Urteil
Wirksamkeit einer personenbedingten, ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses

Gericht:

LAG Niedersachsen 4. Kammer


Aktenzeichen:

4 Sa 205/22


Urteil vom:

05.09.2022


Tenor:

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 17. Februar 2022 - 8 Ca 363/21 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Rechtsweg:

ArbG Braunschweig, Urteil vom 17. Februar 2022 - 8 Ca 363/21

Quelle:

DGB Rechtsschutz GmbH

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer personenbedingten, ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses.

Der Kläger, geboren am 2. Dezember 1987, ledig und ohne Unterhaltspflichten, ist seit dem 1. September 2014 als Kommissionierer auf der Grundlage des Arbeitsvertrags vom 26. August 2014 zu einer Bruttomonatsvergütung von zuletzt 2.256,50 EUR bei der Beklagten beschäftigt.

Die Beklagte, ein Logistikdienstleister für die Automobilindustrie, beschäftigt mehr als 10 Arbeitnehmer.

Der Kläger wies in der Vergangenheit krankheitsbedingte Fehlzeiten mit Entgeltfortzahlungskosten wie folgt auf:

2015 - 14 Arbeitstage - 1.114,49EUR
2016 - 18 Arbeitstage - 1.677,54 EUR
2017 - 43 Arbeitstage - 3.672,20 EUR
2018 - 58 Arbeitstage - 5.918,99 EUR
2019 - 93 Arbeitstage - 5.394,85 EUR
2020 - 105 Arbeitstage - 10.893,45 EUR
2021 (bis Ende September) - 76 Arbeitstage - 4.461,13 EUR

Am 31. Juli 2017 wurde der Kläger erstmals zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement eingeladen. Er gab hierauf keine Rückmeldung. Die nächste Einladung zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement erfolgte mit Schreiben vom 12. März 2018, auf welche wiederum trotz Erinnerung vom 15. Mai 2018 keine Rückmeldung des Klägers erfolgte. Weitere erfolglose Einladungen erfolgten am 19. April 2021 und am 3. September 2021. Ob der Einladung vom 3. September 2021 das Informationsblatt zum betrieblichen Eingliederungsmanagement beigefügt war, ist zwischen den Parteien streitig. In dem zur Akte gereichten Informationsblatt zum Einladungsschreiben vom 3. September 2021 heißt es auszugsweise wie folgt:

"Informationsblatt zum betrieblichen Eingliederungsmanagement

...

7. Wie sieht es mit dem Schutz meiner persönlichen Daten aus?

Die zur Durchführung des Verfahrens erforderlichen personenbezogenen Daten werden nur mit der Einwilligung des Mitarbeiters erhoben, dokumentiert und verarbeitet. Eine Weitergabe an Dritte, wie Z.B. die Sicherheitsfachkraft, erfolgt nur mit der ausdrücklichen Zustimmung des Mitarbeiters. Die Zustimmung kann jederzeit widerrufen werden. Die Mitarbeiter des Betrieblichen Integrationsteams und alle weiteren einbezogenen Personen unterliegen der Schweigepflicht. Die Dokumentation des BEM wird getrennt von der Personalakte aufbewahrt. Zugang zu den Akten haben nur die Mitglieder des Integrationsteams."

In der als Seite 5 und 6 dem Informationsblatt beigefügten Rückantwort heißt es ua.:

"Ich bin über Inhalt und Zweck des betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) informiert worden. Zu diesem Zwecke wurde mir ein Informationsschreiben ausgehändigt.

Mir ist bekannt, dass für die erfolgreiche Durchführung eines BEM neben meinen Arbeitgeber und auch die Einbindung weiterer Personen und Institutionen erforderlich werden kann. Ich bin damit einverstanden, dass die am BEM beteiligten Personen und Institutionen im erforderlichen Umfang Informationen auch untereinander austauschen können.

Mir ist bekannt, dass ohne meine Einwilligung keine personenbezogenen Daten (z.B. Name, Geburtsdatum, Adresse, gesundheitliche Verhältnisse) oder sonstige Angaben, welche Rückschlüsse auf meine Person zulassen, an Dritte weitergeleitet werden.

..."

Mit Datum vom 28. September 2021 hörte die Beklagte den bei ihr bestehenden Betriebsrat zur beabsichtigten ordentlichen Kündigung aus personenbedingten Gründen an. Wegen des Inhalts des Anhörungsschreibens nebst Anlagen wird auf die Anlage 4 zum Schriftsatz der Beklagten vom 1. Dezember 2021 (Blatt 53 ff. der Akte) Bezug genommen. Der Betriebsrat nahm keine Stellung.

Mit Schreiben vom 11. Oktober 2021 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31. Dezember 2021. Gegen diese Kündigung richtet sich die Kündigungsschutzklage, die am 27. Oktober 2021 beim Arbeitsgericht einging.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe schon nicht substantiiert zu einer Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen vorgetragen. Die Kündigung scheitere jedenfalls an der Verhältnismäßigkeit, denn das Einladungsschreiben zum betrieblichen Eingliederungsmanagement enthalte keine entsprechende Belehrung über die Freiwilligkeit zur Datenerhebung und deren jederzeitigen Widerruf. Den Schluss darauf, dass er wegen Nichtbeantwortung des Einladungsschreibens nicht an der Durchführung eines solchen Verfahrens interessiert sei, könne die Beklagte nur dann ziehen, wenn es sich um ein ordnungsgemäß und wirksames Einladungsschreiben handele. Dies sei hier nicht der Fall.


Der Kläger hat zuletzt beantragt:

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 11. Oktober 2021 nicht beendet worden ist.


Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei aus personenbedingten Gründen sozial gerechtfertigt. Die Häufigkeit der Erkrankung des Klägers in der Vergangenheit indiziere, dass auch in Zukunft mit weiteren krankheitsbedingten Ausfallzeiten zu rechnen sei. Infolge der Fehlzeiten sei es zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen, insbesondere in Form einer wirtschaftlichen Belastung durch Lohnfortzahtungskosten, gekommen. Auch unter Berücksichtigung der 7-jährigen Betriebszugehörigkeit und des noch jungen Lebensalters des Klägers sei ihr eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über den Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist hinaus nicht zumutbar.

Mit Urteil vom 27. Januar 2022 hat das Arbeitsgericht der Kündigungsschutzklage stattgegeben, im Wesentlichen mit folgender Begründung: Die Kündigung vom 11. Oktober 2021 sei nicht durch Gründe, die in der Person des Klägers liegen, bedingt und daher sozial ungerechtfertigt. Zwar liege eine negative Gesundheitsprognose, die bei der Beklagten zu einer erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher Interessen geführt habe, vor. Die Kündigung sei aber unverhältnismäßig, weil die Beklagte zwar zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement eingeladen habe. Der Kläger sei aber über die Datenverwendung nicht ordnungsgemäß unterrichtet worden. Die nicht hinreichende Datenschutzunterrichtung sei geeignet, einen Arbeitnehmer von einer freiwilligen Teilnahme am betrieblichen Eingliederungsmanagement Abstand nehmen zu lassen.

Gegen das der Beklagten am 25. Februar 2022 zugestellte Urteil richtet sich ihre am 15. März 2022 beim Landesarbeitsgericht Niedersachsen eingegangene Berufung, die sie am 4. April 2022 unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags im Wesentlichen wie folgt begründet:

Anhand der im Betrieb geltenden Betriebsvereinbarung vom 15. Dezember 2010 (Anlage 1 zur Berufungsbegründung vom 1. April 2022, Blatt 158 der Akte) müsse der Kläger - wie vom Arbeitsgericht unterstellt - nicht davon ausgehen, dass seine Gesundheitsdaten, insbesondere seine Diagnosen, seinem Vorgesetzten bekannt gemacht werden könnten. Hiernach erfolge eine Bekanntgabe der Gesundheitsdaten an den Vorgesetzten nur mit Zustimmung des Arbeitnehmers. Der Kläger habe 3 Einladungen zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement erhalten und keines der Einladungsschreiben beantwortet. Vor diesem Hintergrund müsse davon ausgegangen werden, dass der Kläger kein Interesse an der Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements habe. Die Einladung zum betrieblichen Eingliederungsmanagement sei nicht zu beanstanden. Aus dem Informationsblatt und dem Antwortschreiben folge, dass die zur Durchführung des Verfahrens erforderlichen personenbezogenen Daten nur mit Einwilligung des Arbeitnehmers erhoben, dokumentiert und bearbeitet werden könnten. Es hätte jedenfalls eines arbeitsgerichtlichen Hinweises auf die nicht ordnungsgemäße Information bedurft. Das betriebliche Eingliederungsmanagement hätte vorliegend auch kein positives Ergebnis bringen können. Der Kläger sei bereits an verschiedenen Arbeitsplätzen als Kommissionierer eingesetzt worden. An allen Arbeitsplätzen sei es zu krankheitsbedingten Fehlzeiten gekommen.


Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 17. Februar 2022 - 8 Ca 363/21 - abzuändern und die Klage abzuweisen.


Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil nach Maßgabe der Berufungserwiderung. Er bestreitet, dass das Informationsschreiben dem Einladungsschreiben vom 3. September 2021 beigefügt gewesen sei. Soweit sich die Beklagte erstmals im Berufungsverfahren hinsichtlich der datenschutzrechtlichen Voraussetzungen auf die Betriebsvereinbarung vom 15. Dezember 2010 berufe, finde sich hierzu kein Hinweis in dem Einladungsschreiben. Die Betriebsvereinbarung entspreche auch nicht den Voraussetzungen der DS-GVO.

Wegen des weiteren Sach- und Rechtsvortrags der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und die Sitzungsprotokolle ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

A.

Die nach § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist gemäß § 66 Abs. 1, § 64 Abs. 6 ArbGG iVm. §§ 519, 520 ZPO zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und ordnungsgemäß begründet worden.

B.

Die Berufung ist unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zu Recht angenommen, dass die ordentliche Kündigung unverhältnismäßig ist.

I. Die Kündigung gilt nicht nach § 4 Satz 1, 7 KSchG als von Anfang an rechtswirksam. Mit seiner am 27. Oktober 2021 beim Arbeitsgericht Braunschweig eingegangenen und der Beklagten am 2. November 2021 zugestellten Klage hat er sich rechtzeitig innerhalb der Dreiwochenfrist gegen die Wirksamkeit der ihm wohl nicht vor dem 11. Oktober 2021 zugegangen Kündigung gewehrt.

II. Das Kündigungsschutzgesetz findet auf das Arbeitsverhältnis Anwendung. Das Arbeitsverhältnis besteht länger als 6 Monate (§ 1 Abs. 1 KSchG). Die Beklagte beschäftigt mehr als 10 Arbeitnehmer (§ 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG).

III. Das Arbeitsgericht hat zu Recht erkannt, dass die Kündigung der Beklagten vom 11. Oktober 2021 - ungeachtet des Vorliegens einer negativen Gesundheitsprognose und einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen - auf der 3. Stufe der Prüfung einer krankheitsbedingten Kündigung scheitert. Die ordentliche Kündigung ist unverhältnismäßig und damit sozial ungerechtfertigt iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG. Die Beklagte hat nicht ausreichend dargetan, dass keine zumutbare Möglichkeit bestand, die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch mildere Maßnahmen zu vermeiden.

1. Eine auf Gründe in der Person des Arbeitnehmers gestützte Kündigung ist unverhältnismäßig, wenn sie zur Beseitigung der eingetretenen Vertragsstörung nicht geeignet oder nicht erforderlich ist. Eine Kündigung ist durch Krankheit nicht iSv. § 1 Abs. 2 S atz 1 KSchG "bedingt", wenn es angemessene mildere Mittel zur Vermeidung oder Verringerung künftiger Fehlzeiten gibt. Solche Maßnahmen können insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs oder die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auf einem anderen - seinem Gesundheitszustand entsprechenden - Arbeitsplatz sein. Darüber hinaus kann sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Verpflichtung des Arbeitgebers ergeben, es dem Arbeitnehmer vor einer Kündigung zu ermöglichen, ggf. spezifische Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen, um dadurch künftige Fehlzeiten auszuschließen oder zumindest signifikant zu verringern (BAG 18. November 2021 - 2 AZR 138/21 - Rn. 12 mwN).

Der Arbeitgeber, der für die Verhältnismäßigkeit der Kündigung nach § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG die Darlegungs- und Beweislast trägt, kann sich zwar im Kündigungsschutzprozess grundsätzlich zunächst auf die Behauptung beschränken, für den Arbeitnehmer bestehe keine andere - seinem Gesundheitszustand entsprechende - Beschäftigungsmöglichkeit. War der Arbeitgeber jedoch gem. § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX zur Durchführung eines bEM verpflichtet und ist er dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, ist er darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass auch ein bEM nicht dazu hätte beitragen können, neuerlichen Arbeitsunfähigkeitszeiten entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Die Durchführung eines bEM ist zwar nicht selbst ein milderes Mittel gegenüber der Kündigung. § 167 Abs. 2 SGB IX konkretisiert aber den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Mit Hilfe eines bEM können mildere Mittel als die Beendigung des Arbeitsverhältnisses erkannt und entwickelt werden (BAG 18. November 2021 - 2 AZR 138/21 - Rn. 13).

2. Die Beklagte war unstreitig gem. § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX zur Durchführung eines bEM verpflichtet. Der Kläger war vor der Kündigung innerhalb eines Jahres länger als 6 Wochen arbeitsunfähig erkankt.

Ein bEM hat trotz der Bemühungen der Beklagten zur Durchführung nicht stattgefunden. Auf die Einladung vom 3. September 2021 erfolgte keine Reaktion des Klägers. Ob - wie vom Kläger bestritten - dem Einladungsschreiben das Informationsblatt beigefügt war, kann dahingestellt bleiben. Die Beklagte muss sich entgegenhalten lassen, worauf auch das Arbeitsgericht schon abgestellt hat, dass der Hinweis zur Datenerhebung und Datenverwendung hier unzureichend ist.

a) Die betroffene Person oder ihr gesetzlicher Vertreter ist gemäß § 167 Abs. 2 Satz 4 SGB IX zuvor auf die Ziele des betrieblichen Eingliederungsmanagements sowie auf Art und Umfang der hierfür erhobenen und verwendeten Daten hinzuweisen.

Der Hinweis zur Datenerhebung und Datenverwendung muss klarstellen, dass nur solche Daten erhoben werden, deren Kenntnis erforderlich ist, um ein zielführendes, der Gesundung und Gesunderhaltung des Betroffenen dienendes bEM durchführen zu können. Dem Arbeitnehmer muss mitgeteilt werden, welche Krankheitsdaten - als sensible Daten iSv. § 3 Abs. 9 BDSG (aF, heute Art. 9 Abs. 1 DS-GVO) - erhoben und gespeichert und inwieweit und für welche Zwecke sie dem Arbeitgeber zugänglich gemacht werden. Nur bei entsprechender Unterrichtung kann vom Versuch der ordnungsgemäßen Durchführung eines bEM die Rede sein (vgl. BAG 20. November 2014 - 2 AZR 755/13 - Rn. 32).

b) Aus dem Informationsblatt - unterstellt, dieses ist dem Kläger mit dem Einladungsschreiben zugegangen - ist nicht ersichtlich, welche personenbezogenen Daten erhoben und verarbeitet werden sollen. Hier heißt es lediglich, dass die zur Durchführung des Verfahrens erforderlichen personenbezogenen Daten nur mit Einwilligung des Mitarbeiters erhoben, dokumentiert und verarbeitet werden. Eine nähere Bezeichnung der "zur Durchführung des Verfahrens erforderlichen personenbezogenen Daten" findet nicht statt, insbesondere verhält sich das Schreiben nicht zu einer etwaigen Erhebung und Verarbeitung von sensiblen Daten, wie beispielsweise Gesundheitsdaten des Klägers. Auch geht aus dem Informationsschreiben nicht hervor, für welche Zwecke diese Daten erhoben und dem Arbeitgeber zugänglich gemacht werden sollen. Soll eine Datenerhebung bspw. nur den Zweck haben, die Arbeitsunfähigkeit zu überwinden und/oder einer erneuten Arbeitsunfähigkeit vorzubeugen (und bspw. nicht der Verhaltens- und Leistungskontrolle dienen), muss dies auch zum Ausdruck gebracht werden. Derartiges geht aus dem Informationsschreiben nicht hervor.

Die Beklagte kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass nach Ziffer 7 des Informationsblatts sämtliche zur Durchführung des Verfahrens erforderlichen personenbezogenen Daten nur mit der Einwilligung des Mitarbeiters erhoben, dokumentiert und verarbeitet werden dürfen; dass nach dem Informationsschreiben beigefügten Antwortschreiben ohne Einwilligung des Mitarbeiters keine personenbezogenen Daten (z.B. Name, Geburtsdatum, Adresse, gesundheitliche Verhältnisse) oder sonstige Angaben, welche Rückschlüsse auf die Person zulassen, an Dritte weitergeleitet werden dürfen. Dem Arbeitnehmer muss - vor seiner Einwilligung - vor Augen geführt: werden, welche personenbezogenen Daten im Falle einer Einwilligung von der Verarbeitung zu welchem Zweck erfasst sind.

Auch der Verweis der Beklagten auf die bestehende Betriebsvereinbarung zum betrieblichen Eingliederungsmanagement vom 15. Dezember 2010 (Anlage 1 zur Berufungsbegründung vom 1. April 2022, Blatt 158 ff. der Akte) führt nicht weiter. Ungeachtet dessen, dass sich in dem Informationsschreiben schon kein Hinweis auf die Betriebsvereinbarung findet, ersetzt ein Hinweis auf eine bestehende Dienstvereinbarung zum bEM, die ihrerseits Regelungen zu den Zielen des bEM und dem Datenschutz enthält, die konkrete Information des Arbeitnehmers nicht (Düwell in LPK-SGB IX, 6. Aufl. 2022, § 167 Rn. 61 SGB IX mwN).

3. Die Kündigung ist, unter Berücksichtigung dessen, dass kein regelkonformes bEM stattgefunden hat und die Beklagte nicht hinreichend dazu vorgetragen hat, dass es keine angemessenen und milderen Mittel zur Vermeidung oder Verringerung künftiger Fehlzeiten gibt, unverhältnismäßig.

a) Die Durchführung des bEM ist zwar keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Kündigung. § 167 Abs. 2 SGB IX ist dennoch kein bloßer Programmsatz. Die Norm konkretisiert den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Mit Hilfe des bEM können möglicherweise mildere Mittel als die Kündigung erkannt und entwickelt werden (vgl. BAG 20. November 2014 - 2 AZR 755/13 - Rn. 38).

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung, ob die Kündigung durch mildere Mittel hätte voraussichtlich vermieden werden können, ist der Zugang der Kündigung. Wurde ein an sich gebotenes bEM nicht durchgeführt, ist daher kündigungsrechtlich eine erweiterte Darlegungslast des Arbeitgebers, dass auch ein bEM keinen Erfolg erbracht hätte, nicht veranlasst, wenn das bEM für diesen Zeitpunkt keine relevanten Erkenntnisse hätte erbringen können, weil es nicht in zeitlicher Nähe zur Kündigung erforderlich gewesen wäre. Hat der Arbeitgeber nicht gänzlich davon abgesehen, ein bEM anzubieten, sind ihm dabei oder bei der weiteren Durchführung aber Fehler unterlaufen, ist für den Umfang seiner Darlegungslast von Bedeutung, ob der Fehler Einfluss auf die Möglichkeit hatte oder hätte haben können, Maßnahmen zu identifizieren, die zu einer relevanten Reduktion der Arbeitsunfähigkeitszeiten des Arbeitnehmers hätten führen können. Das kann der Fall sein, wenn dieser gerade aufgrund der verfahrensfehlerhaften Behandlung durch den Arbeitgeber einer (weiteren) Durchführung des bEM nicht zugestimmt hat, was der tatgerichtlichen Würdigung im Einzelfall bedarf. Anderenfalls spricht der Umstand, dass ein Arbeitnehmer nicht zu seiner (weiteren) Durchführung bereit ist, grundsätzlich dagegen, dass durch ein bEM mildere Mittel als die Kündigung hätten identifiziert werden können (BAG 18. November 2021 - 2 AZR 138/21 - Rn. 14 - 16).

b) Die Beklagte war in Anwendung dieser Grundsätze zur umfassenden Darlegung der objektiven Nutzlosigkeit des bEM veranlasst Es kann ohne konkrete Anhaltspunkte nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei ordnungsgemäßer Belehrung über die Verarbeitung seiner Daten einem betrieblichen Eingliederungsmanagement nicht zugestimmt hätte. Derartige Anhaltspunkte hat die Beklagte nicht dargelegt. Diese sind insbesondere nicht darin zu erblicken, dass der Kläger auf keines der Einladungsschreiben vom 31. Juli 2017, 12. März 2018, 19. April 2021 und 3. September 2021 reagiert hat. Es ist nicht vorgetragen, dass die Einladungsschreiben vom 31. Juli 2017, 12. März 2018 und 19. April 2021 eine ausreichende Belehrung über die Verarbeitung der personenbezogenen Daten des Klägers, insbesondere der Gesundheitsdaten, enthielten. Wenn es auch für eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen den Arbeitsvertragsparteien wünschenswert gewesen wäre, dass der Kläger die Gründe für die Nichtbeantwortung der Einladungsschreiben der Beklagten mitteilt, besteht eine derartige Verpflichtung des Arbeitnehmers nicht. Auch die schlichte Ignoranz der Einladungsschreiben durch den Kläger lassen daher nicht den Schluss zu, dass er sich im Falle einer ordnungsgemäßen Belehrung über den Datenschutz einem betrieblichen Eingliederungsmanagement ebenfalls verweigert hätte.

Unter Zugrundelegung des gesamten Vorbringens der Beklagten kann nicht festgestellt werden, dass es keine milderen Mittel als die Kündigung des Arbeitsverhältnisses gegeben hätte. Die Beklagte beschränkt sich darauf, Alternativarbeitsplätze, auf welchen Kommissionierer zum Einsatz kommen, zu benennen und diese im Hinblick auf die körperliche Belastung und körperliche Schwere der Tätigkeit zu bewerten. Auch wenn der Beklagten zuzugestehen ist, dass sie ohne Kenntnis von ggf. bestehenden körperlichen Einschränkungen des Klägers und möglichen Zusammenhängen zwischen den Erkrankungen und den Bedingungen am Arbeitsplatz nicht zielgenau zu angemessenen Alternativen zur Kündigung vortragen kann, reicht dieser Vertrag nicht aus. Die Durchführung eines ordnungsgemäß angebotenen betrieblichen Eingliederungmanagements hätte beispielsweise einen etwaigen Reha-Bedarf des Klägers aufdecken können oder es hätten sich Möglichkeiten der Umgestaltung des Arbeitsplatzes aufgetan, die jedenfalls zu einer hinnehmbaren Reduzierung der Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers hätten führen können. Nach dem Vorbringen des Klägers in der Kammerverhandlung habe sich zudem im Rahmen des ihm angebotenen Prozessarbeitsverhältnisses gezeigt, dass nach seiner Anschauung Arbeitsunfähigkeitszeiten auch durch eine personell stärkere Besetzung vermeiden ließen.

4. Auch die umfassende Abwägung aller von der Beklagten weiter vorgetragenen Argumente, auch soweit auf sie im Urteil nicht mehr besonders eingegangen wurde, weil die Entscheidungsgründe gemäß § 313 Abs. 3 ZPO lediglich eine kurze Zusammenfassung der tragenden Erwägungen enthalten sollen, führten nicht zu einem abweichenden Ergebnis.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 64 Abs. 6 ArbGG, §§ 97 Abs.1 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 72 Abs. 2 ArbGG sind nicht gegeben. Keine der entscheidungserheblichen Rechtsfragen hat grundsätzliche Bedeutung. Die Rechtsfragen berühren auch nicht wegen ihrer tatsächlichen Auswirkungen die Interessen der Allgemeinheit oder eines größeren Teils der Allgemeinheit. Ferner lagen keine Gründe vor, die die Zulassung wegen einer Abweichung von der Rechtsprechung eines der in § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG angesprochenen Gerichte rechtfertigen würde.

Auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde (§ 72 a ArbGG) und der sofortigen Beschwerde (§ 72 b ArbGG) wird hingewiesen.

Referenznummer:

R/R9612


Informationsstand: 19.07.2023