Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
I.
Der Antragsteller begehrt die Verpflichtung des Antragsgegners zu bestimmten Eingliederungshilfeleistungen im Wege der einstweiligen Anordnung.
Der am xxx geborene Antragsteller ist insbesondere aufgrund xxx mit einem Grad der Behinderung (
GdB) von 100 körperlich und geistig behindert sowie im Pflegegrad 5 pflegebedürftig.
Mit Bescheid vom 14.02.2023 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 05.04.2023 lehnte der Antragsgegner den Antrag des Antragstellers vom 21.09.2022 auf Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Betreuungskosten in der Förder- und Betreuungsgruppe (FuB) bei der B in D ab, da die hierbei anfallenden Fahrtkosten im Sinne des Wirtschaftlichkeitsgebots nach § 33 Satz 2 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (
SGB I) nicht mehr angemessen seien. Diese würden sich nach einer Berechnung seiner Abteilung für Nahverkehr jährlich mindestens auf 63.200 € für D
bzw. 69.810 € für den alternativ gewünschten Werkstattort E belaufen, monatlich mithin auf 5.266 € (D)
bzw. 5.817 € (E). Die monatlichen Kosten für die FuB selbst betrügen
ca. 2.200 €. Somit würden die Fahrtkosten die eigentlichen Maßnahmekosten um das Zweieinhalbfache übersteigen. Dagegen könnte die Kostenübernahme für den Besuch der FuB der C in N in Aussicht gestellt werden. Nach dort könne eine kostenneutrale Beförderung des Antragstellers erfolgen.
Gegen diese Entscheidung ist unter dem Az. S 9 SO 1020/23 eine Klage des Antragstellers anhängig mit dem Begehren, den Antragsgegner unter Aufhebung des o.g. Bescheides zu Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Kosten für den Besuch der FuB der B in E (alternativ in D) zu verurteilen.
Am 22.06.2023 beantragte der Antragsteller beim Sozialgericht Freiburg den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Sein Bevollmächtigter trägt vor, der Antragsteller - der nicht sprechen könne - habe mehrere Einrichtungen probeweise besucht. Aufgrund seines Verhaltens (Auflachen, Augenkontakt, vielseitiges Spielen und Gestikulieren mit den Händen) hätten die Eltern des Antragsstellers festgestellt, dass er sich in den Einrichtungen in D und E wohlgefühlt habe. In G und N habe sich der Antragssteller hingegen zurückgezogen und die Nahrungsaufnahme verweigert.
§ 8 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX), der die Rechte des Leistungsberechtigten gesondert und konkreter als § 33
SGB I regele, garantiere diesem ein Wunsch- und Wahlrecht. Der Anordnungsanspruch ergebe sich hier aus dem Wunschrecht des Antragstellers. Die Auffassung des Antragsgegners, dass der Antragsteller zunächst Erfahrungen im Rahmen eines längeren Aufenthaltes in den von ihm vorgeschlagenen Einrichtungen machen müsse, könne nicht überzeugen, denn der Besuch unterschiedlicher Einrichtungen und eventuelle Wechsel der Einrichtungen dürften dem Antragssteller nicht zumutbar und deshalb unverhältnismäßig sein. Es bestehe auch ein Anordnungsgrund, da der Schulbesuch des Antragstellers am 21.07.2023 ende, die Plätze in den Einrichtungen derzeit vergeben würden und ohne eine Eilentscheidung zu befürchten sei, dass der Antragsteller keinen Platz in der begehrten Einrichtung mehr erhalte und daher nicht betreut werden könne.
Der Antragsteller beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragssteller Eingliederungshilfe in gesetzlicher Höhe und im gesetzlichen Umfang in Form von der Übernahme der Kosten für den Besuch der Förder- und Betreuungsgruppe der B in E (alternativ in D) zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Er verweist auf die Begründung des Widerspruchsbescheids und trägt ergänzend vor, dass es für den Antragsteller zumutbar sei, eine näher gelegene Einrichtung wie beispielsweise die Förder- und Betreuungsgruppe der C in N oder G zu besuchen. Ob die dortigen Einrichtungen für den Antragsteller geeignet seien, könne erst nach einer Aufnahme und einer Eingewöhnungszeit gesagt werden.Gute und schlechte Erfahrungen bei kurzfristigen Besuchen seien kein Nachweis dafür, dass später die Eingewöhnung in die Einrichtung immer problemlos
bzw. problembehaftet sei. Hier könnten auch tagesformbedingt unterschiedliche Erfahrungen gemacht werden. In ähnlichen Fällen sei es nach den Erfahrungen des Antragsgegners nach einer unterschiedlich langen Eingewöhnungszeit immer gelungen, ein Vertrauensverhältnis zum Leistungsberechtigten aufzubauen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Verfahrens und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die vom Antragsgegner vorgelegte Verwaltungsakte und die Verfahrensakte des Gerichts Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig, aber nicht begründet.
Der Antragsteller begehrt die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners zu Leistungen. Daher ist die einstweilige Rechtsschutzform der Regelungsanordnung nach § 86b
Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) statthaft. Danach sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt die - grundsätzlich lediglich summarisch zu prüfende - Erfolgsaussicht in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung (Anordnungsgrund) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b
Abs. 2 Satz 4
SGG i.V.m. § 920
Abs. 2 der Zivilprozessordnung
).
Hier ist der erforderliche Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.
Der Antragsteller hat unstreitig und - soweit nach Aktenlage ersichtlich - offenkundig Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem 2. Teil des SGB IX für den Besuch einer FuB einer Werkstatt für behinderte Menschen. Die allein streitige Frage, für den Besuch welcher FuB Leistungen zu gewähren sind, richtet sich nach § 104 Abs. 2 SGB IX, der als speziellere Norm sowohl § 33 Satz 2 SGB I als auch § 8 Abs. 1 SGB IX vorgeht (vgl. Dr. Stephan Gutzler in: Hauck/Noftz SGB IX, § 104, Rn. 18). Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist eröffnet, da sich der Wunsch des Antragstellers, Eingliederungshilfe für den Besuch bestimmter Einrichtungen in D oder E zu erhalten, auf die dort genannte „Gestaltung der Leistung“ richtet (vgl. § 104 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Dieser Begriff ist weit auszulegen und umfasst u.a. sachliche, örtliche oder persönliche Leistungsmodalitäten ebenso wie die Auswahl und ggf. Kombination verschiedener Leistungsformen oder Leistungsarten (a.a.O. Rn. 20).
Nach § 104 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ist Wünschen der Leistungsberechtigten, die sich auf die Gestaltung der Leistung richten, zu entsprechen, soweit sie angemessen sind. Die Wünsche der Leistungsberechtigten gelten nach Satz 2 a.a.O. nicht als angemessen, wenn und soweit 1. die Höhe der Kosten der gewünschten Leistung die Höhe der Kosten für eine vergleichbare Leistung von Leistungserbringern, mit denen eine Vereinbarung nach Kapitel 8 besteht, unverhältnismäßig übersteigt, und wenn 2. der Bedarf nach der Besonderheit des Einzelfalles durch die vergleichbare Leistung gedeckt werden kann. Bei der Entscheidung nach Absatz 2 a.a.O. ist zunächst die Zumutbarkeit einer von den Wünschen des Leistungsberechtigten abweichenden Leistung zu prüfen (§ 104 Abs. 3 Satz 1 SGB IX). Bei Unzumutbarkeit einer abweichenden Leistungsgestaltung ist ein Kostenvergleich nicht vorzunehmen (§ 104 Abs. 3 Satz 5 SGB IX).
Ausgehend von diesen gesetzlichen Vorgaben unterliegt die Frage, ob ein Anspruch auf Eingliederungshilfe entsprechend den Wünschen des Leistungsberechtigten besteht, einer mehrstufigen Prüfung. In einem ersten Schritt ist festzustellen, ob eine zumutbare und bedarfsdeckende, von den Wünschen des Leistungsberechtigten abweichende Leistungsgestaltung überhaupt zur Verfügung steht („zumutbare Leistungsalternative“, vgl. § 104 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2, Abs. 3 Sätze 1 und 5 SGB IX). Falls ja, ist in der zweiten Stufe ein Kostenvergleich zwischen den Leistungsalternativen vorzunehmen (§ 104 Abs. 2 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB IX). Werden dabei Mehrkosten festgestellt, sind diese noch nicht automatisch unangemessen, sondern erst dann, wenn sie in einem dritten Prüfungsschritt für unverhältnismäßig befunden werden (a.a.O., Rn. 26; Wehrhahn in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3.A., § 104 SGB IX , Rn. 11). Bei diesem Kriterium handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der voller gerichtlicher Überprüfbarkeit unterliegt. Während das BVerwG bei der Anwendung von Vorgängervorschriften Mehrkosten von 75% ohne Weiteres als unverhältnismäßig angesehen hat (Urt. v. 11.02.1982, Az. 5 C 85/80 ) und verschiedene Sozialgerichte Überschreitungen von 20-30% für unschädlich erachtet haben (vgl. etwa SG Karlsruhe, Gerichtsbescheid v. 20.05.2015, Az. S 1 SO 4334/14, , m.w.N.) wird in der Kommentarliteratur vertreten, die Verhältnismäßigkeit von Mehrkosten sei ohne feste Grenze einzelfallbezogen anhand weiterer Kriterien zu prüfen (z.B. Qualität der Leistung, Erfolgswahrscheinlichkeit im Hinblick auf die festgelegten Teilhabeziele, Art des Bedarfs, persönliche Verhältnisse, Sozialraum und Ressourcen des Menschen mit Behinderung; vgl. Gutzler a.a.O. und Wehrhahn a.a.O. Rn. 11 u. 12). Nur wenn es an einer Leistungsalternative fehlt oder die gewünschte Leistung nicht bereits wegen unverhältnismäßiger Mehrkosten unangemessen ist, ist eine abschließende Angemessenheitsprüfung des Wunsches unter vergleichender Gegenüberstellung der Folgen einer Nicht- oder Andersleistung und der Wunschgewährung vorzunehmen (a.a.O.).
Hier ist erstens mit Wahrscheinlichkeit von einer zumutbaren und bedarfsdeckenden Leistungsalternative in Form des vom Antragsgegner vorgeschlagenen Besuchs der C in N oder G auszugehen. Deren Eignung zur Bedarfsdeckung wurde nicht bestritten, auch das Gericht hat keinen Anlass, hieran zu zweifeln. Der Besuch dieser FuB ist dem Antragsteller auch nicht unzumutbar. Das Gericht hat zwar vollstes Verständnis für die Skepsis des Antragstellers und seiner Angehörigen, nachdem sie bei der Hospitanz in diesen Einrichtungen anders als in seiner Wunscheinrichtung negative Erfahrungen gemacht und Eindrücke gewonnen haben. Zu berücksichtigen ist aber, dass diese ausschließlich in subjektiven Missfallensäußerungen des Antragstellers Ausdruck gefunden haben und lediglich auf erstmaligen Probebesuchen beruhten. Dem Antragsgegner zufolge können sowohl die positiven Eindrücke in der Wunscheinrichtung als auch die negativen in der vom Antragsgegner vorgeschlagenen ihre Ursache in zufälligen Umständen des jeweiligen Besuchstags („Tagesform“) haben - auf Seiten des Antragstellers, des Personals und der anderen Einrichtungsbesucher -, so dass nach einer gewissen Eingewöhnungszeit die jeweilige Erfahrung eine gänzlich andere sein könnte. Diese auf Erfahrungen aus der Eingliederungshilfepraxis beruhende Einschätzung ist auch für das Gericht nachvollziehbar und plausibel. Anders zu bewerten wäre der Sachverhalt möglicherweise, wenn die die fehlende Zumutbarkeit außer mit den Eindrücken des Antragstellers und seiner Angehörigen auch auf fachlich fundierte Beobachtungen etwa des Einrichtungspersonals oder eine längere erfolglose Eingewöhnungsphase gestützt werden könnte. Dies ist hier aber nicht der Fall.
Der im nächsten Prüfungsschritt anstehende Kostenvergleich wurde vom Antragsgegner bereits - mit nicht bestrittenem Ergebnis - vorgenommen und ergab eine Überschreitung um jedenfalls mehr als das Dreifache (2.200 € Maßnahmekosten gegenüber mindestens 7.466 € Maßnahme- und Fahrtkosten). Mehrkosten dieses Ausmaßes sind mit hoher Wahrscheinlichkeit nach den oben ausgeführten rechtlichen Maßstäben unverhältnismäßig, zumal diese voraussichtlich jahrelang anfallen würden und außer dem Wunsch des Antragstellers keine weiteren Kriterien vorgetragen wurden (wie die oben beispielhaft aufgezählten), die auch überdurchschnittliche Mehrkosten ggf. rechtfertigen könnten.
Infolgedessen dürfte ein Anordnungsanspruch auf die mit dem vorliegenden Antrag geltend gemachte Wunschleistung mangels Angemessenheit nicht bestehen (§ 104 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Auch der Anordnungsgrund scheint zumindest fraglich. Es wurde nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass ein Wechsel des Antragstellers in eine der gewünschten FuB nach dem 21.07.2023 unmöglich oder auch nur mit einer unzumutbaren Wartezeit verbunden wäre.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.