1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 14.07.2011 - 8 Ca 8591/10 - wird zurückgewiesen.
2. Auf die Anschlussberufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 14.07.2011 - 8 Ca 8591/10 - teilweise abgeändert und die Beklagte verurteilt, den Kläger zu den bisherigen Arbeitsbedingungen als Facharbeiter in der Abteilung Fahrzeug-/ Transportservice weiterzubeschäftigen.
3. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Kündigung sowie über die Weiterbeschäftigung des Klägers.
Die Beklagte beschäftigt weit mehr als 10 Arbeitnehmer, im Betrieb ist ein Betriebsrat gewählt. Der Kläger ist seit 1978 bei der Beklagten zuletzt als Facharbeiter im Fahrzeug-/Transportservice beschäftigt. Der Kläger ist 1957 geboren, ledig und im Kündigungszeitpunkt mit einem Grad von 40 behindert und einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Seit Mai 2011 ist er mit einem Grad von 50 anerkannt. Sein letzter monatlicher Bruttoverdienst betrug 2.771,51
EUR. Der Kläger ist aufgrund der im Arbeitsverhältnis geltenden Tarifregelungen ordentlich unkündbar.
Im Jahr 2009 kam der Kläger mehrfachen Aufforderungen der Beklagten zu Personalgesprächen aus Anlass häufiger Arbeitsunfähigkeiten über eine Wiedereingliederung nach langandauernder Arbeitsunfähigkeit nicht nach. Die Beklagte mahnte dieses Verhalten am 23.07.2009, am 04.08.2009 sowie am 10.08.2009 ab. Am 19.08.2009 kam ein sogenanntes BEM-Gespräch unter Hinzuziehung des Werksarztes zustande. Am 12.10.2009 erteilte die Beklagte dem Kläger im Zusammenhang mit einer Arbeitsunfähigkeit drei weitere Abmahnungen. Sie warf dem Kläger vor, er habe sich weisungswidrig nicht bei seinem Vorgesetzten, sondern einem Arbeitskollegen krankgemeldet, habe die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung verspätet eingereicht und sich zudem während der Arbeitsunfähigkeit genesungswidrig verhalten.
Am 13. und 14.09.2010 erschien der Kläger nicht zur Arbeit. Am 14.09.2010 fuhren der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende und ein weiteres Betriebsratsmitglied zum Wohnhaus des Klägers, dessen Fahrzeug vor dem Haus stand. Trotz Klingeln wurde ihnen nicht geöffnet. Mittags fuhr der Vorgesetzte des Klägers zu dessen Wohnung. Nachdem der Kläger weder öffnete, noch auf einen Telefonanruf reagierte, verständigte der Vorgesetzte die Polizei. Diese verschaffte sich anschließend Zutritt zu der Wohnung und fand den Kläger dort vor.
Am Folgetag, dem 15.09.2010 erschien der Kläger erneut nicht zu Schichtbeginn. Er meldete sich zwei Stunden später um 8 Uhr telefonisch bei seinem Vorgesetzten und bat, darum ihm Urlaub zu gewähren. Der Vorgesetzte lehnte dies ab und stellte den Kläger stattdessen bis auf weiteres unter Fortzahlung der Vergütung frei.
Am 17.09.2010 führte der Personalleiter unter Beteiligung zweier Führungskräfte, des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden sowie des Schwerbehindertenvertreters mit dem Kläger ein Disziplinargespräch. Der Kläger erklärte, er habe am Samstag, den 11.09.2010 nach einem Streit mit seiner damaligen Lebensgefährtin einen Suizidversuch unternommen und danach nichts mehr mitbekommen, bis am Dienstag die Polizei bei ihm zu Hause gewesen sei.
In der Zeit vom 18.09. bis 09.11.2010 unterzog sich der Kläger einer freiwilligen stationären Behandlung in der
LVR-Klinik in D.
Mit Schreiben vom 17.09.2010 hörte die Beklagte sowohl die Schwerbehindertenvertretung als auch den Betriebsrat zu einer beabsichtigten außerordentlichen fristlosen sowie hilfsweise mit sozialer Auslauffrist zum 30.06.2011 auszusprechenden Kündigung des Klägers an. Beide nahmen am 17.09.2011 abschließend Stellung, ohne der Kündigung zu widersprechen. Am 22.09.2010 beantragte die Beklagte die Zustimmung des Integrationsamts zu den beiden beabsichtigten Kündigungen. Mit Schreiben vom 07.10.2010 bestätigte das Integrationsamt den Eintritt der Fiktion des
§ 91 SGB IX.
Daraufhin kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers mit Schreiben vom 07.10.2010 fristlos, hilfsweise unter Einhaltung einer Auslauffrist bis zum 30.06.2011. Gegen die Wirksamkeit dieser Kündigung wendet sich der Kläger im vorliegenden Rechtsstreit. Wegen des weiteren erstinstanzlichen streitigen und unstreitigen Vorbringens sowie der erstinstanzlichen gestellten Anträge wird gemäß § 69
Abs. 2
ArbGG auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Mit diesem Urteil hat das Arbeitsgericht der Klage hinsichtlich des Feststellungsbegehrens des Klägers stattgegeben und festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die außerordentliche fristlose, noch durch die hilfsweise erklärte außerordentliche Kündigung vom 07.10.2010 mit sozialer Auslauffrist zum 30.06.2011 aufgelöst worden ist. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der als Kündigungsgrund herangezogene Vertragsverstoß des Klägers habe nicht als schuldhaft begangene Vertragsverletzung erkannt werden können. Denn die Beklagte habe die Einlassungen des Klägers zur Entschuldigung seines Fehlverhaltens nicht widerlegen können. Den weitergehenden Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers hat das Arbeitsgericht demgegenüber mit der Begründung abgewiesen, ein Beschäftigungsanspruch bestehe nur im ungekündigten Arbeitsverhältnis. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (Bl. 76
ff. d. A.) Bezug genommen.
Gegen dieses ihr am 02.09.2011 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 23.09.2011 Berufung eingelegt und hat diese nach entsprechender Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist am 02.12.2011 begründet.
Die Beklagte hält sowohl die außerordentliche fristlose, als auch die hilfsweise mit Auslauffrist erklärte Kündigung für rechtswirksam und meint, das unentschuldigte Fehlen des Klägers am 13., 14. und 15.09.2010 stelle einen wichtigen Grund im Sinne von § 626
Abs. 1
BGB dar. Dieses Fehlverhalten sei dem Kläger auch vorwerfbar, da er während dieser Zeit nicht arbeitsunfähig gewesen sei. Soweit sich der Kläger darauf berufe, in erheblichem Umfang Medikamente und Alkohol zu sich genommen zu haben, sei dies unsubstantiiert und widersprüchlich. Aufgrund ihrer Pauschalität seien die Angaben des Klägers völlig unglaubhaft. Vielmehr hätte der Kläger genau angeben müssen, welche Tabletten er in welcher Menge konsumiert haben will. Dies gelte umso mehr, als nach dem vom Kläger selbst vorgelegten ärztlichen Attest die depressive Symptomatik bereits seit mehreren Monaten bestanden habe. Schließlich werde die fehlende Arbeitsunfähigkeit durch das "normale" Verhalten des Klägers am 15.09.2010 bestätigt, einen Urlaubsantrag zu stellen.
Die Beklagte meint weiter, dass selbst bei einer unterstellten Arbeitsunfähigkeit des Klägers die Kündigung jedenfalls wegen des Verstoßes gegen § 5
Abs. 1 EFZG begründet sei. Es sei nicht erkennbar, warum der Kläger nicht in der Lage gewesen sein solle, sich durch einen kurzen Telefonanruf bei der Beklagten arbeitsunfähig zu melden. Das gelte insbesondere für den 14.09.2010, nachdem der Kläger mit den Polizeibeamten gesprochen habe sowie für den Morgen des 15.09.2010 zum Schichtbeginn.
Schließlich sieht die Beklagte nicht zuletzt wegen der zahlreichen Er- und Abmahnungen des Klägers in der Vergangenheit ein überwiegendes arbeitgeberseitiges Interesse an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 14.07.2011- 8 Ca 8591/10 - insoweit abzuändern, wie es festgestellt hat, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die außerordentliche fristlose Kündigung vom 07.10.2011 noch durch die hilfsweise erklärte außerordentliche Kündigung vom 07.10.2011 mit sozialer Auslauffrist zum 30.06.2011 aufgelöst worden ist, und die Klage abzuweisen,
die Anschlussberufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 14.07.2011 - 8 Ca 8591/10 - zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen,
im Wege der Anschlussberufung der Klage auch insoweit stattzugeben, als die Beklagte zu verurteilen ist, den Kläger zu den bisherigen Arbeitsbedingungen als Facharbeiter in der Abteilung Fahrzeug-/Transportservice weiter zu beschäftigen.
Der Kläger tritt der arbeitsgerichtlichen Entscheidung bei soweit der Klage stattgegeben worden ist und nimmt im Übrigen Bezug auf seinen erstinstanzlichen Vortrag. Sein Weiterbeschäftigungsbegehren hält er unter Bezugnahme auf die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts im Anschluss an die Entscheidung des Großen Senats vom 27.02.1985 für begründet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.
I. Die Berufung der Beklagten ist zulässig, weil sie statthaft (§ 64
Abs. 1 und 2
ArbGG) sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden ist (§ 66
Abs. 1, 64
Abs. 6 Satz 1
ArbGG, 519, 520
ZPO). Das Gleiche gilt für die Anschlussberufung des Klägers (§§ 64
Abs. 6 Satz 1
ArbGG, 524
ZPO).
II. Das Rechtsmittel der Beklagten hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben und die Unwirksamkeit sowohl der außerordentlichen fristlosen als auch der hilfsweise mit Auslauffrist erklärten Kündigung vom 07.10.2010 festgestellt. Demgegenüber ist die Anschlussberufung des Klägers begründet. Die Beklagte ist zur Weiterbeschäftigung des Klägers bis zum rechtskräftigen Abschluss des vorliegenden Rechtsstreits verpflichtet.
1. Die Kündigung vom 07.10.2010 ist als außerordentliche fristlose Kündigung rechtsunwirksam. Die Voraussetzungen des § 626
Abs. 1
BGB sind nicht erfüllt.
a) Gemäß § 626
Abs. 1
BGB kann ein Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dabei ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine zweistufige Prüfung durchzuführen. Zunächst ist zu prüfen, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalls an sich geeignet ist, einen Kündigungsgrund zu bilden. Liegt ein solcher Sachverhalt vor, bedarf es der weiteren Prüfung, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile zumutbar ist oder nicht (
vgl. beispielsweise
BAG, Urteil vom 28.08.2008 - 2 AZR 15/07 -, EzA § 626
BGB 2002
Nr. 22;
BAG, Urteil vom 10.06.2010 - 2 AZR 541/09 -, EzA § 626
BGB 2002
Nr. 32;
BAG, Urteil vom 09.06.2011 - 2 AZR 381/10 -, NZA 2011, 1027 jeweils mit weiteren Nachw.).
b) Ausgehend von diesen Grundsätzen ist auf der ersten Prüfungsstufe von einem Grund zur außerordentlichen Kündigung auszugehen. Der Kläger hat am 13. und 14.09.2010 unentschuldigt gefehlt und hat am darauffolgenden 15.09.2010 verspätet eine Arbeitsunfähigkeit angezeigt. Hierin kann grundsätzlich eine beharrliche Arbeitsverweigerung gesehen werden, die einen an sich zur Kündigung berechtigenden Grund darstellt (
vgl. nur APS/Dörner/Vossen, Kündigungsrecht, 4. Aufl., § 626
BGB Rz. 209
ff. mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen).
c) Nimmt man sodann auf der zweiten Prüfungsstufe mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine konkrete Würdigung sämtlicher relevanter Einzelfallumstände vor, erweist sich der seitens der Beklagten vorgebrachte Kündigungssachverhalt in mehrfacher Hinsicht nicht als tragfähig.
Zum einen folgt die erkennende Berufungskammer der ausführlichen Begründung des angefochtenen Urteils hinsichtlich der fehlenden Darlegung und des fehlenden Nachweises eines schuldhaften Fehlverhaltens des Klägers. Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten hat sich der Kläger hinreichend substantiiert zu dem Kündigungssachverhalt eingelassen und sein Fernbleiben vom Arbeitsplatz mit dem von ihm behaupteten Suizidversuch erklärt. Sein fehlendes Erinnerungsvermögen kann dem Kläger dabei nicht zum Nachteil gereichen. Nicht zuletzt im Hinblick auf den unmittelbar anschließenden, längeren freiwilligen Klinikaufenthalt des Klägers erscheinen dessen Schilderungen durchaus nachvollziehbar. Diese Einlassungen des Klägers hat die Beklagte nicht zu entkräften vermocht. Ihre Behauptung einer bestehenden Arbeitsfähigkeit des Klägers erfolgt demgegenüber offensichtlich ins Blaue.
Zum anderen wäre selbst bei Außerachtlassung des Suizidversuchs und bei unterstelltem schuldhaften Verhalten des Klägers die außerordentliche Kündigung unter Würdigung der sonstigen Einzelfallumstände unverhältnismäßig. Betrachtet man die widerstreitenden Interessen, so spricht neben dem Vertragsverstoß des Klägers als solchem für das Beendigungsinteresse der Beklagten allein die Unzuverlässigkeit des Klägers, die sich in mehreren Abmahnungen aus dem Jahr 2009 dokumentiert. Dem steht zunächst die erhebliche Vertragsdauer des Arbeitsverhältnisses gegenüber. Der Kläger ist im Zeitpunkt der Kündigung nahezu 32 Jahre bei der Beklagten beschäftigt. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Beklagte wegen des Fehlens des Klägers keine Betriebsablaufstörungen behauptet. Schließlich kommt hinzu, dass der Kläger als schwerbehinderter Mensch besonders schutzwürdig ist. Berücksichtigt man all dies, kann das letztlich ohne konkrete betriebliche Auswirkungen gebliebene Fehlen des Klägers an zwei Tagen und ein sodann verspätet erfolgter Urlaubsantrag keine sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses begründen.
Daran ändert auch der Umstand, dass der Kläger besonderen tariflichen Kündigungsschutz genießt nichts. Denn auch bei einer tariflich ausgeschlossenen ordentlichen Kündigung ist allein entscheidend, ob dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der "fiktiv" für den gekündigten Arbeitnehmer anzunehmenden Kündigungsfrist zugemutet werden könnte (
BAG, Urteil vom 27.04.2006 -
2 ZR 386/05 -, EZA § 626
BGB 2002 Unkündbarkeit
Nr. 1). Das ist hier - wie oben ausgeführt - der Fall.
2. Auch die hilfsweise erklärte außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist zum 30.06.2011 ist rechtsunwirksam.
a) Die Wirksamkeit dieser Kündigung scheitert bereits an der fehlenden vorherigen Zustimmung des Integrationsamts, die gemäß
§§ 85 SGB IX, 134
BGB die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge hat. Gemäß § 85
SGB IX bedarf jede Kündigung eines schwerbehinderten Menschen der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts.
aa) Der Kläger war im Zeitpunkt der Kündigung unstreitig mit einem Grad der Behinderung von 40 schwerbehindert und gemäß
68 SGB IX einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt.
bb) Die Beklagte beruft sich bezüglich des Zustimmungserfordernisses im Sinne von § 85
SGB IX auf die Fiktionswirkung des
§ 91 Abs. 3 SGB IX. Nach dieser Vorschrift gilt bei einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung die Zustimmung des Integrationsamts als erteilt, wenn dieses nicht innerhalb von zwei Wochen nach Antragseingang eine Entscheidung getroffen hat. Letzteres ist hier unstreitig der Fall.
Gleichwohl greift die Fiktionswirkung vorliegend nicht ein, denn § 91
Abs. 3 Satz 2
SGB IX ist nur auf außerordentliche fristlose, nicht jedoch auf außerordentliche Kündigungen mit Auslauffrist anwendbar. Das folgt aus Sinn und Zweck der Vorschrift und den sich bei einer umfassenden Anwendung ergebenden Wertungswidersprüchen im Hinblick auf die Bedeutung des besonderen tariflichen Kündigungsschutzes. Durch den Ausschluss der ordentlichen Kündigung soll der Bestand des Arbeitsverhältnisses solcher Arbeitnehmer, die die tariflichen Voraussetzungen erfüllen (regelmäßig Lebensalter und/oder Dauer des Arbeitsverhältnisses), weitergehend gesichert werden als dies durch den gesetzlichen Kündigungsschutz im Sinne des
KSchG der Fall ist. Das muss auch bei einem schwerbehinderten Menschen gelten. Durch den zusätzlichen Bestandsschutz der §§ 85
ff. SGB IX darf der für alle Arbeitnehmer geltende besondere tarifliche Kündigungsschutz nicht entwertet werden.
Nach den §§ 85
ff. SGB IX gilt die Fiktionswirkung des § 91
Abs. 3 Satz 2
SGB IX, die im Ergebnis den Ausspruch der Kündigung für den Arbeitgeber gegenüber dem zwingenden Zustimmungserfordernis des § 85
SGB IX bei der ordentlichen Kündigung erleichtert, ausschließlich bei einer außerordentlichen Kündigung. Bei tariflich besonders kündigungsgeschützten Arbeitnehmern tritt die außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist an die Stelle der ausgeschlossenen ordentlichen Kündigung. Sie kommt regelmäßig in den Fällen zum Tragen, in denen "eigentlich" nur ein Grund für eine ordentliche Kündigung vorliegt, dem Arbeitgeber aber gleichwohl eine dauerhafte Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden kann. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Betriebsschließung. In solchen Fällen besteht aber nach Sinn und Zweck des besonderen Bestandsschutzes nach §§ 85
ff. SGB IX kein Grund für eine zusätzliche Kündigungserleichterung dahingehend, dass für die ausnahmsweise anstelle der "eigentlich" nur berechtigten ordentlichen Kündigung getretene außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist auch die geringeren Erfordernisse des § 91
Abs. 3 Satz 2
SGB IX gelten sollten. Dementsprechend findet § 91
SGB IX auf außerordentlichen Kündigungen mit Auslauffrist normzweckbezogen nur insoweit Anwendung wie sie den außerordentlich gekündigten Arbeitnehmer gegenüber dem ordentlich Gekündigten nicht benachteiligt. Daher bleiben nur die den Arbeitgeber betreffenden Bestimmungen des § 91
Abs. 2 und 5
SGB IX anwendbar. § 91
Abs. 3 und 4
SGB IX gelten nicht und an ihre Stelle treten
§ 88 Abs. 1 und 5 SGB IX (jurisPK-SGB IX/Kreitner, § 91 Rz. 16; Griebeling in: Hauck/Noftz,
SGB IX, § 91 Rz. 4; Düwell in: LPK-SGBM IX, § 91 Rz. 11; Trenk-Hinterberger in: HK-SGB IX, § 91 Rz. 12; Lampe, Der Kündigungsschutz behinderter Arbeitnehmer Rz. 591). Hieran ändert vorliegend auch der Bescheid des
LVR vom 07.10.2010 nichts. Er geht in Anbetracht der geschilderten Rechtslage ins Leere.
b) Daneben scheitert die Wirksamkeit der Kündigung auch am Fehlen eines wichtigen Grundes im Sinne von § 626
Abs. 1
BGB. Die oben dargestellte Interessenabwägung gilt gleichermaßen auch für die außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist zum 30.06.2011. Auch insoweit überwiegt das Bestandsinteresse des Klägers deutlich.
3. Aufgrund der unwirksamen Kündigungen ist die Beklagte für die Dauer des Rechtsstreits zur Weiterbeschäftigung des Klägers verpflichtet. Entgegen der Rechtsprechung des Arbeitsgerichts folgt die Kammer insoweit der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (
vgl. BAG, Beschluss vom 27.02.1985 - GS 1/84 -, NZA 1985, 702).
III. Als insgesamt unterliegende Partei hat die Beklagte gemäß §§ 64
Abs. 6
ArbGG, 91
Abs. 1
ZPO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Die Revision war nicht nach § 72
Abs. 2
ArbGG zuzulassen. Insbesondere ging es nicht um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, da die entscheidungserheblichen Rechtsfragen höchstrichterlich geklärt sind und die Entscheidung im Übrigen auf den besonderen Umständen des Einzelfalls beruht.
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diese Entscheidung ist ein Rechtsmittel nicht gegeben.
Auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 72a
ArbGG wird hingewiesen.