Urteil
Schwerbehinderung - Rechtswidrigkeit der Versagung der Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung

Gericht:

VG Bayreuth


Aktenzeichen:

B 3 K 16.346


Urteil vom:

17.08.2017


Grundlage:

Leitsätze:

1. Ein Zusammenhang mit der Behinderung iSd § 91 Abs. 4 SGB IX ist nicht schon bei jedwedem Einfluss der Behinderung auf das Verhalten des Schwerbehinderten gegeben.

2. Wird eine Kündigung auf ein Fehlverhalten gestützt, dass nach Auffassung des Kündigenden seine Ursache zumindest auch in der Behinderung selbst hat, muss er den Zusammenhang zwischen der Behinderung und dem Fehlverhalten näher aufklären.

3. Die Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 84 SGB IX ist keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die Entscheidung des Integrationsamts nach den §§ 85 ff. SGB IX.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

BAYERN.RECHT

Tenor:

1. Der Bescheid des Beklagten vom 19.10.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.09.2016 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Von den Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen die Beteiligten jeweils 1/3.

Die außergerichtlichen Kosten des Klägers tragen der Beklagte und die Beigeladene zu je 1/3.

Die außergerichtlichen Kosten des Beklagten und der Beigeladenen trägt der Kläger zu je 1/3.

Im Übrigen tragen die Beteiligten ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Zustimmung des Beklagten zu einer außerordentlichen verhaltensbedingten Kündigung der Beigeladenen durch die Klägerin.

Für die am ... geborene Beigeladene wurde mit Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales, ..., Versorgungsamt vom 29.05.2009 ab dem 16.01.2009 ein Grad der Behinderung von 50 festgestellt. Sie war am 01.09.1986 als Mitarbeiterin ( ...) bei der Klägerin eingestellt worden und ist seit dem 13.08.2013 ... der Klägerin beschäftigt. Ihre Amtszeit als Vertrauensperson für schwerbehinderte Menschen ....

Mit Schreiben vom 05.10.2015 beantragte die Klägerin beim Beklagten die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung der Beigeladenen wegen betrieblichen Fehlverhaltens. Die Klägerin gab dazu im Wesentlichen an:

Ab dem Jahr 2011 bis zur Antragstellung habe es immer wieder Auseinandersetzungen zwischen ihr und der Beigeladenen, aber auch mit anderen Mitarbeitern gegeben. Die Beigeladene habe in den einzelnen geschilderten Fällen den Betriebsfrieden empfindlich gestört und sei deshalb bereits mehrmals abgemahnt worden, was aber ohne Wirkung geblieben sei. Die Beigeladene habe gegenüber der Agentur für Arbeit insgesamt 11 Anzeigen wegen angeblicher Ordnungswidrigkeiten erstattet. Diese Verfahren seien teilweise eingestellt worden, teilweise seien Bußgeldbescheide erlassen worden, die teilweise nach einem Einspruch wieder aufgehoben worden seien. In fünf Fällen seien von der Beigeladenen falsche Angaben gemacht worden. Auch habe sie Weisungen des direkten Vorgesetzten nicht akzeptiert, so dass ihre Führbarkeit in Frage zu stellen sei. Weiterhin wurde darauf hingewiesen, dass beim Integrationsamt der Antrag von einem Viertel der bei der Klägerin beschäftigten schwerbehinderten Mitarbeiter anhängig sei, die Beigeladene aus ihrem Amt zu entlassen, weil sie bei der Führung der Geschäfte ihre Amtspflichten verletze, woraufhin eine erneute außerordentliche Kündigung ausgesprochen worden sei. Hinsichtlich der Einzelheiten des der Beigeladenen vorgeworfenen Verhaltens wird auf den Schriftsatz vom 05.10.2015 Bezug genommen.

Die Beigeladene, der Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung wurden mit Schreiben des Beklagten vom 05.10.2015 angehört.

Die Beigeladene trat den Vorwürfen im Einzelnen entgegen (Schreiben vom 09.10.2017). Ihren Angaben zufolge stellten sich die Umstände, die zu den Abmahnungen geführt hätten, anders dar. Vielmehr sei sie diskriminierend behandelt und ihre Behinderung nicht akzeptiert worden. So seien ihr sogar die Hilfsmittel, die vom Integrationsamt gefördert worden seien ( ...), wieder entzogen worden und im Möbellager gelandet. Die Vorfälle im Zusammenhang mit dem Amt der Vertrauensperson seien nicht durch sie als Mitarbeiterin, sondern im Rahmen ihrer Amtsaufgabe als Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen erfolgt. Es dränge sich die Frage auf, ob nicht vielmehr ihre Arbeit als Vertrauensperson auf dem Prüfstand stehe und nicht nur einer Mitarbeiterin gekündigt werden solle.

Der Betriebsrat stimmte der beabsichtigten Kündigung im seiner Sitzung am 08.10.2015 zu. Auf die ausführliche, ablehnende Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung (durch den Stellvertreter der Beigeladenen) im Schreiben vom 12.10.2015 zur beabsichtigten Kündigung der Beigeladenen wird Bezug genommen.

Mit Bescheid vom 19.10.2015 versagte der Beklagte die Zustimmung zur Kündigung im Wesentlichen mit der Begründung, es sei nicht auszuschließen, dass sie im Zusammenhang mit der Behinderung der Beigeladenen stehe. Eine Einschränkung des Ermessens nach § 91 Abs. 4 SGB IX sei somit nicht gegeben. Bei der Abwägung sei für die Beigeladene vorrangig zu berücksichtigen, dass man ihr Verhalten als auch ihrer Behinderung geschuldet zu bewerten habe. Weiterhin sei zu beachten gewesen, dass die der Kündigung zu Grunde gelegten Vorwürfe und Sachverhalte sämtlich aus der Amtsführung der Beigeladenen als Vertrauensperson der schwerbehinderten Mitarbeiter herrührten. Vor diesem Hintergrund erscheine die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung als eine Maßnahme, die noch nicht die Verhältnismäßigkeit erlange, die für eine Interessenabwägung zugunsten des Arbeitgebers notwendig gewesen wäre. Die Beigeladene habe nicht die Absicht gehabt, ihren Arbeitgeber zu schädigen und den Betriebsfrieden zu stören, sondern aus den Zwängen und Notwendigkeiten des Amtes als Vertrauensperson so gehandelt. Wenngleich für den Arbeitgeber zu werten sei, dass die im Antrag beschriebenen Vorfälle auch nach Auffassung des Integrationsamtes den betrieblichen Frieden gestört haben, so seien diese jedoch für eine derart einschneidende Maßnahme wie der außerordentlichen Kündigung nicht ausreichend, zumal ein Zusammenhang mit der Behinderung als auch dem Amt bestehe, durch die Kündigung aber die Person getroffen werde.

Mit Widerspruchsbescheid vom 25.04.2016 wies der Widerspruchsausschuss des Beklagten den gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch der Klägerin vom 19.11.2015 als unbegründet zurück.

Bei Abwägung der widerstreitenden Interessen hätten sich keine neuen Anhaltspunkte ergeben, dass die Entscheidung des Integrationsamtes zu korrigieren wäre. So sei die außerordentliche Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen nur bei rechtswidriger und schuldhafter Verletzung der vertraglichen Pflichten durch die Arbeitnehmerin gerechtfertigt oder wenn trotz Abmahnung fortgesetzt pflichtwidrig gehandelt werde. Bei den von der Beigeladenen erstatteten Ordnungswidrigkeitenanzeigen handele es sich aber nicht um eine solches Verhalten, sondern es sei das Recht der Schwerbehindertenvertretung nach dem SGB IX, gegen die aus ihrer Sicht bestehenden Missstände vorzugehen. Ein vorsätzliches Handeln und eine unrichtige Darstellung der Sachverhalte bei der Erstattung der Anzeige seien nach der Aktenlage nicht erwiesen. Die außerordentliche Kündigung sei unverhältnismäßig, weil die genannten Probleme vor allem in der Amtsführung der Schwerbehindertenvertretung zu sehen seien, deren Beendigung allerdings nicht beabsichtigt sei.

Dagegen hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 09.05.2016, eingegangen beim Verwaltungsgericht Bayreuth am 10.05.2016, Klage erhoben.


Sie beantragt,

Der Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales, ..., Integrationsamt vom 19.10.2015 und der Widerspruchsbescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales, Integrationsamt vom 25.04.2016 werden aufgehoben.

Der Beklagte wird verpflichtet,

der Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit der Beigeladenen Frau ... zuzustimmen.

Zur Begründung wird ausgeführt, die Ermessensentscheidung sei - ohne nähere Ermittlung des Sachverhalts - rechtsfehlerhaft getroffen worden. Ein Zusammenhang der ausgeführten Kündigungsgründe mit der Behinderung sei den von der Beigeladenen vorgelegten ärztlichen Attesten und dem teilgeschwärzten Feststellungsbescheid nicht zu entnehmen. Der einzige geltend gemachte Zusammenhang sei die Amtsausübung der Beigeladenen als Vertrauensfrau der schwerbehinderten Mitarbeiter. Diese Amtsführung stehe jedoch in keinem rechtlichen Zusammenhang mit ihrer Behinderung.


Der Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 20.09.2016,

die Klage abzuweisen.

Er nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf den Inhalt der Akten sowie auf die Begründung der Bescheide vom 19.10.2015 und 25.04.2016 Bezug. Selbst wenn ein Zusammenhang der Kündigung mit der Behinderung vom Gericht nicht gesehen werden sollte, stünde dem Beklagten ein Restermessen gemäß § 91 Abs. 4 SGB IX zu, dessen Ergebnis nach Abwägung der Interessen der Klägerin und der Beigeladenen für diese ausfalle. Die Kündigung beziehe sich nur auf Vorfälle, die im Zusammenhang mit dem Amt der Vertrauensperson für schwerbehinderte Menschen stünden, das aber besonders geschützt sei.


Die Beigeladene beantragt mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 31.05.2016,

die Klage abzuweisen.

Im Übrigen legte sie ihre Ansicht unter Verweis auf § 100 Abs. 2 VwGO und auf eine Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes vom 07.10.1993 (Az. 1 TJ 1705/93) hinsichtlich des Akteneinsichtsrechts dar.

Von der der Klägerin gewährten Einsicht in die Akten des Beklagten wurde auf Bitte der Beigeladenen der Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales, ..., Versorgungsamt vom 29.05.2009, der die einzelnen Gesundheitsstörungen benennt, die zur Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft führten, ausgenommen. Mit Schriftsatz vom 21.07.2016 legte die Beigeladene einen geschwärzten Auszug des Feststellungsbescheides vor, worin folgende festgestellte Schwerbehinderungen erkennbar sind:

"Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen, muskuläre Verspannungen, Bandscheibenschäden, Nervenwurzelreizerscheinungen, Funktionsbehinderung der Kreuz-Darmbeingelenke, ..., korrigierter Herzfehler".

Das Gericht hat mit Schreiben vom 12.07.2017 die Beteiligten darauf hingewiesen, dass eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid in Betracht gezogen werde und Gelegenheit zur Stellungnahme hierzu gegeben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird gemäß § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Über die Klage kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid, der als Urteil wirkt, entschieden werden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Halbsatz 1 VwGO). Die Beteiligten wurden gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid gehört.

1. Die zulässige Klage hat teilweise Erfolg (siehe unten Ziffer 1.1). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zustimmung zur Kündigung, sondern - mangels Spruchreife - nur einen Anspruch auf Neuverbescheidung (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO, siehe unten Ziffer 1.2).

1.1 Nach § 85 SGB IX bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes, bei der im Falle einer außerordentlichen Kündigung nach §§ 85, 91 Abs. 1 SGB IX grundsätzlich Ermessen durch das Integrationsamt und den Widerspruchsausschuss auszuüben ist. Erfolgt die außerordentliche Kündigung gem. § 91 Abs. 1, 4 SGB IX aus einem Grund, der nicht mit der Behinderung in Zusammenhang steht, soll die Zustimmung erteilt werden. In diesem Fall bedarf es einer Ausübung von Ermessen nur in atypischen Fällen. Liegt ein solcher Fall nicht vor, ist die Verwaltung gebunden und muss die Zustimmung erteilen. Zweck des Schwerbehindertenrechts ist es, die Nachteile schwerbehinderter Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt auszugleichen, nicht aber die Gewährung einer zusätzlichen Kontrolle der arbeitsrechtlichen Zulässigkeit einer Kündigung. Allerdings darf das Integrationsamt an einer arbeitsrechtlich offensichtlich unwirksamen Kündigung in dem Sinne, dass sie ohne jeden vernünftigen Zweifel in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht offen zutage liegt, sich jedem Kundigen also geradezu aufdrängt, nicht mitwirken.

Im Rahmen des § 91 Abs. 4 SGB IX genügt allerdings nicht jedweder Einfluss der Behinderung auf das Verhalten des schwerbehinderten Menschen, insbesondere nicht ein Zusammenhang im Sinne einer conditio sine qua non. Gemessen an der dem § 91 Abs. 4 SGB IX zugrunde liegenden gesetzgeberischen Wertung, den schwerbehinderten Menschen vor einer nichtbehinderungsbedingten außerordentlichen Kündigung nicht stärker zu schützen als nichtbehinderte Menschen, ist der Begriff des Zusammenhangs zwischen der Behinderung und dem Kündigungsgrund im Sinne des § 91 Abs. 4 SGB IX im Lichte der Zielsetzungen des Fürsorgeprinzips auszulegen. Die Auslegung hat zum einen dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der öffentlich-rechtliche Sonderkündigungsschutz gerade im Bereich der außerordentlichen Kündigung nicht dazu bestimmt ist, den schwerbehinderten Menschen zu bevorzugen, sondern allein auf den Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile gerichtet ist. Zum anderen muss der unmittelbare Zusammenhang bei natürlicher Betrachtungsweise gegeben sein. Im Falle von durch die Behinderung begründeten Defiziten in der Einsichtsfähigkeit oder Verhaltenssteuerung muss das einer Kündigung aus wichtigem Grund zugrunde liegende Verhalten des schwerbehinderten Arbeitnehmers nachvollziehbar gerade auf diese behinderungsbedingten Defizite zurückzuführen sein, ohne dass für seine Herleitung etwa auf Mutmaßungen zurückgegriffen werden darf. Maßgeblich ist, ob sich das Verhalten des schwerbehinderten Menschen zwanglos aus der Behinderung ergibt und der Zusammenhang nicht nur ein entfernter ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2012 - 5 C 16/11 -, BVerwGE 143, 325-335, Rn. 27).

Eine Ermessensentscheidung des Integrationsamtes unterliegt gemäß § 114 VwGO nur eingeschränkter gerichtlicher Kontrolle. Das Gericht prüft lediglich, ob die Behörde überhaupt Ermessen ausgeübt hat, sie bei der Ermessensausübung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens über- oder unterschritten hat und sie von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Dabei ist zu überprüfen, ob in die Ermessenserwägungen alles eingestellt wurde, was nach Lage der Dinge einzustellen war. Ermessensfehlerhaft ist es, wenn von einem nicht zutreffenden Sachverhalt ausgegangen wurde (vgl. BayVGH, Beschluss vom 01.09.2008, Az.: 12 ZB 08.1324). Das Integrationsamt hat bei seiner Ermessensentscheidung von Amts wegen all das zu ermitteln, was erforderlich ist, um die gegensätzlichen Interessen des Arbeitgebers und des schwerbehinderten Arbeitnehmers abwägen zu können. Diese durch § 20 SGB X auferlegte Aufklärungspflicht gewinnt ihre Konturen und Reichweite aus dem materiellen Recht. Soweit ein Umstand materiell-rechtlich für die gebotene Interessenabwägung (vgl. o.) Bedeutung hat, ist er aufzuklären.

1.1.1 Nach diesen Maßstäben erweist sich die vom Beklagten getroffene Entscheidung als rechtsfehlerhaft.

a. Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten unterliegt zwar in verfahrensrechtlicher Hinsicht keinen durchgreifenden Bedenken. So hat das Integrationsamt die Beigeladene vor der Entscheidung über die Zustimmung gehört und die Stellungnahmen des Betriebsrates und der Schwerbehindertenvertretung eingeholt (§ 91 Abs. 1 i.V.m. § 87 Abs. 2 SGB IX).

Die Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 84 SGB IX ist keine Tatbestandsvoraussetzung für die Entscheidung des Integrationsamtes (vgl. BVerwG vom 29.08.2007 NJW 2008, 166).

b. Die Versagung der Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des mit der Beigeladenen bestehenden Arbeitsverhältnisses erweist sich jedoch als materiell rechtswidrig.

Sie ist ermessensfehlerhaft, weil die Ermessensentscheidung auf einem unzureichend ermittelten und damit unvollständigen Sachverhalt beruht und dieses Aufklärungsdefizit auch gerade den kündigungsrelevanten Sachverhalt betrifft. Das Aufklärungsdefizit ergibt sich im Hinblick auf die Beeinträchtigungen, die der Schwerbehinderung der Beigeladenen zugrunde liegen.

Wird die Kündigung - wie vorliegend - auf ein (angebliches) Fehlverhalten gestützt, das nach Auffassung des Beklagten seine Ursache zumindest auch in der Behinderung selbst hat, und das im Rahmen der Ermessensbetätigung daher gerade im Hinblick auf die nach obigen Grundsätzen hohen Anforderungen an die Schwere der Pflichtverletzung einerseits und die Zumutbarkeitsgrenze des Arbeitgebers andererseits zu gewichten ist, muss der Beklagte, um eine sachgerechte Beurteilung des Fehlverhaltens vornehmen zu können, den Zusammenhang zwischen der Behinderung und dem konkreten Fehlverhalten näher aufklären. Dem Verwaltungsvorgang ist aber nicht zu entnehmen, dass er, obwohl er selbst von einem Zusammenhang zwischen der Behinderung der Beigeladenen und dem ihr vorgeworfenen Verhalten i.S.v § 91 Absatz 4 SGB IX ausgeht, zumindest im Widerspruchsverfahren eigene Ermittlungen vorgenommen hat, um die Schwere der bei der Beigeladenen festgestellten Beeinträchtigungen einerseits und ihre eventuellen Auswirkungen auf ihr Verhalten und Handlungen andererseits näher aufzuklären. Ausweislich des vorgelegten Verwaltungsvorgangs lag ausschließlich der Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales, ..., Versorgungsamt vom 29.05.2009 über die Anerkennung eines Grades der Schwerbehinderung von 50 vor. Weitere Ermittlungen hat der Beklagte nicht durchgeführt; insbesondere hat er weder die Beigeladene zur Vorlage ärztlicher Unterlagen aufgefordert, noch die Unterlagen des Versorgungsamtes, die der Feststellung der Schwerbehinderung zugrunde lagen, beigezogen. Angesichts der geltend gemachten, verhaltensbedingten Kündigungsgründe hätten diese Akten aber beigezogen werden müssen.

Es ist deshalb nicht ersichtlich oder nachvollziehbar, wie sich ein Zusammenhang der Behinderung im Hinblick auf das der Beigeladenen konkret vorgeworfene Fehlverhalten darstellt.

1.1.2 Soweit der Beklagte die Auffassung vertritt, im Rahmen des § 91 Abs. 4 SGB IX sei ein Zusammenhang zwischen Kündigungsgrund und Behinderung auch dann gegeben, wenn es darum gehe, die Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen (vgl. § 94 SGB IX) im Hinblick auf deren (als hinderlich empfundene) Funktionsausübung zu kündigen, so ist dieser Rechtsauffassung nicht zu folgen. Die Berücksichtigung dieses Sachverhalts im streitgegenständlichen Bescheid überschreitet die gesetzlichen Grenzen des Ermessens. Der Sonderkündigungsschutz des § 91 Abs. 4 SGB IX dient der Schwerbehindertenfürsorge und arbeits- und rehabilitationspolitischen Zwecksetzungen, Schwerbehinderte in möglichst großem Umfang in das Arbeits- und Berufsleben einzugliedern und damit ihre Nachteile auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszugleichen. Er soll den Schwerbehinderten vor den Gefahren, denen er wegen seiner Behinderung auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt ist, bewahren und sicherstellen, dass er gegenüber den gesunden Arbeitnehmern nicht ins Hintertreffen gerät. Es geht also lediglich darum, behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen (vgl. BVerwG, Urteil vom 2.07.1992, Az. 5 C 39/90, BVerwGE 90, 275). Diesem Gesetzeszweck unterfällt jedoch der von der Beigeladenen beanspruchte Schutz im Zusammenhang mit ihrer Funktion als Vertrauensperson für schwerbehinderte Menschen gerade nicht. Zunächst können diese Funktion nicht nur Schwerbehinderte übernehmen (vgl. § 94 Abs. 3 SGB IX), weshalb die Auffassung der Beigeladenen dazu führen würde, dass auch nicht schwerbehinderte Vertrauenspersonen den besonderen Kündigungsschutz des § 91 Abs. 4 SGB IX beanspruchen könnten. Es liegt auf der Hand, dass dies nicht der Fall sein kann und vom Gesetzgeber offensichtlich nicht gewollt ist. Darüber hinaus bestehen für die Vertrauenspersonen der schwerbehinderten Menschen nach § 96 Abs. 3 SGB IX besondere Kündigungsschutzrechte. Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Kündigung eines Mitglieds der Schwerbehindertenvertretung sind somit ausschließlich vor den Arbeitsgerichten zu klären.

1.1.3 Die genannten Ermessensfehler sind vorliegend auch nicht deshalb unbeachtlich, weil etwa eine atypische Fallgestaltung vorliegt, die als Ausnahme von der in § 91 Abs. 4 SGB IX vorgesehenen, regelmäßig gebundenen Entscheidung im Wege der freien Ermessensentscheidung trotz fehlenden Kausalzusammenhangs eine Versagung der Zustimmung ermöglichen würde. Denn einerseits ist dem Bescheid nicht zu entnehmen, dass überhaupt eine solche atypische Fallgestaltung angenommen wurde, und andererseits setzt auch eine Ermessensentscheidung gemäß § 85 SGB IX voraus, dass der Zusammenhang zwischen Kündigungsgrund und Behinderung gewichtet und abgewogen wird, weil der Schutz des schwerbehinderten Menschen umso geringer ist, je weniger ein solcher feststellbar ist. Andererseits ist auch die unternehmerische Gestaltungsfreiheit des Arbeitgebers mit dem ihr zukommenden Gewicht in die Abwägung einzustellen. Sinn und Zweck des SGB IX ist es insoweit nicht, eine zusätzliche, zweite Kontrolle der arbeitsrechtlichen Zulässigkeit der Kündigung zu schaffen.

Mangels Herausarbeitens des konkreten Zusammenhangs der Schwerbehinderung mit den Kündigungsgründen wäre auch eine solche Ermessensentscheidung nicht tragfähig.

1.1.4 Eine eventuell offensichtliche Unwirksamkeit der geplanten Kündigung ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass vor der Kündigung - wie die Beigeladene angibt - kein betriebliches Eingliederungsmanagement i. S. d. § 84 SGB IX durchgeführt worden ist. Die Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 84 SGB IX ist keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die Entscheidung des Integrationsamtes nach den §§ 85 ff. SGB IX (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29.08.2007 - 5 B 77.07 -, NJW 2008, 166). Auch ist in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes geklärt, dass § 84 Abs. 2 SGB IX die bloße Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips darstellt und ein unterlassenes betriebliches Eingliederungsmanagement einer (außerordentlichen) Kündigung dann nicht entgegensteht, wenn keine Möglichkeit einer alternativen Weiterbeschäftigung besteht (vgl. BAG, Urt. v. 23.04.2008 - 2 AZR 1012/06 -, NZA-RR 2008, 515). Insofern begründet auch das Unterlassen eines betrieblichen Eingliederungsmanagements jedenfalls keine evidente Rechtswidrigkeit der geplanten außerordentlichen Kündigung des Beigeladenen (Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22.06.2011, Az. 3 L 246/09, Rn. 37, juris).

Inwieweit das Fehlen eines Präventionsverfahrens im Rahmen der Interessenabwägung bei der Ermessensentscheidung zu Lasten des Arbeitgebers zu berücksichtigen ist, wenn bei gehöriger Durchführung eines solchen Verfahrens die Kündigung hätte vermieden werden können (vgl. BVerwG, Beschl. vom 19.08.2013, 5 B 47/13, juris Rn. 12), ist aus den oben ausgeführten Gründen nicht mehr entscheidungserheblich.

1.1.5 Ob ein wichtiger Grund im Sinne von § 626 BGB gegeben ist, unterliegt im Übrigen nicht der Entscheidungskompetenz des Integrationsamtes und des Verwaltungsgerichts und ist damit - abgesehen von dem hier nicht einschlägigen Fall der offensichtlichen arbeitsrechtlichen Unzulässigkeit der beabsichtigten Kündigung (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.07.1992 - 5 C 39/90 -, juris, Rn 30 m.w.N.) - für die dem Beklagten überantwortete Ermessensentscheidung gerade ohne Belang. Insbesondere stellt eine möglicherweise arbeitsrechtliche Unzulässigkeit der beabsichtigten Kündigung keine Rechtfertigung für die in Rede stehende Ablehnung der Zustimmung dar. Ob sie nach den insoweit maßgeblichen arbeitsrechtlichen Kriterien tatsächlich zulässig ist, obliegt allein der Entscheidung der Arbeitsgerichte.

1.2 Angesichts der noch durchzuführenden Sachverhaltsermittlung zur ordnungsgemäßen Ermessensausübung ist mangels Vorliegens der Spruchreife (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO) für die beantragte Verpflichtung des Beklagten, der außerordentlichen Kündigung zuzustimmen, kein Raum, so dass die Klage insoweit abzuweisen und gemäß § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO lediglich die Verpflichtung der Beklagten auszusprechen war, die Klägerin unter Beachtung der oben ausgeführten Rechtsauffassung des Gerichts neu zu verbescheiden.

1.3 Aus den oben genannten Gründen sind die Fragen, ob und gegebenen falls welche rechtlichen Folgen eine fehlende Information des Arbeitgebers über einzelne Erkrankungen des Arbeitnehmers im Verfahren zur Zustimmung zu einer beabsichtigten Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters hat, und inwieweit im verwaltungsgerichtlichen Verfahren eine Akteneinsicht beschränkt werden kann, jetzt nicht klärungsbedürftig.

2. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 154 Abs. 3 und 162 Abs. 3 VwGO.

Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 Satz 2 VwGO.

3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr.11, 711 ZPO.

Referenznummer:

R/R7943


Informationsstand: 01.02.2019