Urteil
Anerkennung einer Coronainfektion als Arbeitsunfall

Gericht:

SG Potsdam 2. Kammer


Aktenzeichen:

S 2 U 102/21


Urteil vom:

15.08.2022


Grundlage:

  • SGB 7 § 8

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Entscheidungsdatenbank Brandenburg

Tatbestand:

Streitig ist die Anerkennung einer Coronainfektion der Klägerin als Arbeitsunfall.

Die 1962 geborene Klägerin meldete sich mit Schreiben vom 18. Juli 2021 bei der Beklagten und begehrte die Anerkennung einer SARS-CoV-2 Infektion als Arbeitsunfall. Sie stellte einen Zusammenhang zwischen einer Erkrankung im Dezember 2020 und ihrer Tätigkeit als Kassiererin und Verkäuferin bei einem Nettomarkt mit Kontakt zu Kunden ohne, dass diese sämtlich einen Mundschutz getragen hätten, her. Die Klägerin überreichte einen Laborbericht vom 8. Juni 2021, dessen Ergebnis von der die Klägerin behandelnden Fachärztin für Neurologie Dr. O als von einer SARS-CoV-2-Infektion genesen bewertet wurde. Der Arbeitgeber der Klägerin sah auf Nachfrage der Beklagten keinen Zusammenhang zwischen der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin und ihrer beruflichen Tätigkeit und daher auch keine Notwendigkeit zur Erstellung einer Unfallanzeige. Mit Bescheid vom 22. September 2021 lehnte die Beklagte die Anerkennung der Infektion der Klägerin mit Covid-19 als Arbeitsunfall ab. Zur Begründung gab sie an, es sei im Zusammenhang mit Covid-19-Infektionen, die in Deutschland als Pandemie eingestuft würde, eine Abgrenzung zwischen versicherter Tätigkeit und der allgemeinen pandemischen Gefahr notwendig. Arbeitsunfälle seien nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts konkrete Ereignisse, die auf eine Arbeitsschicht begrenzt seien. Im Zusammenhang mit Covid-19-Infektionen brauche es auch eine sogenannte Indexperson. Diese Indexperson sei die Person, die im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit die Infektion übertragen habe. Durch den zeitlichen Ablauf der Infektion und der Symptome sowie des positiven Testbefundes der Indexperson müsse ersichtlich sein, dass diese der beruflich bedingte Übertragungsweg gewesen sei. Darüber hinaus müsse ausgeschlossen werden, dass es eine Indexperson aus dem privaten Bereich gebe. Zudem werde ein konkretes, auf eine Arbeitsschicht begrenztes Ereignis mit der Indexperson benötigt. Dabei müsse davon ausgegangen werden, dass dieses Ereignis seiner Art nach geeignet gewesen sei, die Infektion zu übertragen. Ein geeignetes Ereignis setze einen Kontakt mit einer Dauer von mindestens 15 Minuten, geschlossene Räumlichkeiten und die Nichteinhaltung der pandemischen Arbeitsschutzregelungen (Abstand, Mund- und Nasenschutz) voraus. Die Klägerin habe keine konkrete Indexperson benannt und auch keine konkrete Situation beschrieben, die die Voraussetzung für ein geeignetes Ansteckungsereignis erfülle. Es sei nicht feststellbar, wann sich die Klägerin die Infektion zugezogen habe. Diese könne sowohl aus der versicherten Tätigkeit als auch aus dem privaten Bereich stammen. Für den möglichen Weg der Infektion gebe es im Fall der Klägerin keine Beweismittel, da Zeit und Ort der Infektion unbekannt seien. Mit dem hiergegen am 20. Oktober 2021 eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, dass während des Lockdowns im Rahmen der dritten Coronawelle ihr einziger Kontakt zu anderen Personen im Supermarkt bestanden habe. Die Benennung einer konkreten Indexperson sei nicht möglich. Die Ansicht, dass es auf die konkrete Person ankomme, dürfte für Mitarbeiter eines Supermarktes keinen obergerichtlichen Bestand haben. Es seien bereits Ersatzkriterien erarbeitet worden, wie die Anzahl der üblichen Personenkontakte, geringe Infektionszahlen und Kontakte außerhalb des versicherten Umfelds oder die räumlichen Gegebenheiten. Mit Widerspruchsbescheid vom 5. November 2021 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Sie wiederholte und vertiefte die Gründe der Ausgangsentscheidung und sah weiterhin die Erkrankung infolge der versicherten Tätigkeit als nicht bewiesen an.

Die Klägerin hat am 17. November 2021 Klage erhoben. Sie wiederholt und vertieft die Gründe ihres Widerspruchs und hält es für realitätsfremd, dass von einer Mitarbeiterin eines Supermarktes die Personalien einer sogenannten Indexperson verlangt würden. In ihrem Freundes- und Bekanntenkreis habe es keinen Coronafall gegeben.


Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22. September 2021 in Form des Widerspruchsbescheides vom 5. November 2021 zu verurteilen, bei ihr eine Coronainfektion im Zeitraum 7. – 11. Dezember 2020 als Arbeitsunfall anzuerkennen.


Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden und darauf, dass sich auch ein Infektionsgeschehen im Dezember 2020 nicht nachweisen lasse. Der Nachweis einer stattgehabten Covid-19-Infektion sei erst im Juni 2021 geführt worden.

Mit Schreiben vom 18. März 2022 hat das Gericht einen ausführlichen Hinweis zu seiner Einschätzung der Sach- und Rechtslage erteilt und die Beteiligten mit Schreiben vom 4. August 2022 zur beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands, insbesondere wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen, wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen, welche der Entscheidung zugrunde lagen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte nach Anhörung der Beteiligten gem. § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässig, aber unbegründet.

Der die Anerkennung einer stattgehabten Coronainfektion der Klägerin im Zeitraum 7. bis 11. Dezember 2020 als Arbeitsunfall ablehnende Bescheid der Beklagten vom 22. September 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. November 2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin daher nicht in ihren Rechten (vgl. § 54 Abs. 1, 2 SGG). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrte Anerkennung.

Rechtsgrundlage für die Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall ist § 8 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII). Nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten in Folge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit. Gemäß § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII sind Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Für einen Arbeitsunfall ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Verletzten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkendem Ereignis – dem Unfallereignis – geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls, sondern für die Gewährung einer Verletztenrente. Dabei müssen die Tatbestandsmerkmale „versicherte Tätigkeit“, „Unfallereignis“ und „Gesundheitsschaden“ im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit – nicht allerdings die Glaubhaftmachung und erst recht nicht die bloße Möglichkeit – ausreicht. Hierunter ist eine Wahrscheinlichkeit zu verstehen, nach der bei vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein so deutliches Übergewicht zukommt, dass hierauf die richterliche Überzeugung geründet werden kann (ständige Rechtsprechung, vgl. nur BSG, Urteil vom 30. Januar 2007 – B 2 U 23/05 R -, Urteil vom 17. Februar 2009, - B 2 U 18/07 R -, Urteil vom 31. Januar 2012 – B 2 U 2/11 R -, alle zitiert nach juris, m.w.N.).

Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls ist daher in der Regel erforderlich, dass das Verhalten des Versicherten, bei dem sich der Unfall ereignet hat, einerseits der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist, und dass diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat. Zunächst muss also eine Verbindung mit der im Gesetz genannten versicherten Tätigkeit bestehen, der innere bzw. sachliche Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Der innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht. Für die tatsächlichen Grundlagen dieser Werteentscheidung ist der volle Nachweis erforderlich.

Gemessen an diesen Maßstäben ist festzustellen, dass die Klägerin als Angestellte während ihrer Tätigkeiten im Supermarkt zwar grundsätzlich kraft Gesetzes auf der Grundlage von § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII unfallversichert und eine Infektion mit Symptomen als Gesundheitsstörung zu werten ist. Das Gericht kann jedoch kein Unfallereignis während der Ausübung der versicherten Tätigkeit im notwendigen Vollbeweis feststellen. Wie bereits die Beklagte zutreffend bemerkt, wurden erst im Juni 2021 über einen entsprechenden Antikörpertest Antikörper gegen SARS-CoV-2 bei der Klägerin nachgewiesen. Wo und wann sich die Klägerin im Zeitraum vor Juni 2021 infiziert hatte, kann demgegenüber nicht nachgewiesen werden. Vielmehr handelt es sich bei der Eingrenzung auf den Zeitraum Dezember 2020 bzw. die Woche 7. bis 11. Dezember 2020 um eine reine Vermutung der Klägerin. Die Klägerin konnte weder für diesen Zeitraum, noch für an einen anderen Zeitraum während ihrer beruflichen Tätigkeit vor Juni 2021 einen intensiven beruflichen Kontakt mit einer von der DGUV aktuell in diesem Zusammenhang geforderten sogenannten Indexperson – also einer nachweislich mit dem Erreger infizierten Person zwischen zwei Tagen vor dem Auftreten der ersten Symptome bei dieser Person und 10 Tagen nach Symptombeginn oder (soweit bei der Indexperson keine Symptome vorhanden waren) Kontakt zwischen zwei Tagen vor der Probenentnahme für den positiven Labornachweis der Indexperson und 10 Tagen danach - nachweisen (vgl. Mediencenter der DGUV: „COVID-19 als Berufskrankheit oder Arbeitsunfall“, Stand der Recherche August 2022 wie auch Antwort der Bundesregierung auf eine entsprechende Kleine Anfrage, Bundestagsdrucksache 19/24982) noch sonst den gehäuften beruflichen Kontakt zu infizierten Personen. Auch für die ausnahmsweise Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises zugunsten der Klägerin ist die Beweislage daher zu dünn. Denn auch hierfür müsste es im unmittelbaren Tätigkeitsumfeld der Klägerin nachweislich eine größere Anzahl von infektiösen Personen gegeben haben (vgl. DGUV, a.a.O.). Zwar ist es aufgrund des gesunden Menschenverstandes nachvollziehbar, dass die Klägerin während ihrer Tätigkeit als Kassiererin bzw. Verkäuferin im Supermarkt durch Kunden, die keinen oder nicht ausreichenden Mund- Nasenschutz getragen haben während der Winterwelle 2020 als gefährdet angesehen werden kann. Dies allein genügt jedoch nicht, für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls. Dieser Frage ist vielmehr im Rahmen der Prüfung einer COVID-19-Infektion als Berufskrankheit nachzugehen. Es fehlt in diesem Zusammenhang auch an der zeitlichen Begrenzung des Ereignisses (in der Regel eine Arbeitsschicht), die Tatbestandsmerkmal des Unfallbegriffs aus § 8 SGB VII ist (vgl. zu allem auch: G. Wagner in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 3. Aufl., § 8 SGB VII, Rdn 131 und 134 (Stand: 29.06.2022). Wegen der vielfältigen Ansteckungsmöglichkeiten auch außerhalb des beruflichen Umfelds ist grundsätzlich bei der Anwendung des Anscheinsbeweises im vorliegenden Zusammenhang Vorsicht angebracht (vgl. auch: Wolfgang Keller in: Hauck/Noftz SGB VII, § 8 Arbeitsunfall, 4. EL 2022, § 8 Rdn. 335b). Letztlich ist es trotz der entgegenstehenden Beteuerungen der Klägerin durchaus auch möglich, dass sie sich im privaten Bereich angesteckt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 105 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 193 SGG.

Referenznummer:

R/R9768


Informationsstand: 08.11.2024