Urteil
Beweis des Zugangs von Einwurfeinschreiben - Datenschutz im bEM

Gericht:

LAG Baden-Württemberg 4. Kammer


Aktenzeichen:

4 Sa 68/20


Urteil vom:

28.07.2021


Grundlage:

  • KSchG § 1 Abs. 2 |
  • SGB IX § 167 Abs. 2 |
  • DSGVO Art. 4 Nr. 15 |
  • DSGVO Art. 9 Abs. 1 |
  • DSGVO Art. 7 Abs. 4 |
  • KSchG § 1 Abs. 2 |
  • SGB IX § 167 Abs. 2 |
  • DSGVO Art. 4 Nr. 15 |
  • DSGVO Art. 9 Abs. 1 |
  • DSGVO Art. 7 Abs. 4 |
  • ZPO § 97 Abs. 1

Leitsätze:

1. Ein Beweis des ersten Anscheins für den Zugang eines Einwurfeinschreibens kann nur angenommen werden, wenn neben dem Einlieferungsbeleg auch eine Reproduktion des Auslieferungsbelegs vorgelegt wird. Die Vorlage des bloßen Sendungsstatus ist nicht ausreichend (Anschluss an LAG Baden-Württemberg 17. September 2020 - 3 Sa 38/19 -).

2. Aus § 167 Abs. 2 Satz 3 SGB IX (in der bis zum 09.06.2021 geltenden Fassung, seit 10.06.2021: Satz 4) folgt nicht nur, dass der Arbeitnehmer auf die Art und den Umfang der im betrieblichen Eingliederungsmanagement (bEM) erhobenen und verwendeten Daten hinzuweisen ist. Vielmehr ergibt sich hieraus auch, dass die Datenverarbeitung datenschutzkonform zu erfolgen hat.

3. Die Erreichung der Ziele des bEM erfordert nicht, dass nicht im bEM-Verfahren beteiligten Vertretern des Arbeitgebers vom Arbeitnehmer im Verfahren mitgeteilte Diagnosedaten bekanntzumachen wären. Wenn dem Arbeitnehmer im Rahmen des § 167 Abs. 2 Satz 3 SGB IX (in der bis zum 09.06.2021 geltenden Fassung, seit 10.06.2021: Satz 4) dennoch eine Einwilligung in eine solche Datenoffenlegung abverlangt wird, ist im besonderen Maße auf die Freiwilligkeit hinzuweisen.

Rechtsweg:

ArbG Reutlingen, Urteil vom 26.11.2020 - 1 Ca 173/20

Quelle:

Justizportal des Landes Baden-Württemberg

Tenor:

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Reutlingen vom 26.11.2020 (1 Ca 173/20) wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten der Berufung zu tragen.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:


Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen arbeitgeberseitigen, krankheitsbedingten Kündigung, über Weiterbeschäftigung sowie über die Erteilung eines Zwischenzeugnisses.

Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlich unstreitigen und streitigen Vorbringens der Parteien und der erstinstanzlich gestellten Anträge wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG auf den Tatbestand des arbeitsgerichtlichen Urteils Bezug genommen.
Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 26. November 2020 festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die Kündigung vom 30. April 2020 aufgelöst wurde. Die Beklagte wurde zur Weiterbeschäftigung der Klägerin und zur Erteilung eines Zwischenzeugnisses verurteilt. Das Arbeitsgericht hielt die Kündigung für unverhältnismäßig vor dem Hintergrund, dass der Werksarzt dem Vorgesetzten Herrn L. am 22. Januar 2020 eine Mitteilung über Einschränkungen, die am Arbeitsplatz der Klägerin zu beachten sein, hat zukommen lassen, welche der Vorgesetzte mit Ausnahme der empfohlenen Arbeitsplatzrotation, die die Klägerin abgelehnt habe, auch umgesetzt habe. Ab diesem Zeitpunkt bis zum 23. April 2020 habe es keine nennenswerten Arbeitsunfähigkeitszeiten mehr gegeben. Es erscheine deshalb möglich, dass aufgrund des veränderten Einsatzes der Kläger künftig weniger Fehlzeiten auftreten werden. Angesichts der langen Betriebszugehörigkeit der Klägerin wäre es der Beklagten deshalb zuzumuten gewesen, den Erfolg oder Misserfolg der vom Betriebsarzt initiierten Änderung der Tätigkeit abzuwarten.

Dieses Urteil wurde der Beklagten am 8. Dezember 2020 zugestellt. Hiergegen richtet sich die vorliegende Berufung der Beklagten, die am 21. Dezember 2020 beim Landesarbeitsgericht einging und am 8. Februar 2021 begründet wurde.

Die Beklagte beanstandet, dass das Arbeitsgericht schon von einer falschen Tatsachengrundlage ausgegangen sei. Der Arbeitsplatz der Klägerin sei nicht erst ab 22. Januar 2020 umgestellt worden, sondern bereits ab 6. Februar 2019 im Hinblick auf eine vorangegangene LGW- Mitteilung (Mitteilung zu leistungsgewandelten Mitarbeitern) vom 6. Februar 2019. Im Übrigen sei die Klägerin schon seit 2014 mit der leichtesten Tätigkeit in der Werkstatt W050 beschäftigt worden. Der Arbeitsplatz habe schon seit 2017 den arbeitsmedizinischen Empfehlungen entsprochen. Trotz der Bemühungen der Beklagten um eine leidensgerechte Beschäftigung seien die Fehlzeiten nicht zurückgegangen. Eine Berücksichtigung der am 22. Januar 2020 bekannt gemachten arbeitsmedizinischen Einschränkungen seien somit nicht kausal für einen Rückgang von Fehlzeiten.

Sie ergänzt außerdem ihren Vortrag zur Einleitung des betrieblichen Eingliederungsmanagements (bEM) dahingehend, dass das Einladungsschreiben vom 21. Januar 2020 nebst Anlagen (insbesondere Datenschutzerklärung) (Anlage SWM 5) am 21. Januar 2020 vormittags von der Mitarbeiterin der Personalabteilung Frau L. gefertigt, ausgedruckt und sodann einkuvertiert worden sei. Frau L. habe das verschlossene Kuvert im Gebäude 501 in die Postbox der Personalabteilung eingeworfen. Das Schreiben sei noch am selben Vormittag von Frau H. der Poststelle bearbeitet worden. Sie habe die von der Deutschen Post AG zur Verfügung gestellten Postlabel benutzt. Ein Label mit der aufgedruckten Sendungsnummer ( ... ) sei auf den Briefumschlag geklebt worden, das andere Label mit derselben Sendungsnummer sei auf das Formular "Versandliste" (Anlage SWM 7) geklebt worden. Der Brief sei als Einwurfeinschreiben bei der Post aufgegeben worden. Dieser Brief sei bei der Klägerin am 23. Januar 2020 zugestellt worden, wie sich aus dem vorgelegten Sendungsstatus der Deutschen Post AG (Anlage SWM 8) ergebe. Die Beklagte meint, dies müsse als Nachweis genügen. Sie habe alles ihr Zumutbare getan. Einen Auslieferungsbeleg habe sie nicht.


Die Beklagte beantragt:

Das Urteil des Arbeitsgerichts Reutlingen vom 26.11.2020 (1 Ca 173/20) wird abgeändert.

Die Klage wird abgewiesen.


Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin hält die Berufung mangels hinreichender Auseinandersetzung mit den Entscheidungsgründen des arbeitsgerichtlichen Urteils bereits für unzulässig.

Sie rügt den neuen Tatsachenvortrag der Beklagten als verspätet.

Im Übrigen wiederholt und vertieft sie ihr bereits erstinstanzliches Vorbringen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird gemäß § 64 Abs. 6 ArbGG iVm. § 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO auf den Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schrift-sätze nebst Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

Entscheidungsgründe:


Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.

A

Die Berufung ist zulässig.

1. Sie ist gem. § 64 Abs. 2 Buchstabe c ArbGG statthaft. Sie wurde auch form- und fristgerecht eingelegt und fristgerecht begründet (§§ 64 Abs. 6, 66 Abs. 1 ArbGG; § 519 ZPO).

2. Die Berufung wurde entgegen der Ansicht der Klägerin auch formgerecht begründet iSv. § 64 Abs. 6 ArbGG iVm. § 520 Abs. 3 ZPO.

Die Beklagte beanstandete im Wesentlichen, dass ihr streitiger Vortrag nicht ausreichend berücksichtigt worden sei, dass der neue Arbeitsplatz der Klägerin entsprechend den LGW- Mitteilungen nicht erst ab 22. Januar 2020 eingerichtet worden sei, sondern die Beschränkungen der Klägerin bereits seit 6. Februar 2090 berücksichtigt worden sein, ohne dass sich dies auf die Fehlzeiten der Klägerin ausgewirkt hätte. Dies ist als Auseinandersetzung iSd. § 64 Abs. 6 ArbGG iVm. § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und 3 ZPO ausreichend.

B

Die Berufung ist nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben.

I.

Das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien wurde nicht durch die streitgegenständliche Kündigung aufgelöst. Die Kündigung ist nicht sozial gerechtfertigt iSd. § 1 Abs. 2 KSchG.

1. Die Wirksamkeit einer auf häufige Kurzerkrankungen gestützten ordentlichen Kündigung setzt zunächst eine negative Gesundheitsprognose voraus. Im Kündigungszeitpunkt müssen objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen. Häufige Kurzerkrankungen in der Vergangenheit können indiziell für eine entsprechende künftige Entwicklung sprechen (erste Stufe). Die prognostizierten Fehlzeiten sind nur dann geeignet, eine krankheitsbedingte Kündigung zu rechtfertigen, wenn sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. Dabei können neben Betriebsablaufstörungen auch wirtschaftliche Belastungen, etwa durch zu erwartende, einen Zeitraum von mehr als sechs Wochen pro Jahr übersteigende Entgeltfortzahlungskosten, zu einer solchen Beeinträchtigung führen (zweite Stufe). Ist dies der Fall, ist im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber billigerweise nicht mehr hingenommen werden müssen (dritte Stufe) (BAG 24. April 2018 - 2 AZR 6/18 -; BAG 16. Juli 2015 - 2 AZR 15/15 -; BAG 20. November 2014 - 2 AZR 755/13 -).

2. Ob der Klägerin auf der ersten Stufe eine negative Gesundheitsprognose gestellt werden kann und ob dies auf der zweiten Stufe zu erheblichen Beeinträchtigungen betrieblicher Interessen führen würde, kann vorliegend dahinstehen, auch wenn viel dafür spricht.

3. Die Kündigung erweist sich jedenfalls im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung auf der dritten Stufe als nicht sozial gerechtfertigt. Sie ist unverhältnismäßig. Die Beklagte hat nämlich trotz Notwendigkeit der Durchführung eines bEM ein solches nicht oder jedenfalls nicht ordnungsgemäß eingeleitet.

a) Es ist dabei von folgenden Grundsätzen auszugehen.

aa) Die Durchführung des bEM ist zwar keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Kündigung. § 84 Abs. 2 SGB IX ist dennoch kein bloßer Programmsatz. Die Norm konkretisiert den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Mit Hilfe des bEM können möglicherweise mildere Mittel als die Kündigung erkannt und entwickelt werden. Möglich ist, dass auch ein tatsächlich durchgeführtes bEM kein positives Ergebnis hätte erbringen können. In einem solchen Fall darf dem Arbeitgeber kein Nachteil daraus entstehen, dass er es unterlassen hat. Will sich der Arbeitgeber hierauf berufen, hat er die objektive Nutzlosigkeit des bEM darzulegen und ggf. zu beweisen. Dazu muss er umfassend und detailliert vortragen, warum weder ein weiterer Einsatz auf dem bisherigen Arbeitsplatz, noch dessen leidensgerechte Anpassung oder Veränderung möglich gewesen seien und der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit habe eingesetzt werden können, warum also ein bEM im keinem Fall dazu hätte beitragen können, neuerlichen Krankheitszeiten vorzubeugen und das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Ist es dagegen denkbar, dass ein bEM ein positives Ergebnis erbracht, das gemeinsame Suchen nach Maßnahmen zum Abbau der Fehlzeiten also Erfolg gehabt hätte, muss sich der Arbeitgeber regelmäßig vorhalten lassen, er habe "vorschnell" gekündigt (BAG 20. November 2014 - 2 AZR 755/13 -).

bb) Die Durchführung eines bEM ist auf verschiedene Weisen möglich. § 167 Abs. 2 SGB IX schreibt weder konkrete Maßnahmen noch ein bestimmtes Verfahren vor. Das bEM ist ein rechtlich regulierter verlaufs- und ergebnisoffener "Suchprozess", der individuell angepasste Lösungen zur Vermeidung zukünftiger Arbeitsunfähigkeit ermitteln soll. Allerdings lassen sich aus dem Gesetz gewisse Mindeststandards ableiten. Zu diesen gehört es, die gesetzlich dafür vorgesehenen Stellen, Ämter und Personen zu beteiligen und zusammen mit ihnen eine an den Zielen des bEM orientierte Klärung ernsthaft zu versuchen. Ziel des bEM ist es festzustellen, aufgrund welcher gesundheitlichen Einschränkungen es zu den bisherigen Ausfallzeiten gekommen ist, und herauszufinden, ob Möglichkeiten bestehen, sie durch bestimmte Veränderungen künftig zu verringern, um so eine Kündigung zu vermeiden. Es ist Sache des Arbeitgebers, die Initiative zur Durchführung des bEM zu ergreifen. Bei der Durchführung muss er eine bestehende betriebliche Interessenvertretung, das Einverständnis des Arbeitnehmers vorausgesetzt, hinzuziehen. Kommt es darauf an, ob der Arbeitgeber eine solche Initiative ergriffen hat, kann davon nur ausgegangen werden, wenn er den Arbeitnehmer zuvor nach § 167 Abs. 2 Satz 3 SGB IX auf die Ziele des bEM sowie Art und Umfang der dabei erhobenen Daten hingewiesen hat . Der Hinweis erfordert eine Darstellung der Ziele, die inhaltlich über eine bloße Bezugnahme auf die Vorschrift des § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX hinausgeht. Zu diesen Zielen rechnet die Klärung, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden, erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und wie das Arbeitsverhältnis erhalten werden kann. Dem Arbeitnehmer muss verdeutlicht werden, dass es um die Grundlagen seiner Weiterbeschäftigung geht und dazu ein ergebnisoffenes Verfahren durchgeführt werden soll, in das auch er Vorschläge einbringen kann. Daneben ist ein Hinweis zur Datenerhebung und Datenverwendung erforderlich, der klarstellt, dass nur solche Daten erhoben werden, deren Kenntnis erforderlich ist, um ein zielführendes, der Gesundung und Gesunderhaltung des Betroffenen dienendes bEM durchführen zu können. Dem Arbeitnehmer muss mitgeteilt werden, welche Krankheitsdaten - als sensible Daten iSv. Art. 9 Abs. 1, 4 Nr. 15 DSGVO - erhoben und gespeichert und inwieweit und für welche Zwecke sie dem Arbeitgeber zugänglich gemacht werden. Nur bei entsprechender Unterrichtung kann vom Versuch der ordnungsgemäßen Durchführung eines bEM die Rede sein (BAG 20. November 2014 - 2 AZR 755/13 -).

b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe kann schon eine ordnungsgemäße Einleitung des bEM-Verfahrens nicht festgestellt werden. Auf das ausdrückliche Bestreiten der Klägerin vermochte die darlegungs- und beweisbelastete Beklagte den Zugang des Einladungsschreibens gemäß § 167 Abs. 2 Satz 4 SGB IX nicht nachzuweisen.

aa) Die Beklagte behauptet einen Zugang des Einladungsschreibens vom 21. Januar 2020 bei der Klägerin per Einwurfeinschreiben.Beim Einwurfeinschreiben erfolgt die Ablieferung durch Einwurf der Sendung in den Briefkasten oder das Postfach des Empfängers. Unmittelbar vor dem Einwurf zieht der Postangestellte das sogenannte "Peel-off-Label" (Abziehetikett), das zur Identifizierung der Sendung dient, von dieser ab und klebt es auf den so vorbereiteten, auf die eingeworfene Sendung bezogenen Auslieferungsbeleg. Auf diesem Beleg bestätigt der Postangestellte nach dem Einwurf mit seiner Unterschrift und der Datumsangabe die Zustellung. Auch beim Einwurfeinschreiben erhält der Absender auf Wunsch - neben der telefonischen Auskunft - eine Reproduktion des elektronisch archivierten Auslieferungsbelegs. Bei Einhaltung dieses Verfahrens ist der Schluss gerechtfertigt, dass die eingelieferte Sendung tatsächlich in den Briefkasten des Empfängers gelangt ist. Für den Absender streitet daher beim Einwurfeinschreiben nach Vorlage des Einlieferungsbelegs zusammen mit der Reproduktion des Auslieferungsbelegs der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass die Sendung durch Einlegen in den Briefkasten bzw. das Postfach zugegangen ist, wenn das vorbeschriebene Verfahren eingehalten wurde (BGH 27. September 2016 - II ZR 299/15 -; LAG Mecklenburg-Vorpommern - 2 Sa 139/18 -).

Etwas anderes gilt aber, wenn neben dem Einlieferungsbeleg kein Auslieferungsbeleg, sondern nur ein "Sendungsstatus" vorgelegt wird. Hierzu führte bereits die 3. Kammer des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg mit Urteil vom 17. September 2020 (3 Sa 38/19) aus:

"Der Sendungsstatus hat mit einem Auslieferungsbeleg nichts gemein, sondern bietet dem Absender die Möglichkeit, unter Angabe der Lieferungsnummer den jeweiligen Status der Sendung, vornehmlich den Hinweis auf deren Zustellung, bestätigt zu bekommen (Putz NJW 2008, 2450). Aus dem Sendungsstatus geht weder der Name des Zustellers hervor, noch beinhaltet er eine technische Reproduktion einer Unterschrift des Zustellers, mit der dieser beurkundet, die Sendung eingeworfen zu haben. Die Aussagekraft des Sendungsstatus reicht nicht aus, um auf ihn den Anscheinsbeweis des Zugangs zu gründen (AG Kempen 22. August 2006 - 11 C 432/05 - NJW 2007, 1215)."

Die vorliegend zur Streitentscheidung berufene Kammer 4 schließt sich dem voll umfänglich an.

bb) Vorliegend hat die Beklagte lediglich einen Einlieferungsbeleg und den "Sendungsstatus" der Deutschen Post AG vorgelegt. Trotz Hinweis mit Verfügung vom 27. Mai 2021 legte die Beklagte weiterhin keinen Auslieferungsbeleg vor. Dass nach Bekunden der Beklagten im Berufungstermin die Anfragefrist für den Erhalt eines Auslieferungsbelegs zum Zeitpunkt der gerichtlichen Verfügung bereits abgelaufen war, fällt in ihre Risikosphäre.

c) Aber selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass der Klägerin das Einladungsschreiben zugegangen ist, erweist sich auch die (behauptetermaßen) beigefügte Unterrichtung über die Art und den Umfang der für das bEM erhobenen und verwendeten Daten als unzureichend.

aa) Die Klärung von Möglichkeiten zur Beendigung gegenwärtiger und Vermeidung neuer Arbeitsunfähigkeiten sowie zum Erhalt des Arbeitsplatzes ist nur möglich, wenn die beteiligten Akteure im möglichen Umfang Informationen über die Ausgangssituation haben. Daher ist das Erfassen dieser Ausgangssituation denknotwendig Bestandteil eines bEM. Zu beachten ist dabei aber, dass berechtigte Interessen des Beschäftigten gegen eine umfassende Informationssammlung sprechen können. Nicht zuletzt, weil es in der Regel um besonderer Kategorien personenbezogener Daten iSd. Art. 9 EU-DSGVO, insbesondere Gesundheitsdaten nach Art. 4 Nr. 15 EU-DSGVO geht, gehört zu den Pflichten des Arbeitgebers auch die Beachtung des Datenschutzes. Die Beachtung des Datenschutzes ist in § 167 Abs. 2 SGB IX zwar verklausuliert, aber dennoch ausdrücklich vorgeschrieben. Ihre Notwendigkeit ergibt sich zudem aus dem besonderen Spannungsfeld der in wesentlichen Teilen auch schon rechtlich geregelten Interessen, in dem das bEM notwendig angesiedelt ist. Dies sind insbesondere das Erkenntnisinteresse des Arbeitgebers an allen für die Leistungsfähigkeit des Beschäftigten relevanten Informationen und das Interesse des Beschäftigten am Erhalt seines Arbeitsplatzes auch bei gesundheitlicher Einschränkung. Auch ganz allgemein ist die Einhaltung datenschutzrechtlichen Anforderungen für eine vertrauensvolle und effektive Zusammenarbeit im Rahmen des bEM unerlässlich (FRR/Ritz/Schian SGB IX § 167 Rn. 29 und 30).

Bei der Organisation des Datenschutzes sind folgende Leitlinien einzuhalten. Der Arbeitgeber - und in Anlehnung an den Rechtsgedanken des § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB I jede andere Person, die Personalentscheidungen treffen kann - darf ohne ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen Zugang nur zu solchen Daten haben, die für den Nachweis der Erfüllung der Pflicht zum bEM erforderlich sind oder ohne die er seine Zustimmung zu geplanten Maßnahmen etc nicht erteilen kann. Diagnosen und ähnlich sensible Daten dürfen dem Arbeitgeber ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung des Betroffenen nicht zugänglich sein (FRR/Ritz/Schian SGB IX § 167 Rn. 44a und 45).

bb) Vorliegend hat die Beklagte in der "Datenschutzerklärung" versucht, von der Klägerin eine Einwilligung nicht nur zur "Erhebung" und "Nutzung" (auch) von Gesundheitsdaten zu erlangen, sondern gemäß dem ersten Absatz auch zur "Bekanntmachung" dieser Daten unter anderen gegenüber dem "Vorgesetzten" und der "Standortleitung". Die Einwilligung in die "Bekanntgabe" von Gesundheitsdaten gegenüber dem "Vorgesetzten" mag man vielleicht noch einschränkend auslegen können, dass dies nur gelten solle, wenn der Vorgesetzte als Teilnehmer des betrieblichen Eingliederungsteams (BET) herangezogen wurde. Im beigefügten Antwortschreiben hätte die Klägerin eine solche Beteiligung des Vorgesetzten ankreuzen können. Für eine "Bekanntmachung" jedenfalls aller offenbarter Gesundheitsdaten (insb. Diagnosen) gegenüber der Standortleitung besteht dagegen kein nachvollziehbarer Grund. Hier reicht es aus, wenn der Arbeitgeber weiß, auf welche Einschränkungen er bei einer etwa gebotenen Umgestaltung von Arbeitsplätzen zu achten hat. Einer Kenntnis, auf welcher Diagnose diese Einschränkung beruht, bedarf er nicht. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass ein Arbeitnehmer auch dem nicht im BET beteiligten Standortleiter freiwillig seine Gesundheitsdaten überlassen möchte iSd. Art. 9 Abs. 2 a; 7 EU-DSGVO. Dann muss dem Arbeitnehmer aber im besonderem Maße deutlich gemacht werden, dass dieser Teil der Einwilligung nur freiwillig ist, weil sie für die Zwecke der Durchführung des bEM nicht erforderlich ist, vergleiche Art. 7 Abs. 4 EU-DSGVO. Das ist vorliegend nicht der Fall.

d) Ob auch noch andere Mängel bei der Einleitung des bEM-Verfahrens vorliegen, kann dahinstehen.

e) Es kann somit vorliegend nicht ausgeschlossen werden, dass bei erfolgter bzw. ordnungsgemäß erfolgter Unterrichtung über das bEM die Klägerin an einem solchen teilgenommen hätte und im Rahmen eines solchen bEM Möglichkeiten einer anderen leidensgerechten Beschäftigung hätten gefunden werden können. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass kurz vor Ausspruch der Kündigung ohnehin schon ein LGW-Prozess eingeleitet war, somit auch die Beklagte selbst nicht ausschließen wollte, dass leidensgerechte Umstellungen der Arbeitsplätze oder Arbeitsprozesse geboten sein könnten.

Dass das bEM entbehrlich gewesen wäre, hat die Beklagte schon selbst nicht behauptet.

II.

Die Klägerin hat im Bestandsschutzstreit obsiegt. Es überwiegt somit ihr Beschäftigungsinteresse gegenüber den gegenläufigen Interessen der Beklagten. Der Klägerin steht daher ein allgemeiner Weiterbeschäftigungsanspruch zu.

III.

Das Arbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass die Klägerin angesichts der ausgesprochenen Kündigung einen triftigen Grund hatte, ein Zwischenzeugnis zu verlangen. Die Beklagte hat ein solches zu erteilen gemäß § 109 Abs. 1 GewO.


IV. Nebenentscheidungen

1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

2. Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG liegen nicht vor.

Referenznummer:

R/R9352


Informationsstand: 02.11.2021