Urteil
Außerordentliche fristlose Kündigung wegen Androhung eines Amoklaufs innerhalb eines vertraulichen Gesprächs im Rahmen des betrieblichen Eingliederungsmanagement

Gericht:

LAG Hessen


Aktenzeichen:

2 Sa 1305/14


Urteil vom:

22.04.2015


Grundlage:

Leitsatz:

Die behauptete Drohung mit einem Amoklauf während eines BEM-Gesprächs rechtfertigt nicht den Ausspruch einer außerordentlichen fristlosen Kündigung, wenn - wie hier - aufgrund der besonders "geschützten" Situation eines BEM-Gesprächs nach § 84 Abs. 2 SGB IX unter Berücksichtigung von dessen Verlauf, dem Bestand des Arbeitsverhältnisses von über zwanzig Jahren und dem Gesundhheitszustand des Arbeitnehmers sowie der Annahme eines "Augenblicksversagens" die Interessen des Arbeitnehmers am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses überwiegen.

Rechtsweg:

ArbG Gießen, Urteil vom 18.07.2014 - 10 Ca 289/13
BAG, Urteil vom 22.04.2015 - 2 AZR 47/16

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Hessen

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 18. Juli 2014 - Aktenzeichen 10 Ca 289/13 - abgeändert.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung des beklagten Landes vom 11. September 2013 nicht aufgelöst worden ist.

Das beklagte Land wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens zu unveränderten Arbeitsbedingungen als vollbeschäftigten Angestellten in der Autobahnmeisterei A gemäß der Entgeltgruppe 5, Stufe 6, TV-H weiter zu beschäftigen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat das beklagte Land zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten im Berufungsrechtszug weiterhin über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung mit sofortiger Wirkung und, hilfsweise für den Fall des Obsiegens, über die Verpflichtung des beklagten Landes zur Weiterbeschäftigung des Klägers bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens.

Der jetzt 42-jährige (geboren am xx. xx. 1973) Kläger, der unverheiratet und ohne Unterhaltspflichten ist, wurde bei dem beklagten Land nach seiner Ausbildung zum Straßenwärter ab dem 1. Juli 1992 aufgrund schriftlichen Arbeitsvertrages vom 26. Juni 1992 (Bl. 27 und 28 d. A.) zunächst befristet und anschließend unbefristet als Straßenwärter beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft einzelvertraglicher Vereinbarung seit dem 1. Januar 2010 der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst des Landes Hessen (TV-H) Anwendung. Der Kläger wurde zuletzt beim beklagten Land beschäftigt im Geschäftsbereich B mit rund 3.700 Beschäftigten und dort im Bezirksdezernat C mit rund 450 Beschäftigten und zwar in der Autobahnmeisterei D. Der Kläger ist aufgrund Bescheid des Versorgungsamts Gießen vom 28. Juni 2013 (Bl. 31 d. A.) nach Änderung des Bescheids vom 11. Juni 2003 anerkannt als behinderter Mensch mit einem Grad von 40. Darin heißt es, dass die Auswirkungen folgender Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt wurden: seelische Störungen, Schlaf-Apnoe-Syndrom und Funktionsstörungen der Wirbelsäule mit Ausstrahlungen.

Nach Schwierigkeiten am Arbeitsplatz und längeren krankheitsbedingten Fehlzeiten wurde der Kläger ab dem 26. Mai 2008 aufgrund Schreiben des beklagten Landes vom 10. Dezember 2008 (Bl. 160 d. A.) "für die Dauer der Fortbildungsmaßnahme zum Bauaufseher" bis zum 15. Mai 2009 von der Autobahnmeisterei D in den Innendienst mit Dienstort E versetzt. Die Innendiensttätigkeit des Klägers als Bauaufseher mit Dienstort E wurde über den 15. Mai 2009 hinaus befristet bis letztlich zum 31. Dezember 2011 fortgesetzt, und zwar aufgrund Schreiben des beklagten Landes vom 14. Juni 2010 (Bl. 324 d. A.) befristet bis zum 28. Februar 2011 sowie vom 29. Juli 2011 (Bl. 325 d. A.) befristet bis zum 31. Dezember 2011.

Mit Schreiben des beklagten Landes vom 28. Dezember 2011 (Bl. 30 d. A.) wurde der Kläger mit Wirkung vom 1. Januar 2012 von der Autobahnmeisterei D zur Autobahnmeisterei A umgesetzt und ihm A als Einsatzort zugewiesen. Vom 2. bis zum 13. Januar 2012 befand sich der Kläger im Erholungsurlaub. Am Montag, den 16. Januar 2012, und am Dienstag, den 17. Januar 2012, erschien der Kläger am Einsatzort A, erhielt eine Sicherheitseinweisung und arbeitete an diesen beiden Tagen auf dem Gehöft.

Ab dem 18. Januar 2012 erkrankte der Kläger arbeitsunfähig. Vom 12. März 2013 bis zum 16. April 2013 befand sich der Kläger in einer stationären psychosomatischen Behandlung in der H-klinik in I. Ausweislich des ärztlichen Kurzentlassungsberichts vom 16. April 2013 (Bl. 162 und 163 d. A.) erfolgte die Entlassung nach den orthopädischen Befundergebnissen arbeitsunfähig für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Straßenwärter. Am 6. Mai 2013 wurde der Kläger bei der K-GmbH arbeitsmedizinisch zur Beurteilung seiner betrieblichen Einsatzfähigkeit untersucht. Ausweislich der hierüber erstellten ärztlichen Bescheinigung vom gleichen Tage (Bl. 161 d. A.) wurde nach Wertung der vorgelegten fachärztlichen Befunde aus arbeitsmedizinischer Sicht empfohlen, den Kläger nicht mehr als Straßenwärter einzusetzen. Vom 22. Mai 2013 an befand sich der Kläger im Erholungsurlaub. Mit Schreiben der Fachgewerkschaft der Straßen- und Verkehrsbeschäftigten vom 3. Juli 2013 (Bl. 336 d. A.) wandte sich der Kläger gegenüber dem beklagten Land unter Hinweis auf das Ergebnis seiner Untersuchung durch die K-GmbH vom 6. Mai 2013 gegen einen Einsatz als Straßenwärter in der Kolonne und fragte an, auf welche Grundlage das beklagte Land seine Auffassung stütze, dass er in der Kolonne als Straßenwärter in der Autobahnmeisterei A eingesetzt werden könne. Mit Schreiben vom 9. Juli 2013 (Bl. 164 d. A.) antwortete das beklagte Land darauf wie folgt:

"Sehr geehrte Damen und Herren,

Ihr o. a. Schreiben wurde mir zuständigkeitshalber von L zugeleitet.

Wie Sie in Ihrem Schreiben dargelegt haben, wird durch die Fa. K-GmbH empfohlen, Herrn M nicht mehr als Straßenwärter einzusetzen. Obwohl es sich nur um eine Empfehlung handelt, wird derzeit geprüft, ob sein Einsatz als Bauaufseher möglich ist. Dabei sind jedoch u. a. die sehr restriktiven Einsparvorgaben im Bereich der Stellen und des Personalbudgets bei B zu berücksichtigen.

Ich gehe davon aus, dass die Prüfung einer möglichen anderen Verwendung von Herrn M noch in diesem Monat abgeschlossen werden kann.

Mit freundlichen Grüßen

..."

Am 24. Juli 2013 fand mit dem Kläger ein "BEM-Gespräch" statt, an dem insgesamt sechs weitere Personen teilnahmen. Dabei wurde für die Zeit vom 1. August bis zum 23. August 2013 eine Wiedereingliederung mit drei bis vier Arbeitsstunden täglich mit einfachen Tätigkeiten in der Geschäftsstelle und im Bereich des Standortes L vereinbart. Weiter wurde vereinbart, dass weitere Einsatzmöglichkeiten des Klägers noch geprüft werden müssten.

Am Dienstag, den 20. August 2013, fand am Standort L ein weiteres "BEM-Gespräch" mit dem Kläger statt. An diesem Gespräch nahmen neben dem Kläger Frau O aus der Zentrale von B, Frau P und Herr Q von der Geschäftsstelle L, der Betriebsdezernent F und Vorgesetzte des Klägers R, Herr S vom Personalrat sowie Herr T als Schwerbehindertenvertrauensperson teil. Streitig ist, ob der Kläger in diesem Gespräch mit Selbstmord und Amok gedroht und sich dabei auf seine Mitgliedschaft im Schützenverein berufen hat, so der Vorwurf des beklagten Landes. Die Gesprächsleiterin auf Seiten des beklagten Landes O unterbrach im Anschluss an eine dahingehend verstandene Äußerung des Klägers das "BEM-Gespräch" und nahm Kontakt zum sozialpsychiatrischen Dienst auf. Von dort wurde ihr geraten, sich an die Polizei zu wenden. Nach Erscheinen sprachen die herbeigerufenen Polizeibeamten mit dem Kläger und Frau O. Im Anschluss wurde der Kläger mit seinem Einverständnis in die psychiatrische Ambulanz der U-Kliniken in V gebracht. Ausweislich der von dort ausgestellten fachärztlichen Bescheinigung vom 15. Oktober 2013 (Bl. 148 d. A.) wurde folgendes festgestellt:

"Fachärztliche Bescheinigung

Hiermit bescheinigen wir, dass Herr M. sich am 20.08.2013 in unserer psychiatrischen Institutsambulanz vorstellte. Wir diagnostizierten eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F 33.1 und F 45.4).

Psychisch war der Pat. wach, bewusstseinsklar und allseits orientiert. Im Kontakt wirkte er zugewandt. Der Gedankengang war formal unauffällig, inhaltlich fokussiert auf die Konflikte am Arbeitsplatz. Die Stimmung war im depressiven Sinne gedrückt, der Antrieb agitiert-unruhig. Er erwähnte auch orthopädische Beschwerden und Schmerzen. Intelligenz und Mnestik waren im Normbereich. Der Pat. konnte sich glaubhaft von jeglichen selbst- oder fremdgefährdenden Tendenzen distanzieren.

..."

Auf den am 27. August 2013 eingegangenen Antrag des beklagten Landes vom 26. August 2013 (Bl. 60 - 62 d. A.) teilte das Integrationsamt mit Bescheid vom 11. September 2013 - Zeichen xxxxx1 (Bl. 69 - 74 d. A.) - mit, dass die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Klägers als erteilt gilt.

Mit Schreiben vom 11. November 2013 (Bl. 41 und 42 d. A.) kündigte das beklagte Land das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger aus wichtigem Grund mit sofortiger Wirkung.

Mit Bescheid der Agentur für Arbeit Frankfurt am Main vom 30. April 2014 - xxxxx2 - Kunden-Nr. xxxxx3 (Bl. 189 d. A.) - wurde der Kläger auf seinen Antrag vom 8. Juli 2013 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt.

Mit Bescheid des LWV Hessen - Widerspruchsausschuss bei dem Integrationsamt - vom 9. Juli 2014 - Az. xxxxx4 (Bl. 232 - 235 d. A.) wurde der Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid des Integrationsamtes des LWV Hessen vom 11. September 2013 - Zeichen xxxxx1 - zurückgewiesen.

In der Hessischen Straßen- und Verkehrsverwaltung (HSVV) galt zunächst die Dienstvereinbarung "Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) in der Hessischen Straßen- und Verkehrsverwaltung (HSVV)" vom 4. März 2008, hinsichtlich deren näheren Einzelheiten auf Bl. 332 bis 335 d. A. Bezug genommen wird. Aktuell findet im Bereich B -Straßen- und Verkehrsmanagement die Dienstvereinbarung "Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) bei B (B)" vom 8. Juli 2013 Anwendung, hinsichtlich deren nähere Einzelheiten auf Bl. 327 bis 331 d. A. verwiesen wird.

Bereits am 18. September 2013 hat der Kläger beim Arbeitsgericht Gießen, dem beklagten Land zugestellt am 23. September 2013 (Bl. 44 d. A.), Kündigungsschutzklage erhoben und hilfsweise für den Fall des Obsiegens seine vorläufige Weiterbeschäftigung verlangt.

Wegen des weiteren unstreitigen Sachverhalts, dem Vortrag der Parteien im ersten Rechtszug und den dort gestellten Anträgen wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG ergänzend auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils des Arbeitsgerichts Gießen vom 18. Juli 2014 -10 Ca 289/13 (Bl. 238-247 d. A.) - Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht Gießen hat durch vorgenanntes Urteil nach Beweisaufnahme über die streitige Behauptung des beklagten Landes, der Kläger habe bei dem zweiten "BEM-Gespräch" am 20. August 2013 unter anderem mit einem Amoklauf gedroht, die Kündigungsschutzklage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, das beklagte Land habe den Kläger nach ordnungsgemäßer Anhörung des Personalrats mit Schreiben vom 26. August 2013 und Mitteilung des Integrationsamts mit Bescheid vom 30. August 2013, wonach die Zustimmung zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung des Klägers als erteilt gelte, rechtswirksam mit Schreiben vom 11. September 2013 außerordentlich mit sofortiger Wirkung gekündigt. Ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB sei gegeben. Die Einvernahme der Zeugen habe ergeben, dass der Kläger bei dem "BEM-Gespräch" am 20. August 2013 gegenüber den Anwesenden für den Fall einer Tätigkeit in einer Autobahn- oder Straßenmeisterei nicht nur mit erheblichen Krankheitszeiten und einem weiteren Selbstmordversuch, sondern auch mit der Möglichkeit eines Amoklaufs gedroht habe. Nach Aussage der Zeugen S, T und R habe der Kläger mit seiner Drohung offenkundig erzwingen wollen, dass er zukünftig nicht mehr als Straßenwärter eingesetzt werde. Hierbei handele es sich um eine rechtswidrige Nötigung, die ein Arbeitgeber nicht hinnehmen müsse. Im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung sei das Gericht nach Abwägung aller Gesamtumstände zu dem Ergebnis gekommen, dass die außerordentliche Kündigung, die das beklagte Land zudem unter Einhaltung der zweiwöchigen Kündigungserklärungsfrist der §§ 626 Abs. 2 BGB, 91 Abs. 2 SGB IX ausgesprochen habe, gerechtfertigt sei.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger innerhalb der zur Niederschrift über die Berufungsverhandlung am 22. April 2015 festgestellten und dort ersichtlichen Fristen Berufung eingelegt (Bl. 322 d. A.).

Der Kläger vertritt weiter die Ansicht, der Personalrat sei nicht ordnungsgemäß beteiligt worden. Hierzu fehle substantiierter Vortrag des beklagten Landes, denn die Vorlage des Anhörungsschreibens vom 26. August 2013 (Bl. 56 - 58 d. A.) reiche nicht aus. Im Übrigen bestreite er den Erhalt dieses Schreibens beim Personalrat mit Nichtwissen. Zudem fehle es am wichtigen Grund, denn der Kläger habe in dem "BEM-Gespräch" am 20. August 2013 keine Drohung aussprechen wollen, sondern er habe lediglich in einem resignierten Zustand sein Befinden beschrieben. Auch habe das Arbeitsgericht den besonderen Charakter eines "BEM-Gesprächs" übersehen. Der Kläger habe die behauptete Drohung nicht in Verhandlungen mit dem Arbeitgeber, sondern im Rahmen eines geschützten "BEM-Gesprächs" abgegeben. Schließlich habe das Arbeitsgericht eine fehlerhafte Interessenabwägung vorgenommen, die mehr eine moralische Beurteilung des Vorfalls darstelle und Grundaspekte des Kündigungsrechts außer Acht lasse.


Der Kläger beantragt,

1. das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 18. Juli 2014 mit dem Aktenzeichen 10 Ca 289/13 abzuändern;

2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 11. September 2013 nicht aufgelöst worden ist;

3. das beklagte Land für den Fall des Obsiegens mit den Anträgen zu 1. und 2. zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens zu unveränderten Arbeitsbedingungen als vollbeschäftigten Angestellten in der Autobahnmeisterei A gemäß der Entgeltgruppe 5, Stufe 6, TV-H weiter zu beschäftigen.


Das beklagte Land beantragt,

die Berufung gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 18. Juli 2014, Az. 10 Ca 289/13, zurückzuweisen.

Das beklagte Land verteidigt das angegriffene Urteil. Zur Frage nach der Ordnungsgemäßheit der Personalratsbeteiligung verweist es darauf, dass sich der Personalrat in seinem Antwortschreiben vom 30. August 2013 (Bl. 59 d. A.) ausdrücklich auf das Anhörungsschreiben vom 26. August 2013 bezogen habe. Weiter ist das beklagte Land der Auffassung, das "BEM-Gespräch" sei ein Bestandteil des Arbeitsverhältnisses und müsse als solches, soweit hier Tatsachen bekannt werden würden, die eine Verletzung der arbeitsvertraglichen Verpflichtungen beinhalten und zu einer ernsthaften Gefährdung Dritter führen könnten, vom Arbeitgeber ernst genommen werden. Es entspreche der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, hierauf gegebenenfalls auch mit einer fristlosen Kündigung zu reagieren.

Wegen des weiteren Parteivorbringens im Berufungsrechtszug wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen vom 3. Dezember 2014 (Bl. 295 - 299 d. A.), 14. Januar 2015 (Bl. 307-311 d. A.), 14. April 2015 (Bl. 317 d. A.) und 16. April 2015 (Bl. 318 und 319 d. A.) sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 22. April 2015 nebst Anlagen (Bl. 322 - 339 d. A.) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 18. Juli 2014 - 10 Ca 289/13 - ist gem. §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 2 lit. c ArbGG statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden, §§ 66 Abs. 1 ArbGG; 519, 520 Abs. 1, 3 und 5 ZPO.

II.
In der Sache hat die Berufung auch Erfolg. Das Arbeitsverhältnis der Parteien wurde durch die außerordentliche fristlose Kündigung des beklagten Landes vom 11. September 2013 nicht aufgelöst. Unter Berücksichtigung des besonderen Charakters eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) im Sinne des § 84 Abs. 2 SGB IX rechtfertigt das behauptete Verhalten des Klägers im "BEM-Gespräch" vom 20. August 2013, selbst wenn man den Vortrag des beklagten Landes als zutreffend unterstellt, nicht die Annahme eines wichtigen Grundes gemäß § 626 Abs. 1 BGB. Damit steht dem Kläger gegen das beklagte Land ein Anspruch auf vorläufige Weiterbeschäftigung als vollbeschäftigter Angestellter bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens zu. Dieses Entscheidungsergebnis beruht im Wesentlichen auf folgenden Erwägungen (§ 313 Abs. 3 ZPO):

1. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet das KSchG gemäß § 1 Abs. 1, § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG Anwendung, da im maßgeblichen Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung das Arbeitsverhältnis des Klägers mit dem beklagten Land bereits weit länger als sechs Monate bestand und das beklagte Land ständig mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt. Der Kläger hat weiterhin gemäß §§ 13 Abs. 1 Satz 2, 4 Satz 1 KSchG rechtzeitig Klage erhoben, da die dreiwöchige Frist zwischen Zugang der Kündigung des beklagten Landes vom 11. September 2013 und Klageerhebung am 18. September 2013 sowie Zustellung bei dem beklagten Land am 23. September 2013 (Bl. 44 d. A.) gewahrt ist.

2. Ein wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB liegt nicht vor.

a) Das Vorliegen eines wichtigen Grundes ist im Rahmen einer zweistufigen Prüfung zu beurteilen. Im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB ist zunächst zu prüfen, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalls als wichtiger Kündigungsgrund an sich geeignet ist. Liegt ein solcher Sachverhalt vor, bedarf es der weiteren Prüfung, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile zumutbar ist oder nicht (BAG, Urteil vom 7. Juli 2005 - 2 AZR 581/04 - AP BGB § 626 Nr. 192; BAG, Urteil vom 27. April 2006 - 2 AZR 386/05 - AP BGB § 626 Nr. 202; BAG, Urteil vom 28. August 2008 - 2 AZR 15/07 - AP BGB § 626 Nr. 214).

b) Ob das vom beklagten Land behauptete Verhalten des Klägers im "BEM-Gespräch" vom 20. August 2013 - insbesondere die behauptete Amokdrohung - aufgrund des besonderen Charakters eines betrieblichen Eingliederungsmanagements eine erhebliche arbeitsvertragliche Pflichtverletzung darstellt, die an sich geeignet sein könnte, einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung iSd. § 626 Abs. 1 BGB darzustellen, hat die Kammer nicht entscheiden müssen. Allerdings ist die Androhung von Gewalt gegen Arbeitgeber oder Arbeitskollegen, die nicht durch die Grundsätze der Notwehr gerechtfertigt ist, auch ohne Abmahnung geeignet, einen an sich zur außerordentlichen Kündigung geeigneten Umstand darzustellen (vgl. BAG, Urteil vom 10. Dezember 2009 - 2 AZR 1039/06, zitiert nach Juris). Gleiches gilt für entsprechende Drohungen. Schließlich können auch widerrechtliche Drohungen gegenüber Arbeitskollegen einen an sich zur außerordentlichen Kündigung geeigneten Umstand darstellen (vgl. LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 13. Mai 2013 - 5 Sa 49/13 - Rn. 74, zitiert nach Juris). Dies alles muss erst recht im Falle der Androhung eines Amoklaufs durch einen Arbeitnehmer gegenüber Vorgesetzten und Kollegen gelten. Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände ist aber die außerordentliche Kündigung des beklagten Landes nach Auffassung der Berufungskammer nicht gerechtfertigt. Es überwiegen im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung aufgrund der Besonderheiten der Gesamtumstände jedenfalls die Interessen des Klägers an einer Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses die Interessen des beklagten Landes an dessen Beendigung.

aa) Im Rahmen einer stets vorzunehmenden Interessenabwägung ist das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen - zumindest vorläufigem - Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen (vgl. BAG, Urteile vom 24. März 2011 - 2 AZR 282/10 - und 27. September 2012 - 2 AZR 646/11, allesamt zitiert nach Juris). Die insoweit zu berücksichtigenden Umstände lassen sich nicht abschließend für alle Fälle festlegen (vgl. BAG, Urteil vom 27. April 2006 - 2 AZR 415/05, zitiert nach Juris). Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung - etwa im Hinblick auf das Maß eines durch sie bewirkten Vertrauensverlusts und ihre wirtschaftlichen Folgen -, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf (vgl. BAG, Urteil vom 9. Juni 2011 - 2 AZR 381/10 - Rn. 22, zitiert nach Juris).

bb) Unter Zugrundelegung dessen überwiegt das Interesse des Klägers am Bestand des Arbeitsverhältnisses, da die vom beklagten Land behauptete Amokdrohung anlässlich des "BEM-Gesprächs" am 20. August 2013 in der besonderen "geschützten" Situation eines betrieblichen Eingliederungsmanagement nach § 84 Abs. 2 SGB IX gefallen wäre. So begründet das betriebliche Eingliederungsmanagement nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. BAG, Urteil vom 12. Juli 2007 - 2 AZR 716/06, zitiert nach Juris) eine Verfahrenspflicht des Arbeitgebers, einen innerbetrieblichen Suchprozess zu organisieren und zu diesem Zweck internen und externen Sachverstand zu mobilisieren. Es zielt darauf ab, innerbetriebliche Lösungen zu finden und auf diese Weise sowohl die Arbeitsunfähigkeit zu überwinden als auch eine reale Integration von Arbeitnehmern mit zumindest zeitweilig beeinträchtigter Gesundheit in den Arbeitsprozess nachhaltig sicherzustellen. Die Vorstellungen der Betroffenen sowie interner und externer Sachverstand sollen in ein faires und sachorientiertes Gespräch eingebracht werden, dessen Verlauf im Einzelnen und dessen Ergebnis sich nach den - allgemeinen Beschreibungen nicht zugänglichen - Erfordernissen des jeweiligen Einzelfalls zu richten haben (vgl. BAG, Urteil vom 10. Dezember 2009 - 2 AZR 198/09 - Rn. 18, zitiert nach Juris). In diesem Suchprozess, wie er auch in der maßgeblichen Dienstvereinbarung vom 8. Juli 2013 für den Geschäftsbereich B - Straßen- und Verkehrsmanagement im Einzelnen beschrieben wird, befanden sich die Teilnehmer des zweiten "BEM-Gesprächs" am 20. August 2013. Allerdings wurde dem Kläger in diesem Gespräch offenbart, dass er trotz der vorliegenden ärztlichen Bescheinigungen, die für ihn einen Einsatz als Straßenwärter in einer Straßenmeisterei ausschlossen, zu keiner Beschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz kommen sollte, sondern der Kläger wieder als Straßenwärter in einer Straßenmeisterei beschäftigt werden sollte. Der Kläger, der mit diesem weiteren "BEM-Gespräch" ganz andere Erwartungen verbunden haben dürfte, befand sich in einer emotional hoch belastenden Situation. Unter diesen außergewöhnlichen Umständen, die nicht mit einem üblichen Personalgespräch zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber vergleichbar sind, kann eine allenfalls im "Augenblicksversagen" getätigte Androhung eines Amoklaufs, wie sie das beklagte Land behauptet, nicht zu einem Überwiegen des an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen. Dieses gilt umso mehr, wenn zudem die über zwanzigjährige Beschäftigungsdauer des Klägers bei dem beklagten Land und seine massiven gesundheitlichen Probleme, die bereits zuvor zur Anerkennung als behinderter Mensch mit einem Grad von 40 geführt hatten, Berücksichtigung finden. Dass die behauptete Amokdrohung, wenn sie denn, wie vom beklagten Land behauptet, vom Kläger getätigt worden wäre, letztlich auch nicht glaubhaft gewesen sein würde, ergibt sich aus der fachärztlichen Bescheinigung der U -Kliniken vom 15. Oktober 2013 aufgrund seiner Vorstellung dort noch am gleichen Tag. Für das Berufungsgericht verdient das betriebliche Eingliederungsmanagement nach § 84 Abs. 2 SGB IX besonderen Schutz, denn der Arbeitnehmer, der sich für eine Teilnahme daran entscheidet, soll sich öffnen und soll sich bei der Suche nach Möglichkeiten zur Überwindung seiner Arbeitsunfähigkeit einbringen. Hingegen soll er aufgrund des Verlaufs nicht - jedenfalls nicht ohne weiteres - um den Bestand seines Arbeitsverhältnisses fürchten müssen.

c) Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist auch nicht durch eine ordentliche Kündigung des beklagten Landes vom 11. September 2013 im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG aufgelöst worden. Zwar kann eine unwirksame außerordentliche Kündigung grundsätzlich in eine ordentliche Kündigung nach § 140 BGB umgedeutet werden (So BAG, Urteil vom 23. Oktober 2008 - 2 AZR 388/07, zitiert nach Juris). Im Streitfalle scheitert die Umdeutung der außerordentlichen Kündigung des beklagten Landes vom 11. Februar 2013 in eine ordentliche Kündigung daran, dass Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten, die das 40. Lebensjahr vollendet haben, nach einer Beschäftigungszeit von mehr als 15 Jahren durch das beklagte Land tarifvertraglich nur noch aus einem wichtigen Grund gekündigt werden können, § 34 Abs. 2 Satz 1 TV-H. Der am xx. xxx 1973 geborene Kläger hatte im Kündigungszeitpunkt September 2013 bereits das 40. Lebensjahr vollendet und war über zwanzig Jahre beim beklagten Land beschäftigt.

3. Endete das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgrund der außerordentlichen fristlosen Kündigung des beklagten Landes vom 11. September 2013, ist das beklagte Land zur Weiterbeschäftigung des Klägers verpflichtet (vgl. BAG GS, Beschluss vom 27. Februar 1985 - GS 1/84, zitiert nach Juris). Ein überwiegendes Interesse an der Nichtbeschäftigung des Klägers bis zum rechtskräftigen Abschluss der Kündigungsschutzklage hat das beklagte Land nicht dargelegt und dieses ist auch nicht ersichtlich. Damit verdienen die Interessen des Klägers an der - vorläufigen - Weiterbeschäftigung den Vorzug.


III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, da die Berufung des beklagten Landes erfolglos bleibt.

Für die Zulassung der Revision ist kein Grund iSd. § 72 Abs. 2 ArbGG ersichtlich.

Referenznummer:

R/R7077


Informationsstand: 08.11.2016