wäre vielmehr Sache des Klägers gewesen, sein Wissen preis zu geben. Das hätte vertraulich geschehen können; die von ihm - wie er vortragen lässt - befürchtete Stigmatisierung kann das Gericht nicht nachvollziehen. Es fragt sich hingegen, warum der Kläger sich einerseits den Schwerbehindertenschutz verschafft hat, ihn andererseits aber vor seinem Arbeitgeber, der doch in erster Linie Adressat dieses Schutzes ist (vgl. SGB IX § 81), verheimlicht hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3, 188 S. 2 VwGO. Da der Beigeladene keinen Antrag gestellt hat, entspricht es nicht der Billigkeit, ihm außergerichtliche Kosten zu erstatten. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Referenznummer:

R/R2723


Informationsstand: 06.08.2007