Urteil
Auflösende Bedingung - Verfassungswidrigkeit - chronische Erkrankung - Erwerbsminderungsrente - Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 33 Abs. 2 und 4 TVöD

Gericht:

LAG Berlin-Brandenburg 10. Kammer


Aktenzeichen:

10 Sa 633/19


Urteil vom:

24.10.2019


Grundlage:

  • TVöD § 33 Abs. 2 |
  • TVöD § 33 Abs. 4 |
  • GG Art. 12 Abs. 1 |
  • GG Art. 9 Abs. 3 |
  • SGB VI § 43 Abs. 2

Leitsatz:

Die auflösende Bedingung eines Arbeitsverhältnisses infolge eines amtsärztlichen Gutachtens (§ 33 Abs. 4 TVöD in Verbindung mit § 33 Abs. 2 TVöD) ist verfassungswidrig.

Rechtsweg:

ArbG Cottbus, Urteil vom 14.02.2019 - 11 Ca 10352/18

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Berlin

Tenor:

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Cottbus vom 14. Februar 2019 - 11 Ca 10352/18 - abgeändert und festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch den Eintritt einer auflösenden Bedingung zum 31. Juli 2018 beendet worden ist.

II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

III. Der Gebührenwert für das Berufungsverfahren wird auf 8.134,80 EUR festgesetzt.

IV. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über den Eintritt einer auflösenden Bedingung bezüglich des Arbeitsverhältnisses der Parteien im Zusammenhang mit § 33 Abs. 4 des Tarifvertrages für den Öffentlichen Dienst (Bund) (im Folgenden: TVöD).

Der Kläger ist 63 Jahre alt (geb. .... 1956) und mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 60 schwerbehindert. Er besitzt einen Abschluss als Baufacharbeiter Stahlbeton-Schalungsbau seit dem 15. Juli 1974 und verfügt über eine Ausbildung zum staatlich geprüften Kesselwärter seit dem 7. Dezember 1979. Der Kläger steht seit 1979 bei der Beklagten bzw. vor dem 3. Oktober 1990 bei der N. V. der DDR in einem Arbeitsverhältnis. Auf das Arbeitsverhältnis findet der TVöD kraft arbeitsvertraglicher Vereinbarung Anwendung. Er ist eingruppiert in die Entgeltgruppe 3 Stufe 6 des TVöD entsprechend 2.711,60 EUR brutto monatlich.

Unter Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten wird er tatsächlich seit dem 1. August 2005 bei der HIL H. GmbH (im Folgenden: HIL GmbH) als Lagerarbeiter eingesetzt. Die HIL GmbH ist eine im Bereich der Wartung und Instandhaltung von militärischem Großgerät der Bundeswehr tätige Gesellschaft, die im Eigentum der Bundesrepublik Deutschland steht. Zu den eigentlichen Aufgaben des Dienstpostens des Klägers gehört das Ein- und Auslagern von Versorgungsgütern anhand der Begleitpapiere, das Umlagern in den Lagern des Versorgungsbereichs sowie Transportarbeiten innerhalb der Lagerbereiche. Der Kläger nahm aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen den Dienstposten nur in eingeschränktem Umfang wahr.

Der Kläger hat nur noch eine Niere. Er leidet an mehreren chronischen Erkrankungen unterschiedlicher Organsysteme, unter anderem an einer chronischen Erkrankung des Bewegungssystems. Der Arbeitsplatz des Klägers wurde bei hinzukommenden weiteren körperlichen Einschränkungen stetig leidensgerecht angepasst. Der Kläger wurde in einer Lagerhalle eingesetzt. Er war überwiegend damit beschäftigt, die zur Einlagerung und zum Transport installierten Lifte mittels Bildschirm und Tastatur zu bedienen. Diese Lifte wurden eigens für Beschäftigte mit gesundheitlichen Einschränkungen installiert. Der Kläger war insbesondere von Arbeiten mit Wirbelsäulen-Zwangshaltungen (z.B. längere/häufigere gebückte Körperhaltungen), von Arbeiten über Kopf oder mit besonderer Belastung der linken Hand, vom Heben und Tragen von Lasten über 8 kg, vom häufigen Knien sowie häufigem Ersteigen von Treppen (Leitern/Gerüsten) befreit.

Nachdem der Kläger seit dem 19. März 2017 arbeitsunfähig krank war, wies er im Rahmen eines Verfahrens zum betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM-Verfahren) am 3. November 2017 auf die belastende Zugluft an seinem Arbeitsplatz bei geöffneten Toren und durch den Lift an dem er arbeite auch bezüglich seiner Atmung hin. Tastatur und Monitor des Geräts an dem er arbeite, seien zu hoch angebracht und die Diagonale des Monitors sei zu klein.

Im Rahmen einer Vertrauensärztlichen Stellungnahme vom 21. November 2017 ist unter anderem ausgeführt:
Seine bekannte chronische Erkrankung des Bewegungssystems hat sich verschlimmert, so dass er in diesem Jahr wieder operiert werden musste, wodurch weitere Einschränkungen in der körperlichen Beweglichkeit und Belastbarkeit bei ihm hinzukamen. Herr K. befindet sich in regelmäßigen fachärztlichen Behandlungen, eine wesentliche Verbesserung seines Gesundheitszustandes ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.

Herr K. ist für seine Tätigkeit als Lagerarbeiter lt. Vorliegender Tätigkeitsdarstellung nicht mehr geeignet, da auch die leidensgerechte Ausstattung des Arbeitsplatzes "ausgereizt ist" und er damit aufgrund der Vielzahl der körperlichen Einschränkungen nun auch auf seinem behindertengerecht ausgestattetem Arbeitsplatz nicht mehr sinnvoll eingesetzt werden kann. Auch den Einsatz an einem anderen Arbeitsplatz wohnortnah sehe ich nicht als realisierbar an, da er in seiner Wegefähigkeit ebenfalls eingeschränkt ist.

Weiter heißt es in dem Gutachten:

Insofern kann ich nur eine gutachterliche Stellungnahme abgeben. Ich halte den Beschäftigten Rolf K. für voll gemindert erwerbsfähig und nach geltender Rechtsprechung kann dem Versicherten meines Erachtens nach eine volle Erwerbsminderungsrente zugebilligt werden.

Dies begründe ich nach der Zusammenschau aller relevanten Befunde mit dem Vorliegen gravierender qualitativer Leistungseinschränkungen bei Herrn K., wie Einschränkungen der Wegefähigkeit, der Notwendigkeit zusätzlicher betriebsunüblicher Pausen und einer Summierung von Leistungseinschränkungen.

Zu den quantitativen Leistungseinschränkungen bei Herrn K. ist anzumerken, dass er aufgrund seiner Schwerbehinderung einen leidensgerechten "Schonarbeitsplatz" hat, der nicht dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzuordnen ist. Der Beschäftigte wäre auch nur wieder auf einen derartigen "Schonarbeitsplatz" verweisbar und damit eben nicht auf den allgemeinen Arbeitsmarkt und damit kann beim Beschäftigten von einem "verschlossenen" Arbeitsmarkt ausgegangen werden.

Ich habe Herrn K. aus personalärztlicher Sicht beraten und ihm empfohlen, einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente zu stellen. Dazu bittet der Beschäftigte, ihm den Sozialdienst und die beauftragte Person für die Schwerbehinderten zur Hilfeleistung zur Seite zu stellen.

Mit Schreiben vom 27. November 2017 forderte die Beklagte den Kläger auf, bei seinem zuständigen Rentenversicherungsträger einen Antrag auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit innerhalb von 2 Wochen (ab Zugang dieses Schreibens) zu stellen. Zugleich wurden dem Kläger Namen und Telefonnummern des Sozialdienstes und der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen genannt.

Der Klägervertreter wandte sich unter dem 7. Dezember 2017 an die Beklagte und teilte mit, dass der Kläger einen Antrag auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit stellen wolle, sobald ihm der Aktenvermerk zum BEM-Gespräch vom 3. November 2017 vorliege.

Dieser wurde dem Klägervertreter am 20. Dezember 2017 übersandt.

Der Kläger behauptet, er habe am 25. Januar 2018 in Begleitung von Frau Juliane E., einer Integrationsfachkraft, in der "Rentenstelle" Finsterwalde einen Termin wahrgenommen. In einem Gespräch mit Verantwortlichen der Rentenstelle sei dem Kläger von der Beantragung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit abgeraten worden, da er 2019 ohnehin planmäßig in Altersrente gehe.

Dieses teilte der Klägervertreter der Beklagten auf deren Nachfrage vom 29. Januar 2018 mit Schreiben vom 6. Februar 2018 mit.

Mit Schreiben vom 28. Februar 2018 wurde der nach einer Vereinbarung zwischen der Beklagten und dem bei ihr gebildeten Hauptpersonalrat zuständige Vertrauensärztliche Dienst der Beklagten aufgefordert, ein amtsärztliches Gutachten gemäß § 33 Abs. 4 TVöD zu erstellen.

Dieses Gutachten erstellte eine Ärztin des Personal-/Vertrauensärztlichen Dienstes unter dem 21. Juni 2018 aufgrund der Aktenlage nach der Untersuchung vom 16. November 2017. Es endet mit der Feststellung:

Herr K. hat meines Erachtens Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 SGB VI beim zuständigen Rententräger.

Dieses Gutachten wurde dem Kläger mit Schreiben vom 2. Juli 2018 bekannt gegeben, so dass die Beklagte von einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31. Juli 2018 ausgeht.

Der Kläger meint, dass die Amtsärztin nicht unabhängig gewesen sei. Auch sei das Integrationsamt zuvor gemäß § 175 SGB IX zu beteiligen. Jedenfalls habe der Kläger in der Gesamtsituation das Stellen des Rentenantrags nicht schuldhaft unterlassen.

Die Beklagte beruft sich auf das Ergebnis und die Folgen der entsprechend der Vorschrift des § 33 Abs. 4 TVöD durchgeführte Untersuchung des Klägers.

Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 14. Februar 2019 die Klage abgewiesen. Der Kläger habe trotz entsprechender Aufforderung der Beklagten keinen Rentenantrag gestellt, das Gutachten vom 21. Juni 2018 sei deshalb an die Stelle des Rentenbescheides getreten. Die Vertrauensärztin sei dafür zuständig gewesen und es sei eine volle Erwerbsminderung festgestellt worden. Dass die Rentenstelle den Kläger anders beraten habe und möglicherweise vom Stellen eines Rentenantrags abgehalten habe, könne nicht zu Lasten der Beklagten gehen.

Gegen dieses dem Klägervertreter am 21. März 2019 zugestellte Urteil legte dieser bereits am 20. März 2019 Berufung ein und hat diese am 10. April 2019 sowie am 2. Mai 2019 begründet. Der Kläger habe sich nicht geweigert, den Rentenantrag zu stellen. Er habe einen mündlichen Antrag gestellt. Die Aussage der Rentenstelle sei aber für den Kläger verbindlich gewesen. Die Integrationsfachkraft sei dem Kläger an die Seite gestellt worden, um seine erkennbare Hilflosigkeit zu überwinden. Auch bleibe unklar, weshalb das Integrationsamt nicht beteiligt werden müsse. Schließlich bleibe die menschlich soziale Komponente. Durch die Beendigung verliere der Kläger auch seine Treueprämie nach dem TVöD. In der Berufungsverhandlung hat der Kläger klargestellt, dass ihm am 25. Januar 2018 in der Rentenstelle mitgeteilt worden sei, dass ein Antrag auf Erwerbsminderungsrente nicht mehr sinnvoll sei, weil er aufgrund seiner Versicherungsjahre als langjährig Versicherter zum Oktober 2019 ohne Abzüge in Altersrente gehen könne. Diesen Antrag habe er damals gestellt und diesem Antrag sei auch entsprochen worden. Deshalb werde er ab Oktober 2019 Altersrentner sein.


Der Kläger beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Cottbus vom 14. Februar 2019 - 11 Ca 10352/18 - abzuändern und festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch den Eintritt einer auflösenden Bedingung zum 31. Juli 2018 beendet worden ist.


Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte bestreitet, dass der Kläger einen mündlichen Antrag auf Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente gestellt habe. Allein aus dem Umstand, dass der Kläger den Antrag nicht gestellt habe, folge die schuldhafte Verzögerung des Rentenbeginns.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf den vorgetragenen Inhalt der Berufungsbegründung des Klägers vom 9. April 2019 und vom 30. April 2019, den vorgetragenen Inhalt der Berufungserwiderung der Beklagten vom 5. Juli 2019 und das Sitzungsprotokoll vom 12. September 2019 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach § 64 Abs. 2 ArbGG statthafte Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht im Sinne der §§ 66 Abs. 1 ArbGG, 519, 520 Zivilprozessordnung (ZPO) eingelegt und begründet worden. Sie ist mit der Begründung vom 30. April 2019 auch zulässig und im Ergebnis begründet.

1. Mit seinen Erklärungen in der Berufungsverhandlung hat der Kläger klargestellt, dass er am 25. Januar 2018 keinen mündlichen Antrag zur Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung gestellt hat. Der Kläger hat danach in der Beratung am 25. Januar 2018 vielmehr einen Antrag auf Altersrente ab Oktober 2019 gestellt.

Das Berufungsgericht hat erwogen, aufgrund dieses der Beratung der Deutschen Rentenversicherung folgenden Verhaltens des Klägers nicht mehr von einem schuldhaften Unterlassen des Stellens eines Antrags auf Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung auszugehen.

Denn schuldhaft handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält. Daher reicht es aus, die (Sicherheits)-vorkehrungen zu treffen, die eine verständige, umsichtige, vorsichtige und gewissenhafte Person für ausreichend halten darf, um einen anderen vor Schäden zu bewahren und die den Umständen nach zuzumuten sind (vgl. BAG vom 21. Dezember 2017 - 8 AZR 853/16).

Wenn ein Arbeitnehmer, auf dessen Arbeitsverhältnis der TVöD Anwendung findet, auf Veranlassung seines Arbeitgebers den Rentenversicherungsträger wegen des Stellens eines Antrags auf Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung aufsucht und ihm dort von einem solchen Antrag zugunsten eines Antrags auf Altersrente abgeraten wird, könnte man annehmen dass der Arbeitnehmer der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt genügt hat, indem er dem Rat der zur Beratung in Rentenangelegenheiten zuständigen Behörde folgt. Letztlich kann dieses jedoch dahinstehen.


2. Denn die Vorschrift des § 33 Abs. 4 TVöD in Verbindung mit § 33 Abs. 2 TVöD ist mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar. Insofern kommt es nicht darauf an, ob der Kläger schuldhaft den Antrag auf Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung verzögert hat.

2.1 Das Bundesarbeitsgericht hat dazu bereits in seiner Entscheidung vom 23. Juli 2014 (7 AZR 771/12) Folgendes ausgeführt:

"Der Senat lässt offen, ob es mit dem verfassungsrechtlich zu gewährleistenden Mindestbestandsschutz des Art. 12 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist, dass ein Arbeitsverhältnis nach § 33 Abs. 2 TV-L enden kann, obwohl der Arbeitnehmer durch § 33 Abs. 4 TV-L faktisch angehalten wird, einen Rentenantrag zu stellen. Selbst unter Beachtung des weiten tarifvertraglichen Regelungsermessens lassen sich angesichts dieser eingeschränkten Dispositionsbefugnis Bedenken an der Gewährleistung des verfassungsrechtlichen Mindestschutzes nicht ohne weiteres ausräumen. Dies gilt besonders dann, wenn der Arbeitnehmer nur Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit erhält. Verzögert der Beschäftigte schuldhaft einen Rentenantrag, so kann ein vom Arbeitgeber veranlasstes ärztliches Gutachten, das eine Erwerbsminderung feststellt, unter den Voraussetzungen des § 33 Abs. 4 TV-L den Rentenbescheid ersetzen. In diesem Fall endet das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des Monats, in dem "der/dem Beschäftigten das Gutachten bekannt gegeben worden ist". Die nach der Rechtsprechung des Senats erforderliche rentenrechtliche Dispositionsmöglichkeit besteht damit faktisch nicht. Der erwerbsgeminderte Arbeitnehmer wird durch § 33 Abs. 4 TV-L angehalten, einen Rentenantrag zu stellen, wenn er nicht riskieren will, ohne Arbeitsentgelt und ohne Versorgung dazustehen, möglicherweise nach einer Kündigung aus wichtigem Grund .... Einem Arbeitnehmer stehen gegenüber einem amtsärztlichen Gutachten ... nicht einmal die Möglichkeiten eines sozialgerichtlichen Verfahrens zur Verfügung, die gegenüber einem Rentenbescheid gegeben sind." (vgl. dazu auch Lorenz-Schmidt/Schmidt, ZTR 2018, 564, 576f.).

In der Entscheidung vom 14. Januar 2015 (7 AZR 880/13) hat das BAG die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 33 Abs. 2 und 4 TVöD bekräftigt. Dort wurde ausgeführt:

Der Senat hat zuletzt offengelassen, ob es mit dem verfassungsrechtlich zu gewährleistenden Mindestbestandsschutz des Art. 12 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist, dass ein Arbeitsverhältnis nach § 33 Abs. 2 TV-L, der § 33 Abs. 2 TVöD entspricht, enden kann, obwohl der Arbeitnehmer durch die Regelung in § 33 Abs. 4 TVöD faktisch angehalten wird, einen Rentenantrag zu stellen. Selbst unter Beachtung des weiten tarifvertraglichen Regelungsermessens lassen sich Bedenken an der Gewährleistung des verfassungsrechtlichen Mindestschutzes jedenfalls dann nicht ohne weiteres ausräumen, wenn der Arbeitnehmer nur Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung erhält und er daher noch Arbeitsleistungen in nicht unbedeutendem Umfang erbringen kann. Verzögert der Beschäftigte schuldhaft einen Rentenantrag, so kann ein nach § 33 Abs. 4 TVöD vom Arbeitgeber veranlasstes ärztliches Gutachten, das eine Erwerbsminderung feststellt, den Rentenbescheid ersetzen.

...

Die nach der Rechtsprechung des Senats erforderliche rentenrechtliche Dispositionsbefugnis des Arbeitnehmers bestünde damit faktisch nicht, weil auch der nur teilweise erwerbsgeminderte Arbeitnehmer angehalten wäre, einen Rentenantrag zu stellen, wenn er nicht riskieren will, ohne Arbeitsentgelt und ohne Versorgung dazustehen, möglicherweise nach einer Kündigung aus wichtigem Grund (BAG 23. Juli 2014 - 7 AZR 771/12 - Rn. 60 f.).

Weiter hatte das Bundesarbeitsgericht in der Entscheidung vom 14. Januar 2015 ausgeführt:

Ob sich diese für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auf unbestimmte Dauer aufgeworfene Frage in vergleichbarer Weise auch für den hier vorliegenden Fall der Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf unbestimmte Dauer stellt, bedarf keiner Entscheidung, weil keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Kläger von der Beklagten aufgefordert worden ist, den Rentenantrag vom 26. Oktober 2010 zu stellen.


2.2 Anders als in dem am 14. Januar 2015 vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall wurde der Kläger hier ausdrücklich von der Beklagten aufgefordert, den entsprechenden Antrag auf Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente zu stellen. Dabei hat der Kläger nach Beratung durch die Auskunfts- und Beratungsstelle der Deutschen Rentenversicherung von seiner rentenrechtlichen Dispositionsbefugnis Gebrauch gemacht und einen Rentenantrag im Hinblick auf eine ungekürzte Altersrente für langjährig Versicherte zum 1. Oktober 2019 nicht gestellt. Diese Dispositionsbefugnis ist verfassungsrechtlich geschützt.

"Ebenso wie die freie Berufswahl sich nicht in der Entscheidung zur Aufnahme eines Berufs erschöpft, sondern auch die Fortsetzung und Beendigung eines Berufs umfasst, bezieht sich die freie Arbeitsplatzwahl neben der Entscheidung für eine konkrete Beschäftigung auch auf den Willen des Einzelnen, diese beizubehalten oder aufzugeben. Das Grundrecht entfaltet seinen Schutz demnach gegen alle staatlichen Maßnahmen, die diese Wahlfreiheit beschränken" (BVerfG vom 24. April 1991 - 1 BvR 1341/90).


3. Bei der Vorschrift des § 33 Abs. 2 und 4 TVöD handelt es sich zwar nicht um eine staatliche Maßnahme, sondern um eine tarifliche, aber auch die Tarifvertragsparteien sind trotz ihrer durch Art. 9 Abs. 3 GG ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Position gehalten, bei der Gestaltung der Tarifverträge die Verfassung zu beachten.

Die Tarifvertragsparteien sind nicht unmittelbar an Grundrechte gebunden, wenn sie tarifliche Normen setzen. Mit der kollektiv ausgeübten privatautonomen Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge ist eine unmittelbare Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien nicht zu vereinbaren. Sie würde zu einer umfassenden Überprüfung tarifvertraglicher Regelungen am Maßstab der Verhältnismäßigkeit und damit zu einer "Tarifzensur" durch die Arbeitsgerichte führen (BAG vom 26. April 2017 - 10 AZR 856/15).

Die Grundrechtsgewährung ist jedoch nicht auf die bloße Abwehr staatlicher Eingriffe beschränkt, sondern verpflichtet darüber hinaus den Staat dazu, die Rechtsordnung in einer Weise zu gestalten, dass die einzelnen grundrechtlichen Gewährleistungen wirksam werden können. Den Staat trifft die Schutzpflicht, einer Grundrechtsverletzung durch andere Grundrechtsträger entgegenzuwirken. Die Schutzpflichtdimension der Grundrechte begrenzt die Gestaltungsmacht der Tarifvertragsparteien (vgl. BAG vom 3. Juli 2019 - 10 AZR 300/18). Dementsprechend verpflichtet die Schutzpflichtfunktion der Grundrechte die Rechtsprechung dazu, solchen Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu gleichheitswidrigen Differenzierungen führen oder die unangemessene Beschränkung eines grundrechtlichen Freiheitsrechts zur Folge haben (BAG vom 3. Juli 2019 - 10 AZR 300/18). Die Gerichte dürfen nicht eigene Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle von Bewertungen der zuständigen Verbände setzen. Die Tarifvertragsparteien sind nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund besteht (BAG vom 27. Juni 2018 - 10 AZR 290/17).


4. Trotz der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie und dem damit verbundenen weiten Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien beschränkt die Vorschrift des § 33 Abs. 2 und 4 TVöD das grundrechtliche Freiheitsrecht des Klägers aus Art. 12 Abs. 1 GG unangemessen. Denn faktisch wird dem Kläger bzw. seinem Willen seine freie Arbeitsplatzwahl entzogen, indem er entweder den Antrag auf eine Rente wegen Erwerbsminderung stellen muss oder der Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses einem amtsärztlichen Gutachten unterworfen wird. Für diesen Entzug sieht der TVöD keine Kompensation für den Arbeitnehmer vor.

Auch die Interessen der Beklagten rechtfertigen diesen Eingriff in die Rechte des Klägers aus Art. 12 Abs. 1 GG nicht. Die Beklagte ist nicht rechtlos gestellt. Sofern der Kläger aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen keine adäquaten Arbeitsleistungen mehr erbringen kann, hat die Beklagte die Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis infolge der Fehlzeiten des Klägers aus personenbedingten Gründen zu kündigen. Selbst für den Fall des Ausschlusses der ordentlichen Kündigung, der hier nicht gegeben ist, hat das Bundesarbeitsgericht mittlerweile die Anforderungen an die soziale Rechtfertigung bzw. den wichtigen Grund für eine solche Kündigung erheblich reduziert (vgl. etwa BAG vom 25. April 2018 - 2 AZR 6/18).


III.

Die Kostenentscheidung folgt § 64 Abs.6 ArbGG in Verbindung mit § 91 Abs. 1 ZPO. Die Beklagte hat als unterlegene Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG kam nicht in Betracht, da die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen haben.

IV.

Die Revision war zuzulassen, damit das Bundesarbeitsgericht die Frage der Verfassungswidrigkeit des § 33 Abs. 2 und 4 TVöD auch außerhalb eines obiter dictum entscheiden kann.

Referenznummer:

R/R8492


Informationsstand: 22.10.2020