Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall im arbeitnehmerseitig gekündigten Arbeitsverhältnis.
Der im Februar 2000 geborene Kläger nahm am 01.09.2020 bei der Beklagten, die Wurst- und Schinkenprodukte herstellt, eine Beschäftigung als Fleischer auf. Zum 01.09.2021 übertrug die Beklagte dem Kläger die Position des stellvertretenden Abteilungsleiters der Pökelei. Das monatliche Gehalt belief sich zuletzt auf € 2.216,46 brutto bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden. Der Kläger war im Schichtdienst eingesetzt. Die Beklagte beschäftigt etwa 180 Arbeitnehmer/innen.
Laut ärztlichen Bescheinigungen war der Kläger in der Zeit von Oktober 2022 bis Anfang Dezember 2022 wie folgt arbeitsunfähig erkrankt:
Montag, 10.10.2022 bis Freitag, 14.10.2022
Montag, 17.10.2022 bis Freitag, 21.10.2022
Dienstag, 25.10.2022 bis Freitag, 28.10.2022
Mittwoch, 23.11.2022 bis Samstag, 26.11.2022
Montag, 28.11.2022 bis Freitag, 02.12.2022
Montag, 05.12.2022 bis Freitag, 09.12.2022.
Mit Schreiben vom 09.12.2022 kündigte der Kläger das Arbeitsverhältnis fristgemäß zum 15.01.2023. Das Kündigungsschreiben übergab er dem Betriebsleiter am Montag, 12.12.2022. Am Dienstag, 13.12.2022, suchte der Kläger einen Praktischen Arzt auf, der ihm eine Arbeitsunfähigkeit bis voraussichtlich 06.01.2023 mit den Diagnosen F43.2 G (Anpassungsstörungen) und F45.9 G (Somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet) bescheinigte. Der Arzt verschrieb die Medikamente: "VENLAFAXIN HEU 37.5MG HART 42,43mgREK" und "50St N2 Mirtazepin 15 mg abends 1 Tbl." Zudem stellte er eine Überweisung an einen Psychiater aus und erbat eine fachärztliche Mitbehandlung. Der Kläger beschaffte sich weder die verschriebenen Medikamente noch suchte er einen Facharzt auf.
Am Montag, 02.01.2023, begab sich der Kläger erneut zu dem Praktischen Arzt, der eine Folgebescheinigung für weitere zwei Wochen bis zum 16.01.2023 ausstellte. Am Montag, 16.01.2023, trat der Kläger eine neue Beschäftigung im Lebensmitteleinzelhandel an.
Der Kläger hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, dass ihm Entgeltfortzahlung für die Zeit ab 13.12.2022 zustehe. Die Arbeit in der Pökelei sei körperlich schwer und zudem im Schichtdienst zu leisten. Er müsse täglich rund 100 Rollwagen mit einem Gewicht von
ca. 200
kg aus eigener Kraft bewegen. In den letzten drei Monaten vor Ausspruch der Kündigung habe er annähernd 20 % seines Körpergewichts verloren. Er habe an Schlafstörungen, Magenbeschwerden, Schwindel und Atembeschwerden gelitten. Das sei auch der Grund, weshalb er das Arbeitsverhältnis gekündigt habe. Im Zeitraum Oktober 2022 bis Anfang Dezember 2022 sei er aus folgenden Gründen arbeitsunfähig gewesen:
10.10.2022 bis 14.10.2022 Magenprobleme - A09.0 G
17.10.2022 bis 21.10.2022 Atemprobleme/Atemwegsinfektion - J06.9 G
25.10.2022 bis 28.10.2022 Kniegelenk verrutscht - M22.1 GL
23.11.2022 bis 26.11.2022 Magenprobleme - A09.0 G
28.11.2022 bis 02.12.2022 Magenprobleme - A09.0 G
05.12.2022 bis 09.12.2022 Kniegelenk verrutscht - M22.1 GL.
Einen Facharzt habe er nicht aufgesucht, da es schlichtweg nicht möglich gewesen sei, bei einem Psychologen einen zeitnahen Termin zu bekommen. Die verschriebenen Medikamente habe er nicht genommen, da ihm der Arzt empfohlen habe, es erst einmal mit Ruhe zu versuchen.
Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger [für den Monat Dezember 2022] € 2.414,42 brutto abzüglich des bereits gezahlten Lohnes in Höhe von € 883,78 netto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 31.12.2022 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie bestreitet, dass der Kläger arbeitsunfähig gewesen sei. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei erschüttert, da es sich "passgenau“ um den Zeitraum der Kündigungsfrist handele. Bei Übergabe des Kündigungsschreibens am 12.12.2022 habe es keinerlei Anzeichen für eine Erkrankung gegeben. Der Kläger habe sich auch nicht auf eine Überlastung oder Überforderung berufen. Personalengpässe habe es nicht gegeben. Richtig sei zwar, dass der Kläger Wagen schieben müsse. Entgegen seiner Darstellung handele es sich jedoch nicht um täglich 100, sondern maximal 40 Wagen. Die Erstbescheinigung erstrecke sich bereits auf einen Zeitraum von rund dreieinhalb Wochen, was der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach
§ 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V (Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie) widerspreche. Die Folgebescheinigung stamme trotz der Überweisung an einen Facharzt wiederum von dem Praktischen Arzt.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und zur Begründung ausgeführt, dass es dahinstehen könne, ob der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttert sei. Nach Überzeugung des Gerichts sei der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum arbeitsunfähig erkrankt gewesen. Nach der Arbeitsunfähigkeit-Richtlinie sei es nicht ausgeschlossen, im Einzelfall eine Arbeitsunfähigkeit für einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen zu bescheinigen. Der Kläger habe die Diagnosen offengelegt. Der behandelnde Arzt sei seiner fachlichen Einschätzung nach zu dem Ergebnis gekommen, dass eine behandlungsbedürftige Krankheit vorliege. Daran ändere sich nichts, wenn ein Patient die verordneten Medikamente entgegen ärztlichem Rat nicht einnehme. Die fachliche Richtigkeit der Einschätzung des behandelnden Arztes sei vom Gericht nicht überprüfbar.
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung. Das Arbeitsgericht habe zwar die vom Bundesarbeitsgericht entwickelten Beweisregeln richtig dargestellt, diese jedoch nicht auf den vorliegenden Fall angewandt. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei schon deshalb erschüttert, weil damit "passgenau" die Kündigungsfrist abgedeckt werde. Die Einschätzung des behandelnden Arztes könne entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts nicht allein ausschlaggebend sein, da dieser sich letztlich auf die Schilderungen des Patienten verlassen müsse. Dem Kläger stehe es zwar frei, ob er die verschriebenen Medikamente einnehme und ob er einen Facharzt aufsuche. Gegen eine Erkrankung spreche es allerdings, wenn er sich, anders als von einem Erkrankten zu erwarten, über sämtliche ärztlichen Anordnungen hinwegsetze. Der behandelnde Arzt habe die Medikamente gerade nicht lediglich für den Bedarfsfall verschrieben. Ebenso wenig finde sich irgendwo ein Hinweis des Arztes, es zunächst mit Ruhe zu versuchen und die Medikamente
ggf. erst später einzunehmen. Im Übrigen stehe ein Bedarf an Ruhe nicht einer Arbeitsunfähigkeit gleich.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Rostock vom 05.06.2023 zum Aktenzeichen 2 Ca 1525/22 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Er verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Die Beweiswürdigung lasse keine Rechtsfehler erkennen. Es gebe, wovon das Arbeitsgericht zu Recht ausgehe, keine Anzeichen für eine fingierte Krankschreibung. Die Beklagte habe keine Umstände vorgetragen, die geeignet seien, den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu erschüttern. Nach Erhalt des Rezepts habe sich der Kläger im Internet zu den verschriebenen Medikamenten informiert. Aufgrund der schwerwiegenden Nebenwirkungen habe er die Medikamente nicht mehr von der Apotheke abgeholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, die Sitzungsprotokolle sowie das angegriffene arbeitsgerichtliche Urteil verwiesen.
Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch aus § 3
Abs. 1 Satz 1, § 4
Abs. 1 EFZG auf Fortzahlung des Entgelts über den 12.12.2022 hinaus bis zum 31.12.2022.
Wird ein Arbeitnehmer durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert, ohne dass ihn ein Verschulden trifft, so hat er Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen (§ 3
Abs. 1 Satz 1 EFZG). Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen des § 3
Abs. 1 Satz 1 EFZG (
BAG, Urteil vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23 – Rn. 11, juris = NZA 2024, 539;
BAG, Urteil vom 28. Juni 2023 – 5 AZR 335/22 – Rn. 11, juris = ZTR 2024, 31).
Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit wird in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Sinne des § 5
Abs. 1 Satz 2 EFZG geführt. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Der Tatrichter kann normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt. Aufgrund des normativ vorgegebenen hohen Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung genügt ein „bloßes Bestreiten“ der Arbeitsunfähigkeit mit Nichtwissen durch den Arbeitgeber nicht, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit mit einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachgewiesen hat. Vielmehr kann der Arbeitgeber den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt (
BAG, Urteil vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23 – Rn. 12, juris = NZA 2024, 539;
BAG, Urteil vom 28. Juni 2023 – 5 AZR 335/22 – Rn. 12, juris = ZTR 2024, 31).
Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründet keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit im Sinne des § 292
ZPO mit der Folge, dass nur der Beweis des Gegenteils zulässig wäre. Der Arbeitgeber ist nicht auf die in § 275
Abs. 1a
SGB V aufgeführten Regelbeispiele ernsthafter Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit beschränkt. Den Beweiswert erschütternde Tatsachen können sich auch aus dem eigenen Sachvortrag des Arbeitnehmers ergeben (
BAG, Urteil vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23 – Rn. 13, juris = NZA 2024, 539). Des Weiteren kann der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach den Umständen des Einzelfalls wegen Verstößen des ausstellenden Arztes gegen bestimmte Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie erschüttert sein (
BAG, Urteil vom 28. Juni 2023 – 5 AZR 335/22 – Rn. 13, juris = ZTR 2024, 31).
Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist regelmäßig erschüttert, wenn ein Arbeitnehmer zeitgleich mit seiner Kündigung eine Bescheinigung einreicht, die passgenau die noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdeckt. Aufgrund der zeitlichen Koinzidenz zwischen bescheinigter Arbeitsunfähigkeit sowie Beginn und Ende der Kündigungsfrist bestehen ernsthafte Zweifel am Bestehen der Arbeitsunfähigkeit (
BAG, Urteil vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23 – Rn. 18, juris = NZA 2024, 539;
BAG, Urteil vom 08. September 2021 – 5 AZR 149/21 – Rn. 20, juris = ZTR 2022, 116). Das gilt in gleicher Weise bei einer Kündigung durch den Arbeitgeber (
BAG, Urteil vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23 – Rn. 18, juris = NZA 2024, 539). Ob für die Dauer der Kündigungsfrist eine oder mehrere Bescheinigungen vorgelegt werden, ist unerheblich (
BAG, Urteil vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23 – Rn. 24, juris = NZA 2024, 539).
Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage der Bescheinigung bestand. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Hierzu ist substantiierter Vortrag
z. B. dazu erforderlich, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden. Der Arbeitnehmer muss also zumindest laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben (
BAG, Urteil vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23 – Rn. 14, juris = NZA 2024, 539).
Die vom Kläger vorgelegten ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sind nicht geeignet, eine Arbeitsunfähigkeit zu beweisen. Der Beweiswert dieser Bescheinigungen ist erschüttert, da sie passgenau den Zeitraum der Kündigungsfrist abdecken. Die Folgebescheinigung reicht zwar noch einen Tag darüber hinaus. Der Kläger trat jedoch den Dienst bei dem neuen Arbeitgeber bereits am 16.01.2023 unmittelbar im Anschluss an das bisherige Arbeitsverhältnis an. Umstände, die dennoch für eine Arbeitsunfähigkeit sprechen könnten, beispielsweise ein Unfall
o. ä., liegen nicht vor. Bei Übergabe des Kündigungsschreibens zeigte der Kläger keine äußerlich erkennbaren Krankheitssymptome. Eine besondere psychische Belastungssituation war mit der Kündigungsübergabe nicht verbunden. Das Gespräch mit dem Betriebsleiter ist sachlich verlaufen und hat nicht im Streit geendet. Der Kläger mag in den vorangegangenen Monaten aufgrund der körperlich anstrengenden Arbeit Gewicht verloren haben. Ein Anzeichen für eine akute Erkrankung oder eine unmittelbare Gefährdung der Gesundheit im Falle einer zeitlich begrenzten Fortsetzung der Tätigkeit ergibt sich daraus aber noch nicht.
Der Kläger hat eine Arbeitsunfähigkeit nicht unabhängig von den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen dargelegt und bewiesen. Er hat zwar die ärztlichen Diagnosen offengelegt, jedoch weder konkrete gesundheitliche Einschränkungen, die diesen Diagnosen entsprechen, vorgetragen noch deren Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bezogen auf die geschuldete Tätigkeit dargestellt.
Die Diagnose F43.2 G (Anpassungsstörungen) ist im
ICD-10-GM Version 2022 wie folgt beschrieben:
"Hierbei handelt es sich um Zustände von subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung, die im Allgemeinen soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen auftreten. Die Belastung kann das soziale Netz des Betroffenen beschädigt haben (wie bei einem Trauerfall oder Trennungserlebnissen) oder das weitere Umfeld sozialer Unterstützung oder soziale Werte (wie bei Emigration oder nach Flucht). Sie kann auch in einem größeren Entwicklungsschritt oder einer Krise bestehen (wie Schulbesuch, Elternschaft, Misserfolg, Erreichen eines ersehnten Zieles und Ruhestand). Die individuelle Prädisposition oder Vulnerabilität spielt bei dem möglichen Auftreten und bei der Form der Anpassungsstörung eine bedeutsame Rolle; es ist aber dennoch davon auszugehen, dass das Krankheitsbild ohne die Belastung nicht entstanden wäre. Die Anzeichen sind unterschiedlich und umfassen depressive Stimmung, Angst oder Sorge (oder eine Mischung von diesen). Außerdem kann ein Gefühl bestehen, mit den alltäglichen Gegebenheiten nicht zurechtzukommen, diese nicht vorausplanen oder fortsetzen zu können. Störungen des Sozialverhaltens können insbesondere bei Jugendlichen ein zusätzliches Symptom sein.
Hervorstechendes Merkmal kann eine kurze oder längere depressive Reaktion oder eine Störung anderer Gefühle und des Sozialverhaltens sein.
Hospitalismus bei Kindern
Kulturschock
Trauerreaktion
…“
Zur Diagnose F45.9 G (Somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet) heißt es im
ICD-10-GM Version 2022:
"Psychosomatische Störung o.n.A."
Für derart belastende Lebensereignisse oder Lebenskrisen, die unmittelbar nach Übergabe der Kündigung eingetreten sind und es dem Kläger unmöglich gemacht haben, die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung noch rund vier Wochen zu erbringen, gibt es keine Anzeichen. Konkrete gesundheitliche Beeinträchtigungen und deren Auswirkung auf seine Arbeitsfähigkeit hat der Kläger nicht, auch nicht zumindest laienhaft, dargestellt.
Einen Zusammenhang mit früheren Erkrankungen, der ein erneutes Auftreten dieser Krankheiten nachvollziehbar erscheinen lassen könnte, gibt es nicht. Die obigen Diagnosen decken oder überschneiden sich nicht mit den vom Kläger angegebenen vorangegangenen Diagnosen, die zu einer Arbeitsunfähigkeit geführt haben. In den letzten Monaten vor Ausspruch der Kündigung litt der Kläger seinen Angaben nach, deren Richtigkeit hier unterstellt werden kann, an Gastroenteritis und Kolitis infektiösen Ursprungs (A09.0 G), an einer habituellen Subluxation der Patella (M22.1 GL) und eine Woche lang an einer akuten Infektion der oberen Atemwege (J06.9 G).
Die von dem behandelnden Arzt verordneten Medikamente und die Überweisung an einen Psychiater lassen zwar darauf schließen, dass dieser die Erkrankung als schwerwiegend eingeschätzt hat. Aufgrund dessen sah er auch die Verordnung von Medikamenten mit erheblichen Nebenwirkungen als notwendig an, um eine Genesung des Klägers zu erreichen und seine Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen. Dass der Kläger diese Medikamente ohne Rücksprache mit dem behandelnden Arzt nicht eingenommen und unabhängig davon auch nicht einen –
ggf. längerfristigen – Termin bei einem Facharzt vereinbart hat, weckt hingegen Zweifel an einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Diese Zweifel hat der Kläger nicht ausgeräumt. Er hat sich, nachdem er die Nebenwirkungen der verschriebenen Medikamente in Erfahrung gebracht hatte, nicht bei dem behandelnden Arzt um eine alternative Medikation mit weniger Nebenwirkungen bemüht, was gegen einen hohen Leidensdruck spricht. Der behandelnde Arzt mag dem Kläger neben den verschriebenen Medikamenten und einer fachärztlichen Behandlung auch Ruhe empfohlen haben. Die übrigen Anordnungen sind damit aber nicht außer Kraft gesetzt oder zeitlich aufgeschoben. Darüber hinaus handelt es sich lediglich um eine allgemein gehaltene Empfehlung, die nicht mit konkreten, auf die ärztlichen Diagnosen bezogenen Verhaltensmaßregeln unterlegt ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91
Abs. 1
ZPO. Die Zulassung der Revision ist nicht veranlasst.