Urteil
Zur Vereinbarkeit des Eingriffs in das Grundrecht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes durch den Einigungsvertrag mit dem GG - Warteschleifenregelung - Mutterschutzrecht

Gericht:

BVerfG


Aktenzeichen:

1 BvR 1341/90


Urteil vom:

24.04.1991


Grundlage:

  • GG Art 3 Abs 1 |
  • GG Art 14 |
  • GG Art 6 Abs 4 |
  • BVerfGG § 34a Abs 3 |
  • BVerfGG § 90 Abs 2 S 2 |
  • EinigVtr Anl 1 Kap 19 Sachgebiet A Abschn 3 Nr 1 Abs 3 |
  • EinigVtr Anl 1 Kap 19 Sachgebiet A Abschn 3 Nr 1 Abs 2 S 2 |
  • EinigVtr Anl 1 Kap 19 Sachgebiet A Abschn 3 Nr 1 Abs 2 S 5 |
  • EinigVtr Anl 1 Kap 19 Sachgebiet A Abschn 3 Nr 1 Abs 5 |
  • EinigVtr Anl 1 Kap 2 Sachgebiet B Abschn 3 Nr 1 |
  • EinigVtr Anl 1 Kap 8 Sachgebiet A |
  • EinigVtr Anl 2 Kap 8 Sachgebiet A Abschn 3 Nr 1 Buchst b |
  • EinigVtr Art 13 Abs 1 |
  • EinigVtr Art 13 Abs 2 |
  • EinigVtr Art 13 Abs 3 |
  • EinigVtr Art 20 Abs 1 |
  • EinigVtr Art 8 |
  • EinigVtrG Art 1 |
  • GG Art 12 Abs 1 S 2 |
  • GG Art 130 Abs 1 S 2 |
  • GG Art 143 Abs 1 Fassung 1990-09-23 |
  • GG Art 23 S 2 |
  • GG Art 33 |
  • WWSUVtr Art 26 Abs 3

Leitsatz:

1. Das in Art 12 Abs 1 GG gewährleistete Grundrecht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes schützt den Einzelnen in seinem Entschluß, eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit in dem gewählten Beruf zu ergreifen, beizubehalten oder aufzugeben. Dagegen ist mit der Wahlfreiheit kein Anspruch auf Bereitstellung eines Arbeitsplatzes eigener Wahl verbunden.

2. Wenn eine Regelung in die freie Wahl des Arbeitsplatzes mit ähnlicher Wirkung eingreift wie eine objektive Zulassungsschranke in die Freiheit der Berufswahl, ist sie nur zur Sicherung eines entsprechend wichtigen Gemeinschaftsguts unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig.

3. Die Regelung des Einigungsvertrages, nach der Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten bei abzuwickelnden öffentlichen Einrichtungen zum Ruhen gebracht und befristet werden, ist mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig, soweit dadurch die Kündigungsvorschriften des Mutterschutzrechts durchbrochen werden. Die besondere Lage von Schwerbehinderten, älteren Arbeitnehmern, Alleinerziehenden und anderen in ähnlicher Weise Betroffenen muß bei der Besetzung von Stellen im öffentlichen Dienst berücksichtigt werden.

Orientierungssatz:

1. Zu Ls 1:
Die Arbeitsplatzwahl ist der Berufswahl nachgeordnet und konkretisiert diese. Umgekehrt ist sie der Berufsausübung vorgeordnet, die erst am gewählten Arbeitsplatz stattfindet. Gegen den Verlust eines Arbeitsplatzes aufgrund privater Dispositionen obliegt dem Staat nur eine aus GG Art 12 Abs 1 folgende Schutzpflicht, der die geltenden Kündigungsvorschriften hinreichend Rechnung tragen.

2. Zu Ls 2:
Der Eingriff in das Grundrecht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes durch den Einigungsvertrag besteht darin, daß die angegriffene Regelung die Arbeitsverträge zum Ruhen bringt und zu ihrer Beendigung an einem bestimmten Stichtag führt, wenn nicht vorher eine Weiterverwendung angeboten wird, somit der Arbeitsplatzverlust unmittelbar als Folge der Entscheidung über die Abwicklung einer Einrichtung kraft Gesetzes eintritt.

3. Die angegriffene Regelung genügt im Ergebnis noch dem Bestimmtheitsgebot. Bedenklich ist, daß der Einigungsvertrag nicht die Voraussetzungen nennt, unter denen eine Einrichtung abgewickelt werden kann. Die Abwicklung einer Einrichtung setzt ihre Auflösung voraus, was bei sinngemäßer Auslegung bedeutet, daß die Einrichtung als organisatorische Einheit nicht mehr fortbesteht.

4. Bei verfassungskonformer Auslegung genügt die angegriffene Regelung im wesentlichen den Anforderungen aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz:

a) Sie ist geeignet und erforderlich, das angestrebte Ziel zu erreichen, nach dem Betritt der DDR dort möglichst rasch eine moderne, effektive und nach rechtsstaatlichen Maßstäben arbeitende Verwaltung aufzubauen.

b) Die Regelung ist bei einer Abwägung zwischen dem Gemeinschaftsgut, dem sie dient, mit der Schwere des Eingriffs im allgemeinen noch angemessen, insbesondere angesichts der Gefährdung eines großen Teils der Arbeitsplätze durch den wirtschaftlichen Niedergang der DDR bereits vor der Einigung und der im Einigungsvertrag selbst vorgesehenen die Lage der Betroffenen erleichternden Maßnahmen. Die zahlreichen Betroffenen führt die Regelung zur Entwertung ihrer bisherigen Qualifikation, was nur zumutbar ist, wenn ihnen von den zuständigen Hoheitsträgern auch nach Auslaufen der Arbeitsverträge bei ihren Bemühungen zur Wiedereingliederung in das Arbeitsleben wirksam Beistand geleistet wird.

5. Zu Ls 3:
Ohne wirksamen arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz dürfen Schwangere und Mütter nach der Entbindung nicht bleiben, dies gebietet GG Art 6 Abs 4. Darüber durfte sich der Bundesgesetzgeber auch nicht mit Rücksicht auf die extremen Belastungen der öffentlichen Haushalte hinwegsetzen.

6. GG Art 14 Abs 1 kommt als Prüfungsmaßstab für die Freiheit der individuellen Erwerbsfähigkeit nicht in Betracht. Weitere Grundrechte, insbesondere auch der allgemeine Gleichheitssatz werden durch die angegriffene Regelung nicht verletzt. Die Ungleichbehandlung knüpft hier an den Fortbestand oder Wegfall der Einrichtung an, für die der Betroffene arbeitet. Der sachliche Grund für die Weiterbeschäftigung bei übergeführten Einrichtungen liegt darin, daß dort die Arbeitsleistung weiterhin gebraucht wird. Die besonderen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung bei der Sanierung sind hinreichend gewichtige Gründe für ein andersartiges personalwirtschaftliches Instrumentarium.

Diese Entscheidung hat Gesetzeskraft.

Referenznummer:

KVRE212689101


Informationsstand: 01.01.1990