Urteil
Kündigungszustimmung des Integrationsamts zur krankheitsbedingten Kündigung eines Schwerbehinderten

Gericht:

OVG Nordrhein-Westfalen 12. Senat


Aktenzeichen:

12 A 1462/12 | 12 A 1462.12


Urteil vom:

07.08.2012


Tenor:

Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

Die Beigeladene trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Rechtsweg:

VG Düsseldorf Urteil vom 04.05.2012 - 13 K 6422/11

Quelle:

Justizportal des Landes NRW

Gründe:

Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet.

Die Begründung des Zulassungsantrags führt nicht zu ernstlichen Zweifeln i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Sie vermag die Auffassung des Verwaltungsgerichts, der Bescheid des Beklagten vom 15. Februar 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. September 2011 weise zur Rechtswidrigkeit i.S.d. §§ 113 Abs. 1 Satz 1, 114 Satz 1 VwGO führende Ermessenfehler auf, nicht in Frage zu stellen.

Dabei können ernstliche Zweifel i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Fällen, in denen das Urteil auf mehreren, die Entscheidung unabhängig von einander tragenden Begründungen beruht, nur dann eine Zulassung der Berufung rechtfertigen, wenn das Zulassungsvorbringen in Bezug auf jede dieser Begründungen zur Annahme derartiger Zweifel führt.

Vgl. OVG Münster, Beschlüsse vom 18. Dezember 2009 - 12 A 1493/08 -, und vom 4. August 2010 - 12 A 1614/09 -, beide juris; BayVGH, Beschluss vom 11. März 2011 - 14 ZB 09.2479 -, juris; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Auflage 2010, § 124a Rn 196; vgl. entsprechend zur Nichtzulassungsbeschwerde BVerwG, Beschlüsse vom 3. Juli 1973 - IV B 92.73 -, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 109, und vom 9. Dezember 1994, Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO Nr. 4, jeweils juris.

Mithin kann im vorliegenden Fall die Frage, ob der Beklagte unzulässigerweise die arbeitsrechtliche Zulässigkeit der Kündigung maßgeblich im Rahmen der Ermessensausübung berücksichtigt hat - wofür einiges spricht -, offen bleiben. Selbst wenn mit dem Zulassungsvorbringen davon auszugehen wäre, dass die in die Abwägung im Rahmen der §§ 91, 85 SGB IX einzustellenden Überlegungen die arbeitsrechtlich zu erwägenden Argumente vollständig mitumfassen, gelingt es der Beigeladenen nicht, die darüber hinausgehende, hiervon unabhängige und die Entscheidung tragende Annahme eines weiteren Ermessensfehlers ernstlich in Frage zu stellen.

Soweit die Beigeladene vorträgt, der Beklagte habe den Anforderungen an die Ermittlung der Zumutbarkeitsgrenze für den Arbeitgeber hinreichend Rechnung getragen, in dem er entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts die jährlich über einen Zeitraum von sechs Wochen hinausgehenden Krankheitstage der Klägerin in ausreichendem Maße gewürdigt habe, dringt sie mit dieser Ansicht nicht durch. Vielmehr verkennt sie den Kern der gerichtlichen Argumentation bzw. setzt sich in Widerspruch zu den Ausführungen des Beklagten im Widerspruchsbescheid und in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht.

In seinem Widerspruchsbescheid vom 28. September 2011 (Seite 10, 2. Absatz) hat der Beklagte ausgeführt:

"Weiterhin liegt eine wirtschaftliche Belastung vor, da die Beteiligte Entgeltfortzahlungskosten von mehr als 6 Wochen jährlich aufzuwenden hatte. Für die Jahre 2008 und 2009 musste die Beteiligte an insgesamt 95 Tagen der Arbeitsunfähigkeit Entgeltfortzahlung leisten und im Jahr 2010 für 111 Tage."

In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat die Vertreterin des Beklagten hierzu weiter ausgeführt,

"dass dort üblicherweise eine Unzumutbarkeit für den Arbeitgeber angenommen wird, wenn Ausfallzeiten von mehr als sechs Wochen, orientiert an den Regelungen über die Lohnfortzahlung, zu verzeichnen sind."

Ausweislich dieser Ausführungen hat das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen, der Beklagte habe die Zumutbarkeitsgrenze für die Beigeladene bei Fehlzeiten von sechs Wochen gesehen, was vor dem Hintergrund der einschlägigen Rechtsprechung auch des beschließenden Senats einen rechtsfehlerhaften Ermessensgebrauch darstellt. Tatsächlich liegt die Zumutbarkeitsgrenze erheblich höher.

Vgl. hierzu grundsätzlich: BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 1971 - V 78.70 -, BVerwGE 39, 36 ff.; Beschluss vom 18. September 1989 - 5 B 100.89 -, Buchholz 436.61 § 15 SchwbG Nr. 2, und Urteil vom 19. Oktober 1995 - 5 C 24.93 -, BVerwGE 99, 336; jeweils juris; OVG NRW, Beschlüsse vom 23. Mai 2008 - 12 A 3176/07 -, vom 25. Februar 2009 - 12 A 96/09 - und vom 25. Mai 2009 - 12 A 472/09 -, jeweils juris.

Soweit die Beigeladene nunmehr ausführt, der Beklagte habe die Fehlzeiten jenseits von sechs Wochen in der Abwägung hinreichend berücksichtigt, verkennt sie, dass ausweislich der Ausführungen des Beklagten sich dessen Berücksichtigung in der Feststellung erschöpft, die Fehlzeiten lägen über der angenommenen Zumutbarkeitsgrenze von sechs Wochen. Mit der Frage, welche Fehlzeiten jenseits von sechs Wochen pro Jahr im vorliegenden Fall noch zumutbar wären, hat sich der Beklagte aber gerade - insoweit durchaus folgerichtig - nicht auseinander gesetzt.

Auch der von der Beigeladenen vorgebrachte Einwand gegen die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, die festgestellten Ermessensfehler seien auch nicht deshalb unbeachtlich, weil die Zustimmung zur Kündigung hätte erteilt werden müssen, führt nicht zu Zweifeln an der Richtigkeit der Entscheidung. Eine Unbeachtlichkeit der Ermessenfehler wäre, da das Verwaltungsgericht seine Erwägungen nicht an die Stelle der Behörde setzen darf, lediglich dann anzunehmen, wenn eine Ermessensreduktion auf Null vorliegen würde, also jede andere Entscheidung als eine Zustimmung rechtswidrig wäre.

Vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 25. Juni 1964 - VIII C 23.63 -, BVerwGE 19, 48; Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Auflage 2010, § 114 Rn 128; Kopp/Schenke, VwGO, 17. Auflage 2012, § 114 Rn 6.

Dies ist - insbesondere auch unter Berücksichtigung der Schutzziele des Schwerbehindertenrechts - hier erkennbar nicht der Fall. Vielmehr sind auch bei erheblichen Belastungen des Arbeitgebers die sozialen Belange des schwerbehinderten Arbeitnehmers abwägend zu berücksichtigen. Im Übrigen sind auch die von der Beigeladenen aufgeführten Krankheitstage pro Jahr jedenfalls nicht geeignet, eine Ermessensreduktion aus Null anzunehmen. Einen daraus folgenden Rechtsanspruch auf die Zustimmung zur Kündigung hat die Beigeladene auch an keiner Stelle geltend gemacht.

Abschließend weist der Senat - ohne dass es vorliegend darauf ankäme - darauf hin, dass entgegen der Rechtsansicht der Beigeladenen der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen bei der Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze für den Arbeitgeber nicht in Ansatz zu bringen ist. Der Anspruch auf Zusatzurlaub ergibt sich unmittelbar aus der gesetzlichen Verpflichtung des § 125 Abs. 1 SGB IX, die wiederum mit der gesetzlichen Pflicht des Arbeitgebers, schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen (§ 71 SGB IX), verknüpft ist. Diese "Belastung" wird damit jedem der Beschäftigungspflicht genügenden Arbeitgeber auferlegt und kann folglich nicht dem einzelnen schwerbehinderten Arbeitnehmer im Rahmen des Kündigungsrechts zugerechnet werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 3, 162 Abs. 3, 188 Satz 2, 1. Halbsatz, VwGO.

Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar. Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist nunmehr rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Referenznummer:

R/R6499


Informationsstand: 07.05.2015