Urteil
Kein Anspruch der Gesamtschwerbehindertenvertretung und der SBV auf Herausgabe von Listen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die krankheitsbedingt in den zurückliegenden zwölf Monaten länger als sechs Wochen arbeitsunfähig waren

Gericht:

LAG Hamm 13. Kammer


Aktenzeichen:

13 TaBV 60/19


Urteil vom:

10.01.2020


Tenor:

Die Beschwerden der Schwerbehindertenvertretung und der Gesamtschwerbehindertenvertretung gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Bielefeld vom 05.06.2019 - 3 BV 43/18 - werden zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Gründe:

A.

Die Beteiligten streiten um die quartalsweise Herausgabe von Listen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die krankheitsbedingt in den zurückliegenden zwölf Monaten länger als sechs Wochen arbeitsunfähig waren und/oder bei denen in den vergangenen zwölf Monaten ein betriebliches Eingliederungsmanagement eingeleitet wurde.

Die nach zwischenzeitlich erfolgten Verschmelzungen noch aus den Beteiligten zu 3. und 4. bestehenden Arbeitgeberinnen unterhalten Standorte in C, N, I, C1 und G.

Die zu 1. antragstellende Schwerbehindertenvertretung ist für den Standort C gewählt worden. Daneben bestehen an den Standorten N und I Schwerbehindertenvertretungen. Des Weiteren ist die zu 2. antragstellende Gesamtschwerbehindertenvertretung errichtet worden.

Erstmals mit E-Mail vom 16.04.2018 forderte die Gesamtschwerbehindertenvertretung von der Arbeitgeberseite eine Liste der Personen im gesamten Unternehmen, die "in den letzten 365 Tagen sechs Wochen und mehr krankheitsbedingt gefehlt haben", und eine weitere Liste mit den Mitarbeitern, "bei denen ein BEM vom Arbeitgeber eingeleitet wurde" (Bl. 6 d.A.).

Daraufhin erklärte sich die Arbeitgeberseite mit E-Mail vom 30.04.2018 nur dazu bereit, die gewünschten Informationen für den Kreis der schwerbehinderten Menschen einschließlich der diesen gleichgestellten Menschen mit Behinderungen zur Verfügung zu stellen (Bl. 7 d.A.).

Nach weiterem Schriftverkehr erhielten sowohl die Schwerbehinderten- als auch die Gesamtschwerbehindertenvertretung die geforderten Listen, aber jeweils nur bezogen auf die schwerbehinderten Menschen einschließlich der diesen gleichgestellten Menschen mit Behinderungen.

Die beiden Antragstellerinnen haben die Auffassung vertreten, ihnen ständen die gewünschten Informationen nicht nur für die schwerbehinderten Menschen einschließlich der diesen gleichgestellten Menschen mit Behinderungen zu, sondern für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dies ergebe sich bereits aus § 178 SGB IX.

Der neu gefasste Behindertenbegriff umfasse gem. § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB IX auch solche Menschen, die von einer Behinderung bedroht seien. Würde vor diesem Hintergrund bei der Zuständigkeit von Schwerbehinderungsvertretungen nur auf anerkannt schwerbehinderte Menschen abgestellt, liege darin ein Verstoß gegen die europarechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (im Folgenden: Richtlinie 2000/78).

Die Schwerbehindertenvertretung hat beantragt,

1. die Beteiligten zu 3.) bis 6.) - jetzt zu 3. und 4. - zu verpflichten, der Schwerbehindertenvertretung C unverzüglich nach Ablauf jedes Quartals eine Liste zur Verfügung zu stellen, in der alle Arbeitnehmer/Innen des Standortes C aufgeführt sind, die krankheitsbedingt in den letzten 12 Monaten länger als 6 Wochen arbeitsunfähig waren;

2. die Beteiligten zu 3.) bis 6.) - jetzt zu 3. und 4. - zu verpflichten, der Schwerbehindertenvertretung C quartalsmäßig eine Liste zur Verfügung zu stellen, aus der hervorgeht, bei welchen Arbeitnehmern/Innen des Standortes C in den vergangenen 12 Monaten ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) eingelegt wurde.

Die Gesamtschwerbehindertenvertretung hat beantragt,

1. die Beteiligten zu 3.) bis 6.) - jetzt zu 3. und 4. - werden verpflichtet, der Gesamt-Schwerbehindertenvertretung unverzüglich nach Ablauf jedes Quartals eine Liste zur Verfügung zu stellen, in der alle Arbeitnehmer/innen aufgeführt sind, die krankheitsbedingt länger als 6 Wochen in den letzten 12 Monaten arbeitsunfähig wären;

hilfsweise,

die Beteiligten zu 3.) bis 6.) - jetzt zu 3. und 4. - werden verpflichtet, der Gesamt-Schwerbehindertenvertretung unverzüglich nach Ablauf jedes Quartals eine Liste zur Verfügung zu stellen, in der alle Arbeitnehmer/innen der Standorte C1 und G aufgeführt sind, die krankheitsbedingt länger als 6 Wochen in den letzten 12 Monaten arbeitsunfähig waren;

2. die Beteiligten zu 3.) bis 6.) - jetzt zu 3. und 4. - zu verpflichten, der Gesamt-Schwerbehindertenvertretung quartalsmäßig eine Liste zur Verfügung zu stellen, aus der hervorgeht, bei welchen Arbeitnehmer/innen in den vergangenen 12 Monaten ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) eingeleitet wurde;

hilfsweise,

die Beteiligten zu 3.) bis 6.) zu verpflichten, der Gesamt-Schwerbehindertenvertretung quartalsmäßig eine Liste zur Verfügung zu stellen, aus der hervorgeht, bei welchen Arbeitnehmer/innen der Standorte C1 und G in den vergangenen 12 Monaten ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) eingeleitet wurde.

Die Arbeitgeberinnen haben beantragt,

die Anträge abzuweisen.

Sie haben darauf hingewiesen, die begehrten Auskünfte wiesen in der Allgemeinheit keinen Bezug zu den gesetzlichen Aufgaben einer Schwerbehinderten bzw. Gesamtschwerbehindertenvertretung auf. Es bestände nur ein (bereits erfüllter) Anspruch auf die gewünschten Informationen für anerkannt Schwerbehinderte.

Das Arbeitsgericht hat mit Beschluss vom 05.06.2019 die Anträge abgewiesen. Hinsichtlich der Gründe wird verwiesen auf II. der erstinstanzlichen Entscheidung (Bl. 130 ff. d. A.).

Dagegen wenden sich die Schwerbehinderten- und Gesamtschwerbehindertenvertretung mit ihren Beschwerden.

Sie verweisen darauf, dass das SGB IX gem. § 2 Abs. 1 S. 3 SGB IX auch von Behinderung bedrohte Menschen umfasse. Daneben müssten auch die europarechtlichen Vorgaben in der Richtlinie 2000/78 berücksichtigt werden.

Abgesehen davon folge aus § 178 Abs. 1 S. 3 SGB IX, dass auch eine Zuständigkeit für noch nicht anerkannt Schwerbehinderte bestehe.

Auch sei zu berücksichtigen, dass § 167 Abs. 2 SGB IX für alle Beschäftigten gelte; Entsprechendes müsse für den Bereich des § 167 Abs. 1 SGB IX maßgeblich sein.

Die Schwerbehindertenvertretung beantragt,

den Beschluss des Arbeitsgerichts Bielefeld vom 05.06.2019 - 3 BV 43/18 - abzuändern und die zu 3. und 4. beteiligten Arbeitgeberinnen zu verpflichten,

1. der Schwerbehindertenvertretung unverzüglich nach Ablauf jedes Quartals eine Liste zur Verfügung zu stellen, in der alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Standortes C aufgeführt sind, die krankheitsbedingt in den letzten zwölf Monaten länger als sechs Wochen arbeitsunfähig waren,

2. der Schwerbehindertenvertretung quartalsmäßig eine Liste zur Verfügung zu stellen, aus der hervorgeht, bei welchen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern des Standortes C in den vergangenen zwölf Monaten ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) eingeleitet wurde.

Der Gesamtschwerbehindertenvertretung beantragt,

den Beschluss des Arbeitsgerichts Bielefeld vom 05.06.2019 - 3 BV 43/18 - abzuändern und die zu 3. und 4. beteiligten Arbeitgeberinnen zu verpflichten,

1. der Gesamtschwerbehindertenvertretung unverzüglich nach Ablauf jedes Quartals eine Liste zur Verfügung zu stellen, in der alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Standorte C1 und G aufgeführt sind, die krankheitsbedingt in den letzten zwölf Monaten länger als sechs Wochen arbeitsunfähig waren,

2. der Gesamtschwerbehindertenvertretung quartalsmäßig eine Liste zur Verfügung zu stellen, aus der hervorgeht, bei welchen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern der Standorte C1 und G in den vergangenen zwölf Monaten ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) eingeleitet wurde.

Die Arbeitgeberinnen beantragen,

die Beschwerde zurückzuweisen.

sie meinen, dass die geltend gemachten Ansprüche schon deshalb nicht beständen, weil die Schwerbehinderten- und Gesamtschwerbehindertenvertretung nur für anerkannt schwerbehinderte und für ihnen gleichgestellte behinderte Menschen zuständig seien.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst derer Anlagen ergänzend Bezug genommen.

Rechtsweg:

Arbeitsgericht Bielefeld, Beschluss vom 05.06.2019 - 3 BV 43/18

Quelle:

Justizportal des Landes NRW

B.

Die zulässigen Beschwerden der Schwerbehinderten- und Gesamtschwerbehindertenvertretung sind unbegründet.

I. Die als Globalanträge zu verstehenden beiden Anträge der Schwerbehindertenvertretung, gestützt auf § 178 Abs. 2 S. 1 SGB IX, sind schon deshalb ungerechtfertigt, weil die geltend gemachten Unterrichtungsansprüche in Form der Überlassung zweier Listen bestimmten Inhalts nicht in allen von den Anträgen erfassten Fallkonstellationen bestehen (vgl. z.B. BAG, 17.08.2010 - 9 ABR 83/09 - AP SGB IX § 95 Nr. 3). Denn die Begehren erstrecken sich unterschiedslos auf alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Standortes C, während sich der Zuständigkeitsbereich der Schwerbehindertenvertretung innerhalb der Gesamtarbeitnehmerschaft auf die Gruppe der schwerbehinderten und der diesen gleichgestellten behinderten Menschen beschränkt.

1. Schon der Bedeutungszusammenhang der einschlägigen Regelungen im SGB IX spricht dafür, dass die der Schwerbehindertenvertretung gesetzlich zuerkannten Ansprüche nur bestehen für den Bereich der schwerbehinderten Menschen (§ 2 Abs. 2 SGB IX) einschließlich der ihnen gem. § 2 Abs. 3 SGB IX gleichgestellten behinderten Menschen.

a) So findet sich im Kapitel 1 des Teils 3 des SGB IX, an den auch in § 2 Abs. 2 SGB IX angeknüpft wird, zu Beginn in § 151 Abs. 1 SGB IX hinsichtlich des Geltungsbereichs die Bestimmung, dass die Regelungen des Teils 3 auf Schwerbehinderte und diesen gleichgestellte behinderte Menschen begrenzt sind. Zu diesem Teil 3 gehört das Kapitel 3 mit den Regelungen zur Prävention in § 167 Abs. 1 SGB IX (vgl. Düwell in LPK-SGB IX, 5 Aufl., § 167 Rn. 10) sowie das Kapitel 5 mit seinen Bestimmungen zu den Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung, wobei sich in § 178 Abs. 1 S. 1 u. 2, Abs. 2 S. 1 SGB IX auch nochmals ausdrücklich die Beschränkung der Aufgaben auf den Personenkreis der schwerbehinderten Menschen findet.

b) Bestätigt wird dieses Ergebnis durch die im vorliegenden Zusammenhang relevante Norm des § 167 Abs. 2 S. 1 SGB IX zum betrieblichen Eingliederungsmanagement.

aa) So wird in § 167 Abs. 2 S. 1 Hs 1 SGB IX an den allgemeinen Begriff des Beschäftigten angeknüpft, wozu u. a. alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zählen einschließlich solcher, die im Sinne des § 2 Abs. 1 S. 1, S. 3 SGB IX behindert oder von einer Behinderung bedroht sind.

bb) Demgegenüber begrenzt der Gesetzgeber in § 167 Abs. 2 S. 1, Hs 2 SGB IX bei der Bestimmung der zu beteiligenden Interessenvertretungen die Einschaltung der Schwerbehindertenvertretung auf die Gruppe der schwerbehinderten Menschen im Sinne des § 2 Abs. 2, 3 SGB IX. Daraus folgt, dass bei nicht schwerbehinderten Personen in Betrieben allein der dazu gem. § 176 SGB IX berufene Betriebsrat zu beteiligen ist (Düwell, a.a.O., § 167 Rn. 62).


2. Die darin zum Ausdruck kommende Begrenzung der Vertretungsbefugnis einer Schwerbehindertenvertretung wird gestützt durch die Bestimmung des § 177 Abs. 2 SGB IX, wonach für die Wahl dieser Interessenvertretung ausschließlich schwerbehinderte Menschen wahlberechtigt sind. Mithin ist die demokratische Legitimation der Schwerbehindertenvertretung darauf beschränkt, nur für den genannten Personenkreis die gesetzlich zugewiesenen Aufgaben einschließlich der Rechte namentlich nach § 178 Abs. 2 SGB IX wahrzunehmen.


3. Daran ändert sich nichts dadurch, dass der Gesetzgeber in § 178 Abs. 1 S. 3 SGB IX bei Verfahren zur Feststellung einer Behinderung gem. § 152 SGB IX der Schwerbehindertenvertretung unterschiedslos für alle Beschäftigten eine Befugnis zugewiesen und damit die Aufgabenstellung über den Kreis der schwerbehinderten Menschen hinaus erweitert hat. Denn diese Kompetenzzuweisung ist als eine Art Rechtsdienstleistung (vgl. Düwell. a.a.O., § 178 Rn. 18) beschränkt auf eine bloße Unterstützung des jeweiligen Antragstellers, ohne dass damit beteiligungsrelevante Rechte verbunden sind (Pahlen in: Neumann/Pahlen/Winkler/Jabben, SGB IX, 13 Aufl., § 178 Rn. 7a).


4. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesarbeitsgericht (17.08.2010 - 9 ABR 83/09 - AP SGB IX § 95 Nr. 3; siehe auch BAG 14.03.2012 - 7 ABR 67/10 - AP SGB IX § 95 Nr. 4; LAG N, 26.01.2017 - 3 TaBV 95/16 - LAGE § 95 Nr. 5) im Zusammenhang mit § 95 Abs. 1, 2 S. 1 SGB IX (jetzt § 178 Abs. 1, 2 S. 1 SGB IX) in der Vergangenheit bereits zu Recht herausgestrichen hat, dass es Aufgabe der Schwerbehindertenvertretung ist, die Interessen der schwerbehinderten Menschen zu vertreten und deren spezifische Belange zu wahren. Kann sich hingegen eine Angelegenheit gleichmäßig und unabhängig von einer Schwerbehinderung oder Gleichstellung auf alle Beschäftigten auswirken, ist für die Wahrung der allgemeinen Arbeitnehmerinteressen im Anwendungsbereich des BetrVG der Betriebsrat zuständig (vgl. zu § 84 Abs. 2, jetzt § 167 Abs. 2 SGB IX: BAG, 07.12.2012 - 1 ABR 46/10 - AP SGB IX § 84 Nr. 4).

Damit wird durch eine lückenlose Interessenvertretung in kollektivrechtlicher Hinsicht den Anforderungen des Art. 5 der Richtlinie 2000/78, nämlich angemessene Vorkehrungen für alle Menschen mit Behinderungen zu treffen, ausreichend Rechnung getragen.


II. Unter Verweis auf die Ausführungen unter B. I., die hier entsprechend gelten, besteht auch für die Gesamtschwerbehindertenvertretung kein Recht auf die von ihr global für die gesamte Arbeitnehmerschaft der Standorte C1 und G (vgl. § 180 Abs. 6 S. 1 Hs 1 SBG IX) geltend gemachten Ansprüche.

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der entscheidungserheblichen Rechtsfrage war die Rechtsbeschwerde zuzulassen (§ 92 Abs. 1 S. 1, 2 i.V.m. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG).

Referenznummer:

R/R8507


Informationsstand: 10.08.2020