Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist begründet.
Das Zulassungsvorbringen führt zu den - sinngemäß - geltend gemachten ernstlichen Zweifeln
i.S.v. § 124
Abs. 2
Nr. 1
VwGO.
Die mit Bescheid des Integrationsamtes des Beklagten vom 15. Februar 2006 erteilte Zustimmung zu der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist zum 30. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Widerspruchsausschusses beim Integrationsamt des Beklagten vom 19. Januar 2007 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinem Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung (§§ 113
Abs. 1 Satz 1, 114
VwGO).
Das Ermessen des Integrationsamtes und des Widerspruchsausschusses bei der Entscheidung über die Erteilung der Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung war nicht nach
§ 91 Abs. 4 SGB IX gebunden. Gemäß § 91
Abs. 4
SGB IX soll das Integrationsamt die Zustimmung (zur außerordentlichen Kündigung) erteilen, wenn die Kündigung aus einem Grund erfolgt, der nicht im Zusammenhang mit der Behinderung steht; die Entscheidung, ob der Kündigungsgrund im Zusammenhang mit der Behinderung steht, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf der Grundlage des vom Arbeitgeber angegebenen, nur im arbeitsgerichtlichen Verfahren zu überprüfenden Kündigungsgrundes zu treffen.
Vgl.
BVerwG, Beschluss vom 18. September 1996
-
5 B 109/96 -, Buchholz 436.61 § 21
SchwbG Nr. 8; Urteil vom 2. Juli 1992 -
5 C 39.90 -, BVerwGE 90, 275
ff. jeweils zu der wortgleichen Vorgängerregelung des § 21
Abs. 4
SchwbG.
Besteht danach kein Zusammenhang zwischen dem Kündigungsgrund und der Behinderung, ist das freie Ermessen nach
§ 85 SGB IX durch
§ 91 Abs. 4 SGB IX dahingehend eingeschränkt, dass das Integrationsamt im Regelfall die Zustimmung zu erteilen hat. Nur bei Vorliegen von Umständen, die den Fall als atypisch erscheinen lassen, darf das Integrationsamt nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden.
Vgl.
BVerwG, Beschluss vom 18. September 1996
-
5 B 109/96 -, a.a.O.; Urteil vom 2. Juli 1992
-
5 C 39.90 -, a.a.O.
Im vorliegenden Fall hatte jedoch bereits das Integrationsamt des Beklagten ausweislich seiner Begründung vom 19. Juni 2006 zum Bescheid vom 15. Februar 2006 einen Zusammenhang zwischen dem der Kündigung zugrundeliegenden Verhalten des Klägers und seiner Behinderung als sachgerecht und vertretbar anerkannt:
"Über gesicherte Erkenntnisse zu der Frage, ob ein
evtl. tätlicher Angriff oder ein
evtl. Unfall im Zusammenhang mit den vom Versorgungsamt bei Herrn X. anerkannten Behinderung (Funktionseinschränkung beider Beine bei Nervenlähmung nach Hirnverletzung, hirnorganisches Anfallsleiden, Bewegungseinschränkung beider Hüftgelenke mit Beinverkürzung rechts, Schultergelenksverschleiß mit einem
GdB von 90 - Einfügung durch den Senat -) stehen, verfügt das Integrationsamt nicht. Unter Berücksichtigung der Art der bei Herrn X. anerkannten Behinderungen und der "Vorläufigen Stellungnahme" des Kreisgesundheitsamtes, Bezirksstelle D. -S. , vom 28.05.2003 hält es das Integrationsamt allerdings für sachgerecht und vertretbar, für seine Entscheidungen einen solchen Zusammenhang zugrundezulegen.
Der Zusammenhang kann erstens darin bestehen, dass Herr X. wegen seiner als Behinderungen anerkannten Funktionseinschränkung beider Beine
bzw. Bewegungseinschränkung beider Hüftgelenken mit Beinverkürzung rechts am 26.01.2006 tatsächlich in einer Vorwärtsbewegung ins Stolpern geriet und ungewollt gegen Herrn H. fiel. Er kann zweitens darin bestehen, dass sich aus der hirnorganischen Verletzung von Herrn X. , welche als Behinderung anerkannt wurde, eine sein Steuerungsverhalten beeinträchtigende psychische Störung entwickelte, die ihn zu einem Angriff auf Herrn H. veranlasste und drittens darin, dass es auf dem Boden des ebenfalls als Behinderung anerkannten hirnorganischen Anfallsleidens am 26.02.2006 (richtig wohl 26.01.2006 - Einfügung durch den Senat - ) zu einem mit einer kurzzeitigen Bewusstseinsstörung und einem kurzzeitigen Verlust der Haltungskontrolle einhergehenden komplexen fokalen Anfall bei Herrn X. kam, in dessen Verlauf er ungewollt gegen Herrn H. fiel."
Auch der Widerspruchsausschuss beim Integrationsamt des Beklagten hat einen Zusammenhang zwischen dem der Kündigung zugrundeliegenden Verhalten des Klägers und seinen Behinderungen angenommen:
"Im vorliegenden Fall geht der Widerspruchsausschuss zugunsten Herrn X. davon aus, dass ein Zusammenhang zwischen dem Kündigungsgrund, nämlich dem tätlichen Angriff des Herrn X. auf Herrn H. , und den Behinderungen besteht. Berücksichtigt hat der Widerspruchsausschuss dabei, dass Herr X. bei einem Verkehrsunfall eine schwere Kopfverletzung erlitten hatte und dadurch schwerbehindert wurde. Es liegt nahe, und kann nach Ansicht des Widerspruchsausschusses auch ohne zusätzliche ärztliche Feststellungen unterstellt werden, dass die von der Amtsärztin des Kreises Recklinghausen bei Herrn X. festgestellten Einschränkungen im geistig-seelischen Bereich auf diese Kopfverletzungen zurückzuführen sind. Der Widerspruchsausschuss nimmt daher an, dass Herr X. sein Verhalten infolge seiner anerkannten Schwerbehinderung nicht steuern konnte oder zumindest eine behinderungsbedingte Einschränkung der Steuerungsfähigkeit vorlag."
Dieser Zusammenhang ist auch im weiteren Verfahren nicht in Frage gestellt worden.
Danach war die Ermessensbindung nach
§ 91 Abs. 4 SGB IX entfallen. Da sich insoweit aus § 91
Abs. 4
SGB IX nichts Abweichendes mehr ergab, galten kraft gesetzlicher Anordnung nach § 91
Abs. 1
SGB IX - mit Ausnahme des hier nicht interessierenden
§ 86 SGB IX - die Vorschriften des vierten Kapitels über den Kündigungsschutz (
§§ 85 bis
92 SGB IX) auch bei außerordentlicher Kündigung (ob mit oder ohne sozialer Auslauffrist). Außerhalb der Ermessensbindung nach § 91
Abs. 4
SGB IX war dementsprechend über die Erteilung der Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist im Rahmen der allgemeinen, nicht gebundenen Ermessensentscheidung nach § 85
SGB IX zu befinden.
Im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 85
SGB IX hat das Integrationsamt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anknüpfend an den Antrag des Arbeitgebers und von ihm ausgehend all das zu ermitteln und zu berücksichtigen, was erforderlich ist, um die gegensätzlichen Interessen des Arbeitgebers und des schwerbehinderten Arbeitnehmers gegeneinander abwägen zu können.
Vgl.
BVerwG, Urteil vom 19. Oktober 1995 -
5 C 24.93 -, BVerwGE 99, 336
ff.; Beschluss vom 6. Februar 1995 -
5 B 75.94 -, Buchholz 436.61 § 15
SchwbG Nr. 9; Urteil vom 2. Juli 1992 -
5 C 51.90 -, BVerwGE 90, 287
ff.; Beschluss vom 11. Juni 1992
-
5 B 16.92 -, Buchholz 436.61 § 15
SchwbG 1986
Nr. 5; Beschluss vom 18. Mai 1988 -
5 B 135.87 -, Buchholz 436.61 § 15
SchwbG 1986
Nr. 1; Beschluss vom 12. Juni 1978 - V B 97.77 -, Buchholz 436.6 § 14
SchwbG Nr. 9; Urteil vom 26. Oktober 1971 -
V C 78.70 -, BVerwGE 39, 36
ff.; Urteil vom 28. Februar 1968 -
V C 33.66 -, BVerwGE 29, 140
ff.; Urteil vom 28. November 1958 -
V C 32.56 -, BVerwGE 8, 46
ff., jeweils zu den Vorgängerregelungen des § 85
SGB IX.
Der Schwerbehindertenschutz gewinnt dabei an Gewicht, wenn - wovon hier sowohl das Integrationsamt als auch der Widerspruchsausschuss ausgegangen sind - die Kündigung des Arbeitsverhältnisses auf Gründe gestützt wird, die in der Behinderung selbst ihre Ursache haben, so dass an die im Rahmen der interessenabwägenden Ermessensentscheidung zu berücksichtigende Zumutbarkeitsgrenze für den Arbeitgeber besonders hohe Anforderung zu stellen sind, um auch den im Schwerbehindertenrecht zum Ausdruck gekommenen Schutzgedanken der Rehabilitation verwirklichen zu können.
Vgl.
BVerwG, Urteil vom 19. Oktober 1995
- 5 C 24.93 -, a.a.O.
m.w.N.Soweit danach ein behinderungsbedingter Umstand materiellrechtlich für die gebotene Interessenabwägung Bedeutung hat, unterliegt er der Aufklärungspflicht. Das Integrationsamt ist dabei nicht der Pflicht enthoben, sich von der Richtigkeit der für seine Entscheidung wesentlichen Behauptungen eine eigene Überzeugung zu verschaffen; gründet es seine Entscheidung auf unrichtige Behauptungen, dann begeht es einen Ermessensfehler. Die Aufklärungspflicht wird verletzt, wenn das Integrationsamt (oder der zuständige Widerspruchsausschuss) sich damit begnügt, das Vorbringen des Arbeitgebers, soweit es in der Interessenabwägung zu berücksichtigen ist, nur auf seine Schlüssigkeit zu überprüfen.
Vgl.
BVerwG, Urteil vom 19. Oktober 1995
- 5 C 24.93 -, a.a.O.; Beschluss vom 6. Februar 1995 -
5 B 75.94 -, a.a.O., jeweils zu der Vorgängerregelung des § 85
SGB IX.
Hiervon unberührt bleibt die vom Integrationsamt nicht zu prüfende arbeitsrechtliche
bzw. kündigungsschutzrechtliche Wirksamkeit der Kündigung.
Vgl.
BVerwG, Urteil vom 19. Oktober 1995
- 5 C 24.93 -, a.a.O.
Gemessen hieran erweist sich der Zustimmungsbescheid des Integrationsamtes des Beklagten vom 15. Februar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Widerspruchsausschusses beim Integrationsamt des Beklagten vom 19. Januar 2007 als ermessensfehlerhaft, weil die Ermessensentscheidung, die durch den Widerspruchsbescheid ihre der gerichtlichen Überprüfung unterliegende Gestalt erlangt hat, auf einem unzureichend ermittelten und damit unvollständigen Sachverhalt beruht und dieses Sachverhaltsdefizit gerade das entscheidende Geschehen vom 26. Januar 2006 betrifft.
Im vorliegenden Fall geht es - ausgehend von dem Antrag der Beigeladenen und unter Berücksichtigung der in der Kündigung vom 16. Februar 2006 genannten Gründe - um die Frage, ob der Kläger den Mitarbeiter H. der Beigeladenen am 26. Januar 2006 infolge der - zugestandenen - behinderungsbedingten psychischen (geistig-seelischen) Defizite in der Verhaltenssteuerung tätlich angegriffen hat und ob eine Wiederholung eines derartigen Vorfalls behinderungsbedingt nicht auszuschließen ist (
vgl. S. 7 a.E. des Widerspruchsbescheides: "latente Wiederholungsgefahr").
In das Abwägungsmaterial für die Ermessensentscheidung war also zwingend einzustellen, welche konkreten Auswirkungen die behinderungsbedingten psychischen Defizite auf die Verhaltenssteuerung des Klägers hatten, ob sie insbesondere ein solches Ausmaß erlangt hatten, dass der Kläger Mitarbeiter der Beigeladenen - ohne jeden Grund - plötzlich und unerwartet angreifen konnte. Nach der Sachverhaltsdarstellung des Arbeitgebers sollte am 26. Januar 2006 ein plötzlicher und unerwarteter tätlicher Angriff des Klägers erfolgt sein; weitere Vorfälle dieser Art sind nicht vorgetragen worden. Dem einzigen Vorfall dieser Art kam danach entscheidende Bedeutung für die Beurteilung der psychischen Steuerungsfähigkeit des Klägers zu. Da der Kläger jedoch sowohl im Verwaltungs- als auch im Widerspruchsverfahren einen tätlichen Angriff durchgehend bestritten und auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren lediglich zugestanden hatte, ins Straucheln geraten zu sein und Herrn H. am Kragen gefasst zu haben, um sich abzustützen, ist es unerlässlich gewesen, eine eigene Überzeugung von tatsächlichen Hergang zu gewinnen. Denn sollte die Sachverhaltsdarstellung des schwerbehinderten Klägers zutreffen, fehlte jeder Anhaltspunkt für eine psychisch bedingte Gefährlichkeit des Klägers, so dass der letztlich hierauf gegründeten Kündigungsabsicht der Boden entzogen gewesen wäre.
Weder das Integrationsamt noch der Widerspruchsausschuss haben sich jedoch eine eigene Überzeugung von dem Geschehensablauf verschafft. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, wonach auch der Beklagte davon ausgegangen sei, "dass es sich bei dem Angriff des Klägers auf Herrn G. nicht um einen Unfall gehandelt hat", findet keine Entsprechung in den maßgebenden Bescheiden des Integrationsamtes und des Widerspruchsausschusses.
Vgl. zum Nachschieben von Ermessenserwägungen etwa:
OVG NRW, Beschluss vom 21. Dezember 2007 -
12 A 2269/07 -, Juris,
m.w.N.Ausweislich der Begründung vom 19. Juni 2006 zum Zustimmungsbescheid vom 15. Februar 2006 hat das Integrationsamt - wie der Kläger im Zulassungsantrag ausgeführt hat - mangels "gesicherter Erkenntnisse" ausdrücklich offengelassen, was am 26. Januar 2006 geschehen ist ("
evtl. tätlicher Angriff oder ein
evtl. Unfall"). Auch der Widerspruchsausschuss hat bis zum Ablauf des Widerspruchsverfahrens - in Kenntnis des Urteils des Arbeitsgerichts I. vom 13. Juli 2006 - Ca -, das nach Beweiserhebung von einem tätlichen Angriff des Klägers und von seiner vollen Steuerungsfähigkeit ausgegangen ist - keine eigene Überzeugung dahingehend gebildet, dass der Kläger den Mitarbeiter H. tätlich angegriffen hat. Wie die Ausführungen auf Seite 6 der Begründung des Widerspruchsbescheides vielmehr belegen, hat der Widerspruchsausschuss lediglich eine offensichtliche Unbegründetheit der Kündigung verneint, im Übrigen jedoch keine Aussage dazu getroffen, ob er einen tätlichen Angriff für gegeben erachtet oder nicht:
"Nicht zu prüfen im Rahmen des besonderen Kündigungsschutzes nach dem
SGB IX ist, ob wichtige Gründe für eine außerordentliche Kündigung im Sinne des § 626
BGB vorliegen.... Etwas anderes könnte sich nur ergeben, wenn sie vom Arbeitgeber herangezogenen Gründe eine außerordentliche Kündigung offensichtlich nicht rechtfertigen könnten, weil die Behörde nicht sehenden Auges die örtliche Zustimmung zu einer Kündigung erteilen darf, die offensichtlich rechtswidrig sein wird. ... Dies trifft aber auf den vorliegenden Fall nicht zu. Kündigungsgrund ist hier der Angriff des Herrn X. auf den Personalratsvorsitzenden, Herrn H. . Der Widerspruchsausschuss kann nicht davon ausgehen, dass die Stadt Waltrop offensichtlich (Hervorhebung durch den Senat) einen nichtigen Anlass zur Begründung der außerordentlichen Kündigung herangezogen hat. Zwar bestreitet Herr X. einen Angriff auf Herrn H. , sondern gibt an, er sei vielmehr infolge seiner Gehbehinderung auf Herrn H. gefallen und habe diesen dabei unglücklich durch die Türscheibe gedrückt. Der Widerspruchsausschuss kann aber der Einlassung des Herrn X. nicht insoweit (Hervorhebung durch den Senat) folgen, dass es sich offensichtlich (Hervorhebung durch den Senat) lediglich um einen Unfall gehandelt habe.
Dagegen spricht der schriftliche Vermerk des Herrn H. vom 30.01.2006, in dem dieser schildert, dass Herr X. ihn mit beiden Händen am Hemdkragen gefasst habe, was für einen direkten Angriff spricht. Darüber hinaus schließt Herr H. ein Stolpern oder Fallen des Herrn X. aus. Aufgrund dieser schriftlichen Aussage des Herrn H. kann der Widerspruchsausschuss nicht von einer offensichtlichen (Hervorhebung durch den Senat) Unbegründetheit der außerordentlichen Kündigung ausgehen, denn zum einen spricht nichts für eine Falschaussage des Herr H. und zum anderen können schwere Tätlichkeiten gegen andere Mitarbeiter während der Arbeitszeit nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts als wichtiger Grund im Sinne des § 626
BGB angesehen werden. ..."
Der Widerspruchsbescheid ist danach letztlich auf der Grundlage des von der Beigeladenen als Arbeitgeberin vorgetragenen, vom Kläger jedoch bestrittenen Kündigungsgrundes erlassen worden.