Urteil
Sonderkündigungsschutz bei fehlender Kenntnis des Arbeitgebers von der Schwerbehinderteneigenschaft - Zugang eines Einwurf-Einschreibens - Beweis des ersten Anscheins

Gericht:

ArbG Düsseldorf


Aktenzeichen:

10 Ca 7262/16


Urteil vom:

18.04.2017


Grundlage:

Leitsätze:

1. Hat der Arbeitgeber keine Kenntnis von der Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers, greift der Sonderkündigungsschutz des § 85 SGB IX ein, wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber seine Schwerbehinderteneigenschaft innerhalb einer angemessenen Frist von idR drei Wochen mitteilt. Die Mitteilung kann formfrei erfolgen. Der Arbeitnehmer muss seine Schwerbehinderteneigenschaft nicht gerichtlich geltend machen.

2. Der Auslieferungsbeleg bzw. die Statusabfrage der Deutschen Post AG eines Einwurf-Einschreibens begründet weder einen Beweis der Zustellung noch einen Beweis des ersten Anscheins.

Rechtsweg:

LAG Düsseldorf, Urteil vom 16.06.2017 - 4 Ta 211/17

Quelle:

Justizportal des Landes NRW

Tenor:

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 16. Dezember 2016 weder fristlos noch fristgerecht aufgelöst worden ist.

2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien über den 31. März 2017 hinaus fortbesteht.

3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 11.076,90 Euro brutto nebst Zinsen i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen
Basiszinssatz aus einem Betrag von je 3.692,30 Euro brutto seit dem 2. Februar, 2. März und 4. April 2017 zu zahlen.

4. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens entsprechend § 1 des zwischen den Parteien unter dem 24. September 2015 geschlossenen Arbeitsvertrages als Vault Operations Coordinator tatsächlich zu beschäftigen.

5. Im Übrigen wird die Klage (hinsichtlich des Zinsanspruchs) abgewiesen.

6. Die Berufung wird - soweit sie nicht kraft Gesetzes zulässig ist - nicht gesondert zugelassen.

7. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

8. Streitwert: 18.461,50 Euro

Tatbestand:

Die Parteien streiten im Wesentlichen über die Wirksamkeit zweier fristloser, hilfsweise fristgerechter Kündigungen.

Der Kläger ist seit dem 1. Januar 2016 bei der Beklagten als Vault Operations Coordinator zu einem monatlichen Bruttoverdienst von 3.692,30 Euro beschäftigt. Er ist seit langen Jahren schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 100.

Mit Schreiben vom 16. Dezember 2016 - dem Kläger zugegangen am 19. Dezember 2016 - kündigte die Beklagte ohne vorherige Zustimmung des Integrationsamtes das Arbeitsverhältnis fristlos, hilfsweise fristgerecht zum 31. März 2017. Die Kündigung wurde dem Kläger unter einer Postfachadresse in Krefeld zugestellt. Mit anwaltlichem Schreiben vom 2. Januar 2017 teilte der Kläger der Beklagten mit, dass er mit einem Grad der Behinderung von 100 schwerbehindert sei.

Mit Schreiben vom 21. Dezember 2016 - dessen Erhalt der Kläger bestreitet - kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers erneut fristlos, hilfsweise fristgerecht zum 31. März 2017. Auch der Ausspruch dieser Kündigung erfolgte ohne vorherige Zustimmung des Integrationsamtes.


Der Kläger beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 16. Dezember 2016 weder fristlos noch fristgerecht aufgelöst ist;

2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis ungekündigt über den 31. März 2017 hinaus fortbesteht;

3. hilfsweise für den Fall des Unterliegens mit dem Antrag zu 2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung vom 21. Dezember 2016 weder fristlos noch fristgerecht aufgelöst worden ist;

4. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 11.076,90 Euro brutto nebst Zinsen i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus einem Betrag von jeweils 3.692,30 Euro brutto seit dem 1. Februar, 1. März und 1. April 2017 zu zahlen;

5. hilfsweise für den Fall des Obsiegens mit den Anträgen zu 1. bis 3. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens entsprechend § 1 des zwischen den Parteien unter dem 24. September 2015 geschlossenen Arbeitsvertrages als Vault Operations Coordinator tatsächlich zu beschäftigen.


Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass die fehlende Zustimmung des Integrationsamtes der Wirksamkeit der Kündigungen nicht entgegenstehe, da der Kläger seine Schwerbehinderteneigenschaft der Beklagten innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 4 KSchG lediglich außergerichtlich mitgeteilt habe und sie nicht gerichtlich geltend gemacht habe.

Die zweite Kündigung vom 21. Dezember 2016 habe die Beklagte zunächst unter der Wohnadresse des Klägers in Krefeld zustellen wollen. Allerdings habe sich dort weder ein Klingelschild noch ein Briefkasten befunden. Daraufhin sei das Kündigungsschreiben per Einwurf-Einschreiben an die Postfachadresse des Klägers aufgegeben worden. Ausweislich der Statusabfrage der Deutschen Post AG sei das Einschreiben am 22. Dezember 2016 ausgeliefert worden. Selbst wenn das Kündigungsschreiben dem Kläger nicht in seinem Postfach zugegangen sei, habe sich der Kläger so behandeln zu lassen, als sei ihm die Erklärung bereits zum Zeitpunkt des ersten Übermittlungsversuchs zugegangen. Insoweit sei von einer arglistigen Zugangsvereitelung auszugehen, da der Kläger keine ausreichend gekennzeichnete Postempfangseinrichtung (Hausbriefkasten) vorhalte.

Der Kläger bestreitet das Kündigungsschreiben vom 21. Dezember 2016 erhalten zu haben. Selbst wenn das Kündigungsschreiben zugegangen sein sollte, habe die Kündigungsschutzklage die Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG auch für diese Kündigung gewahrt, da sie vor bzw. zeitgleich mit dem Auflösungstermin der ersten Kündigung wirksam werden sollte.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die wechselseitigen Schriftsätze sowie auf den sonstigen Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist - mit Ausnahme eines geringfügigen Teils des Zinsanspruchs - begründet.

I.

Die Kündigung vom 16. Dezember 2016 ist mangels Zustimmung des Integrationsamtes gemäß §§ 85,90 Abs. 1 SGB IX unwirksam. Hat der Arbeitgeber keine Kenntnis von der Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers, greift der Sonderkündigungsschutz ein, wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber seine Schwerbehinderteneigenschaft innerhalb einer angemessenen Frist (in Anlehnung an die Frist des § 4 KSchG idR innerhalb von drei Wochen) mitteilt. Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten kann die Mitteilung formfrei erfolgen (ErfK/Rolfs 17. Aufl. § 85 SGB IX Rn. 7). Der Arbeitnehmer muss seine Schwerbehinderteneigenschaft nicht gerichtlich geltend machen (vgl. BAG 22. September 2016 - 2 AZR 700/15 - Rn. 20 ff.). Dies ergibt sich bereits aus der Aussage des Bundesarbeitsgerichts, dass sich ein Arbeitnehmer, der seine Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch allein in der bei Gericht eingereichten Klageschrift mitteilt, nicht auf den Rechtsgedanken des § 167 ZPO berufen kann, wenn die Zustellung außerhalb der für eine unmittelbare Übermittlung an den Arbeitgeber zuzugestehenden Zeitspanne erfolgt (BAG 22. September 2016 - 2 AZR 700/15 - Rn. 22).

II.

Der allgemeine Feststellungsantrag, dass das Arbeitsverhältnis ungekündigt über den 31. März 2017 hinaus fortbesteht ist zulässig und begründet.

1. Der Klageantrag ist zulässig und weist insbesondere das nach § 256 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse auf. Die Beklagte berühmt sich des Zugangs einer Kündigung, dessen Erhalt der Kläger bestreitet. Ist eine Kündigung tatsächlich niemals im Original zugegangen, kann der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses nicht nach § 4 KSchG sondern lediglich mit einem allgemeinen Feststellungsantrag geltend gemacht werden.

2. Der Feststellungsantrag ist auch begründet, da die darlegungs- und beweisbelastete Beklagte den Zugang der Kündigung vom 21. Dezember 2016 nicht nachzuweisen vermochte. Der Auslieferungsbeleg (bzw. die Statusabfrage der Deutschen Post AG) eines Einwurf-Einschreibens begründet weder einen Beweis der Zustellung noch einen Beweis des ersten Anscheins. Der Kläger hat den Zugang der Kündigung auch nicht arglistig vereitelt.

a) Der Auslieferungsbeleg ist keine öffentliche Urkunde im Sinne der §§ 415 Abs. 1, 418 Abs. 1 ZPO, die den vollen Beweis der in ihr bezeugten Tatsachen erbringt und nur den Beweis der Unrichtigkeit ermöglicht. Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob es sich bei dem Auslieferungsbeleg überhaupt um eine Urkunde im Sinne der §§ 415 ff. ZPO handelt; jedenfalls handelt es sich nicht um eine öffentliche Urkunde, auch wenn es sich bei der Deutschen Post AG um ein Nachfolgeunternehmen der Deutschen Bundespost handelt. Gemäß § 33 Abs. 1 Satz 2 des Dritten Postgesetzes vom 22. Dezember 1997 ist ein Lizenznehmer, der Briefzustelldienstleistungen erbringt, nur mit Hoheitsbefugnissen ausgestattet und damit beliehener Unternehmer, soweit er Schriftstücke nach den Vorschriften der Prozessordnungen und der Gesetze, die die Verwaltungszustellung regeln, förmlich zustellt. Im Bereich der einfachen Briefzustellung ist damit die Deutsche Post AG nicht beliehener Unternehmer und kann nicht mehr als öffentliche Behörde im Sinne des § 415 Abs. 1 ZPO angesehen werden (vgl. LAG Hamm 22. Mai 2002 - 3 Sa 847/01 mwN).

b) Der Beweiswert des Einwurf-Einschreibens wird unterschiedlich beurteilt. Während z. T. davon ausgegangen wird, dass der Einlieferungsbeleg zusammen mit der Reproduktion des Auslieferungsbelegs den Beweis des ersten Anscheins dafür begründet, dass die Sendung durch Einwurf in den Briefkasten oder durch Einlegen in das Postfach zugegangen ist (OLG Saarbrücken 20. März 2007 - 4 U 83/06; OLG Koblenz 31. Januar 2005 - 11 WF 1013/04; AG Erfurt 20. Juni 2007 - 5 C 435/07; AG Paderborn 27. Juli 2000 - 51 C 76/00), sehen andere keinen verbesserten Nachweis des Zugangs einer Kündigungserklärung durch das Einwurf-Einschreiben (LAG Rheinland-Pfalz 23. September 2013 - 5 Sa 18/13 - Rn. 49; LAG Hamm 5. August 2009 - 3 Sa 1677/08; LG Potsdam 27. Juli 2000 - 11 S 233/99; ArbG Ulm 7. Oktober 2014 - 5 Ca 129/14; AG Kempten 22. August 2006 - 11 C 432/05; AG Köln 16. Juli 2008 - 435/07;). Nach Auffassung der Kammer streiten für die letztere Auffassung die besseren Argumente. Eine Fehlleitung der Postsendung auch noch beim Vorgang des Einsortierens in die Zustellfächer oder bei der Entnahme bzw. beim Zutrag selbst kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Insoweit fehlen bereits gesicherte Erkenntnisse darüber, wie häufig es noch beim Vorgang des Einsortierens in die Postfächer zu Fehlern kommt. Zum anderen ist auch ein Verlust von Postsendungen noch während des Zustellvorganges selbst nach der Lebenserfahrung nicht ausgeschlossen (vgl. LG Potsdam 27. Juli 2000 - 11 S 233/99). Anders als bei der Zustellung an einem Einfamilienhaus ist es gerade bei der Zustellung an ein Postfach oder bei großen Mehrfamilienhäusern nicht ausgeschlossen, dass der Auslieferungsbeleg ordnungsgemäß reproduziert wird und die Sendung sodann doch in das falsche Postfach bzw. den falschen Briefkasten eingeworfen wird. Soweit zum Teil vertreten wird, dass ein einfaches Bestreiten des Zugangs durch den Arbeitnehmer unzulässig sei (vgl. LG Berlin 19. April 2001 - 61 T 117/00) stellt sich der Kammer die Frage, was der Arbeitnehmer denn vortragen soll, außer die Sendung nicht erhalten zu haben.

c) Der Kläger hat den Zugang der Kündigung auch nicht arglistig vereitelt. Eine Zugangsvereitelung scheitert bereits daran, dass der Beklagten eine zustellungsfähige Anschrift des Klägers bekannt war. So hat die Beklagte auch die erste Kündigung unter der Postfach-Adresse des Klägers erfolgreich zugestellt. Es besteht keine Pflicht des Arbeitnehmers, neben der zustellungsfähigen Postfach-Anschrift dem Arbeitgeber eine weitere Hausanschrift mitzuteilen.

d) Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass selbst für den Fall, dass die Kündigung dem Kläger zugegangen sein sollte, diese das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst hätte. Die Kündigung wurde durch den Kläger rechtzeitig angegriffen. Denn eine Kündigungsschutzklage wahrt die Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG auch für eine Folgekündigung, die vor dem oder zeitgleich mit dem Auflösungstermin der ersten Kündigung wirksam werden soll, jedenfalls dann, wenn der Kläger ihre Unwirksamkeit noch vor Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz explizit geltend macht und mit einem Antrag nach § 4 S. 1 KSchG erfasst (vgl. BAG 18. Dezember 2014 - 2 AZR 163/14). Der der Entscheidung zu Grunde liegende Sachverhalt ist mit dem Streitfall vollständig identisch. Da auch die zweite Kündigung ohne Zustimmung des Integrationsamtes erfolgte, wäre auch diese Kündigung gemäß §§ 85, 90 Abs. 1 SGB IX unwirksam.

III.

Der Zahlungsanspruch ist unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs gemäß § 615 Satz 1 BGB begründet. Ausweislich des Arbeitsvertrages erhält der Kläger ein Jahreseinkommen von 48.000,00 Euro brutto, welches in 13 Monatsgehältern ausgezahlt wird, so dass sich ein Bruttomonatsgehalt von 3.692,30 Euro brutto ergibt. Der Zinsanspruch folgt im ausgeurteilten Umfange aus §§ 286, 288 BGB. Allerdings bestand der Zinsanspruch nicht bereits ab dem "Ersten" des Folgemonats. Da der Arbeitsvertrag keine Regelungen zur Fälligkeit enthält wird die Vergütung des Klägers gemäß § 614 BGB "nach" Ablauf des Monats und somit am "Ersten" des Folgemonats fällig. Verzug tritt somit grundsätzlich ab dem "Zweiten" des Folgemonats ein. Für den Monat März trat die Fälligkeit erst am 3. April 2017 ein, da es sich beim 1. April 2017 um einen Samstag und beim 2. April 2017 um einen Sonntag handelte (§ 193 BGB). Verzugszinsen kann der Kläger somit erst ab dem 4. April 2017 beanspruchen.

IV.

Nach den Grundsätzen der Rechtsprechung des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts (BAG 27. Februar 1985 GS 1/84 - BAGE 48, 122) hat der Kläger im Falle des Obsiegens mit dem Kündigungsschutzantrag einen Anspruch bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits zu den bisherigen Bedingungen weiter beschäftigt zu werden.

V.

Gründe für die gesonderte Zulassung der Berufung war nicht ersichtlich. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 91 Abs. 1 ZPO. Den Streitwert hat das Gericht gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festgesetzt. Er gilt zugleich als Wertfestsetzung für die Gerichtsgebühren im Sinne des § 63 Abs. 2 GKG.

Referenznummer:

R/R7671


Informationsstand: 13.09.2018