Urteil
Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand

Gericht:

VG Bremen


Aktenzeichen:

6 K 1628/19


Urteil vom:

20.12.2022


Grundlage:

  • BBG § 44 Abs 1 |
  • BBG § 46 Abs 1 S 2 |
  • BBG § 47 Abs 1 S 1 |
  • SGB IX § 164 |
  • VwGO § 86 Abs. 1 S 1

Leitsatz:

1. Zur hinreichenden Nachvollziehbarkeit eines amtsärztlichen Gutachtens gem. § 47 Abs. 1 Satz 1 BBG (hier: verneint).

2. Zu den Grenzen der gerichtlichen Aufklärungspflicht bei Unmöglichkeit der Sachverhaltsaufklärung in der Frage der Dienstunfähigkeit einer an Multipler Sklerose und einer psychischen Erkrankung leidenden Beamtin, die derzeit (wieder) dienstfähigen ist, zum drei Jahre in der Vergangenheit liegenden entscheidungserheblichen Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Verwaltungsgericht Bremen

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 15.03.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.12.2019 wird aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen ihre Zurruhesetzung wegen Dienstunfähigkeit.

Die am 1981 geborene Klägerin hat das Amt einer Regierungshauptsekretärin (Besoldungsgruppe A 8) inne. Sie leidet seit dem Jahr 2013 unter Multipler Sklerose, ihr ist ein Grad der Behinderung von 70 und das Merkzeichen G (Gehbehinderung) zuerkannt. Die Klägerin ist seit dem 2016 ununterbrochen dienstunfähig erkrankt. Zuvor war sie bei der Beklagten als Bürosachbearbeiterin im Bereich der zentralen Rechnungsverarbeitung tätig. Ihre Beschäftigungsdienststelle war das Bundeswehrdienstleitungszentrum in , ihr Dienstort in . Die Klägerin hat zwei minderjährige Kinder.

Mit Schreiben vom 26.10.2016 teilte das Bundesamt für Personalmanagement der Bundeswehr der Klägerin nach vorheriger Beteiligung des Personalrates, der Schwerbehindertenvertretung und der Gleichstellungsbeauftragten mit, dass beabsichtigt sei, sie auf ihre Dienstfähigkeit hin untersuchen zu lassen. Am 08.11.2016 wurde das Gesundheitsamt mit der Begutachtung der Dienstfähigkeit der Klägerin beauftragt. Auf Nachfrage des Gesundheitsamtes übersandte das Bundeswehrdienstleistungszentrum eine Aufstellung der denkbaren Tätigkeiten der Klägerin im Sinne einer „Arbeitsplatzbeschreibung“.

Ausweislich des amtsärztlichen Zeugnisses des Facharztes für öffentliches Gesundheitswesen des Gesundheitsamtes vom 04.05.2017 seien konkrete Aussagen zum positiven und negativen Leistungsbild der Klägerin zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. Derzeit werde bei der Klägerin eine Wiederherstellung der Dienstfähigkeit/Teildienstfähigkeit für möglich gehalten. Das Ergebnis einer von der Klägerin vor kurzem begonnenen tagesklinischen Behandlung bleibe abzuwarten. Es werde eine Nachbegutachtung in ca. drei Monaten empfohlen.

In dem auf den Nachbegutachtungsauftrag der Beklagten vom 16.08.2017 erstellten amtsärztlichen Gutachten des Gesundheitsamtes vom 20.08.2018 wird ausgeführt, dass die Klägerin am 27.09.2017 und – wegen einer längeren krankheitsbedingten Abwesenheit des begutachtenden Arztes – erneut am 12.07.2018 begutachtet worden sei. Bei der Klägerin habe sich die häufig gegenseitig negativ verstärkend auswirkende Kombination aus Multipler Sklerose und einer rezidivierenden depressiven Störung entwickelt. Auch eine im Jahr 2016 erfolgte 3-monatige tagesklinische psychiatrische Behandlung am Wohnort habe leider nicht zu der gewünschten Befundstabilisierung geführt. Die Stimmung werde von der Klägerin aktuell weiterhin als deutlich gedrückt beschrieben. In Anbetracht der überwiegend depressiven Stimmungslage und den im Zusammenhang mit der MS unverändert auftretenden Gelenkbeschwerden und neurologischen Funktionsstörungen stelle die Betreuung der inzwischen 3 und 6 ½ Jahre alten Kinder und die Haushaltsführung für die Klägerin als alleinerziehende Mutter eine große Herausforderung dar. Insbesondere bei den aktuell herrschenden sehr warmen Außentemperaturen schildere die Klägerin eine allgemeine Kraftminderung, eine rasche körperliche und mentale Erschöpfung/Ermüdung, gelegentliche Wortfindungsstörungen sowie verstärkte periphere Gefühlsstörungen. Zusammenfassend sei bei der Klägerin auch weiterhin von einer Dienstunfähigkeit auszugehen. Die aktuell deutlich eingeschränkte Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit und der bisherige Krankheitsverlauf ließen weder aktuell noch in den nächsten 6 Monaten eine Wiederherstellung der vollen Dienstfähigkeit für die bisherige Tätigkeit an einem leidensgerechten Arbeitsplatz erwarten. Für einen anderweitigen Einsatz im Sinne des § 44 Abs. 2 BBG sei ihr Leistungsvermögen auch bei Nutzung aller zur Verfügung stehenden Hilfen nicht ausreichend. Auch für eine begrenzte Dienstfähigkeit seien die gesundheitlichen Voraussetzungen bei er Klägerin nicht gegeben. Es werde empfohlen, die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen.

Mit Schreiben vom 18.09.2018 teilte das Bundesamt für Personalmanagement der Bundeswehr der Klägerin mit, dass aufgrund des ärztlichen Gutachtens des Gesundheitsamtes vom 12.07.2018 festgestellt werde, dass bei ihr eine Dienstunfähigkeit im Sinne des § 44 Abs. 1 BBG vorliege. In dem Gutachten werde festgestellt, dass sie auf Dauer nicht mehr in der Lage sei, ihren Dienst wahrzunehmen. Eine Wiederherstellung einer auch nur annähernden Dienstfähigkeit sei praktisch ausgeschlossen. Daher komme ein Absehen von der Zurruhesetzung gem. § 44 Abs. 1 Satz 3 BBG nicht in Betracht. Eine anderweitige Verwendung sei aufgrund der im Gutachten aufgezeigten Gesundheitsstörungen auszuschließen. Es sei daher beabsichtigt, sie in den Ruhestand zu versetzen, wogegen sie innerhalb eines Monats Einwendungen erheben könne. Eine Nachuntersuchung zwecks Prüfung der erneuten Berufung in das Beamtenverhältnis gemäß § 46 BBG sei nach zwei Jahren vorgesehen. Eine Durchschrift des Schreibens ging auch an die Vertrauensperson der schwergehinderten Menschen und die Gleichstellungsbeauftragte beim Bundeswehr-Dienstleistungszentrum.

Mit Schreiben vom 17.10.2018 beantragte die Klägerin den Personalrat zu beteiligen. Dieser erklärte, sich zur Sache nicht äußern zu wollen.

Am 21.01.2019 beantragte die Klägerin beim Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr die Einrichtung eines Telearbeitsplatzes. Durch die Durchführung von Telearbeit sei es ihr möglich, ihre Arbeit von zu Hause und auf ihre Situation angepasst zu erledigen. Durch diese Maßnahme könne verhindert werden, sie vorzeitig in den Ruhestand zu versetzen. Der Antrag wurde ausweislich des beigezogenen Behördenvorgangs am 07.03.2019 zuständigkeitshalber an die Beschäftigungsdienststelleder Klägerin in weitergeleitet.

Mit Bescheid vom 15.03.2019 versetzte das Bundesamt für Personalmanagement der Bundeswehr die Klägerin wegen dauernder Dienstunfähigkeit in den Ruhestand. Gemäß dem ärztlichen Gutachten des Gesundheitsamtes vom 12.07.2018 sei mit Verfügung vom 18.09.2018 festgestellt worden, dass bei ihr eine Dienstunfähigkeit gem. § 44 Abs. 1 Satz 2 BBG vorliege.

Hiergegen erhob die Klägerin am 21.03.2019 Widerspruch. Die Versetzung in den Ruhestand sei rechtswidrig. Ihr Einsatz auf einem Telearbeitsplatz sei problemlos möglich.

Mit Widerspruchsbescheid vom 06.12.2019 wies das Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Das Gesundheitsamt komme zu dem zusammenfassenden Ergebnis, dass bei der Klägerin auch weiterhin von einer Dienstunfähigkeit auszugehen sei. Die deutlich eingeschränkte Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit und der bisherige Krankheitsverlauf ließen eine Wiederherstellung der vollen Dienstfähigkeit für die bisherige Tätigkeit an einem leidensgerechten Arbeitsplatz nicht erwarten. Für einen anderweitigen Einsatz im Sinne des § 44 Abs. 2 BBG sei ihr Leistungsvermögen auch bei Nutzung aller zur Verfügung stehenden Hilfen, was folglich auch die Ausübung von Telearbeit beinhalte, nicht ausreichend. Der Antrag auf Ausübung von Telearbeit indiziere keinen Ablehnungsbescheid. Er habe keine Aussicht auf Erfolg, da ein Antrag auf Telearbeit grundsätzlich Dienstfähigkeit voraussetze, die jedoch gemäß dem amtsärztlichen Gutachten vom 20.08.2018 nicht gegeben sei. Auch für eine begrenzte Dienstfähigkeit gem. § 45 Abs. 1 BBG seien die gesundheitlichen Voraussetzungen nicht gegeben. Das amtsärztliche Gutachten sei schlüssig und nachvollziehbar. Es berücksichtige neben den beim Gesundheitsamt durchgeführten Untersuchungen am 27.09.2017 und 12.07.2018 zusätzlich angeforderte ärztliche Befunde und Rücksprachen mit den behandelten Fachärzten und Therapeuten. Vor diesem Hintergrund gebe es keine Perspektive, dass die Klägerin wieder einen Gesundheitszustand erlange, auch nicht durch die Ausübung von Telearbeit, der sie in die Lage versetzen würde, den Dienst wiederaufzunehmen und sich kontinuierlich in den Dienstbetrieb einzubringen.

Die Klägerin hatte bereits am 08.08.2019 Klage erhoben. Die Beklagte habe ihren Antrag auf Telearbeit in ihren Entscheidungen vollkommen unberücksichtigt gelassen. Dies gelte auch für das zugrundeliegende Gutachten des Gesundheitsamtes. Es sei ihr problemlos möglich, ihre Arbeit im Rahmen der Telearbeit von zu Hause aus zu erledigen. Die Beklagte habe dies noch nicht einmal überprüft, wozu sie vor einer endgültigen Zurruhesetzung jedoch verpflichtet gewesen sei.


Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 15.03.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.12.2019 aufzuheben.


Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie nimmt Bezug auf die angefochtene Entscheidung.

Mit Schreiben vom 12.10.2021 hat die Klägerin dem Leiter des Dienstleistungszentrums mitgeteilt, dass sich ihr Gesundheitszustand erheblich verbessert habe und sie sich in der Lage sehe, den Dienst wiederaufzunehmen. Mit Schreiben vom 10.11.2021 hat das Bundesamt der Klägerin geantwortet, dass ihr Schreiben als Antrag auf Reaktivierung gem. § 46 Abs. 5 BBG gewertet werde und eine erneute amtsärztliche Untersuchung beauftragt. Der Personal- und Vertrauensärztliche Dienst ist nach Begutachtung der Klägerin am 15.02.2022 zu dem Ergebnis gekommen, dass die Klägerin aus medizinischer Sicht dienstfähig sei. Eine Reaktivierung ist nach den Angaben der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung bisher nicht erfolgt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

I. Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 15.03.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.12.2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Es steht zur Überzeugung des Gerichts nicht fest, dass die Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides am 06.12.2019 dienstunfähig war.

a) Gemäß § 44 Abs. 1 BBG ist eine Beamtin auf Lebenszeit in den Ruhestand zu versetzen, wenn sie oder er wegen des körperlichen Zustandes oder aus gesundheitlichen Gründen zur Erfüllung der Dienstpflichten dauernd unfähig (dienstunfähig) ist. Als dienstunfähig kann auch angesehen werden, wer infolge Erkrankung innerhalb von sechs Monaten mehr als drei Monate keinen Dienst getan hat, wenn keine Aussicht besteht, dass innerhalb weiterer sechs Monate die Dienstfähigkeit wieder voll hergestellt ist. In den Ruhestand wird nicht versetzt, wer anderweitig verwendbar ist.

Bei der Dienstunfähigkeit handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der der uneingeschränkten Nachprüfung der Verwaltungsgerichte unterliegt. Für die Feststellung der gesundheitsbedingten Einschränkungen der Leistungsfähigkeit eines Beamten kommt dem Dienstherrn kein der Kontrollbefugnis der Gerichte entzogener Beurteilungsspielraum zu (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.06.2014 - 2 C 22.13, juris Rn. 17). Zur Beurteilung der Dienstfähigkeit müssen die gesundheitlichen Leistungsbeeinträchtigungen festgestellt und deren prognostische Entwicklung bewertet werden. Dies setzt in der Regel medizinische Sachkunde voraus, über die nur ein Arzt verfügt. Dementsprechend sieht § 47 Abs. 1 Satz 1 BBG vor, dass der Dienstherr seine Einschätzung auf der Grundlage eines ärztlichen Gutachtens zu treffen hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.11.2017 – 2 A 5/16, juris Rn. 22). Ein ärztliches Gutachten soll dem Dienstherrn die Entscheidung darüber ermöglichen, ob der Beamte zur Erfüllung seiner Dienstpflichten dauernd unfähig ist und welche Folgerungen aus einer bestehenden Dienstunfähigkeit gegebenenfalls zu ziehen sind. Das setzt voraus, dass ärztliche Gutachten zur Frage der Dienstunfähigkeit hinreichend und nachvollziehbar begründet sind. Ein im Zurruhesetzungsverfahren verwendetes amtsärztliches Gutachten muss nicht nur das Untersuchungsergebnis mitteilen, sondern auch die das Ergebnis tragenden Feststellungen und Gründe, soweit deren Kenntnis für die Behörde unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für die Entscheidung über die Zurruhesetzung erforderlich ist. Danach muss das Gutachten sowohl die notwendigen Feststellungen zum Sachverhalt, d. h. die in Bezug auf den Beamten erhobenen Befunde, enthalten als auch die aus medizinischer Sicht daraus abzuleitenden Schlussfolgerungen für die Fähigkeit des Beamten, sein abstrakt-funktionelles Amt weiter auszuüben. Es muss dem Beamten ermöglichen, sich mit den Feststellungen und Schlussfolgerungen des Arztes und der darauf beruhenden Entscheidung des Dienstherrn auseinanderzusetzen. Deshalb darf sich das Gutachten nicht auf die bloße Mitteilung einer Diagnose und eines Entscheidungsvorschlags beschränken, sondern muss die für die Meinungsbildung des Amtsarztes wesentlichen Entscheidungsgrundlagen erkennen lassen. Wie detailliert eine amtsärztliche Stellungnahme danach jeweils sein muss, enthält sich einer verallgemeinerungsfähigen Aussage. Entscheidend kommt es auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalles an (vgl. BVerwG, Beschl. v. 20.01.2011 – 2 B 2/10, juris Rn. 5; OVG Bremen, Urt. v. 30.07.2014 – 2 A 281/12, juris Rn. 38).

b) Diesen Anforderungen genügt das von der Beklagten für die streitgegenständlichen Bescheide maßgeblich herangezogene amtsärztliche Gutachten vom 20.08.2018 nicht.

aa) Das Gutachten begründet die im Ergebnis angenommene Dienstunfähigkeit der Klägerin nicht hinreichend nachvollziehbar. Entgegen der im Begutachtungsauftrag vom 08.11.2016 formulierten Fragestellungen enthält das Gutachten schon kein positives und kein nachvollziehbares negatives Leistungsbild der Klägerin. In der ersten Stellungnahme des Amtsarztes vom 04.05.2017 werden konkrete Aussagen zum positiven und negativen Leistungsbild bei fortbestehender Dienstunfähigkeit und laufender tagesklinischer Behandlung als derzeit nicht möglich bezeichnet, in der zweiten Begutachtung werden solche nicht nachgeholt. Bei der Beschreibung des positiven und negativen Leistungsbildes handelt es sich jedoch um für die Beurteilung der Dienstunfähigkeit der Klägerin notwendige Informationen. Soweit die Beklagte in der mündlichen Verhandlung hiergegen ausgeführt hat, dass es keiner weiteren Erläuterung des Gutachters bedurft habe, da dieser ausweislich seines Ergebnissatzes davon ausgegangen sei, dass die Klägerin keinerlei dienstliche Tätigkeiten ausüben könne, kann dem nicht gefolgt werden. Dem steht bereits entgegen, dass der Gutachter der Klägerin ausweislich seiner Ausführungen lediglich eine „aktuell deutlich eingeschränkte Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit“ attestiert hat. Das damit bei der Klägerin zugleich verbliebene Leistungs- und Belastungspotenzial hätte - dem Begutachtungsauftrag folgend - positiv umschrieben werden müssen, um das zusammenfassende Gesamtergebnis einer Dienstunfähigkeit hinreichend nachvollziehbar zu machen. Insgesamt fehlt es dem Gutachten an jeglichem Bezug zur Dienstausübung bzw. etwaigen dienstlichen Tätigkeiten der Klägerin. Eine über die Befunderhebung hinausgehende Darstellung der aus medizinischer Sicht daraus abzuleitenden Schlussfolgerungen für die Fähigkeit der Klägerin, die mit der Ausübung ihres Amtes verbundenen Aufgaben zu erfüllen, findet nicht statt. Das Gutachten beschreibt vielmehr im Wesentlichen eine von der Fähigkeit zur Amtsausübung losgelöste allgemeine Überforderungssituation, indem ausgeführt wird, dass die Klägerin ihre Stimmung aktuell weiterhin als deutlich gedrückt beschreibe, dann zur herausfordernden Betreuungssituation der alleinerziehenden Klägerin überleitet und weitere Befunde in Zusammenhang mit den aktuell sehr warmen Außentemperaturen stellt. So wird die dann zusammenfassend festgestellte Dienstunfähigkeit nicht plausibel und hinreichend nahvollziehbar begründet.

bb) Zudem beschränkt sich die von der Beklagten in dem streitgegenständlichen Bescheid übernommene Aussage des Gutachtens zu der in den nächsten sechs Monaten nicht zu erwartenden Wiederherstellung der vollen Dienstfähigkeit der Klägerin auf deren „bisherige Tätigkeit an einem leidensgerechten Arbeitsplatz“ und damit lediglich auf das Amt der Klägerin im konkret-funktionellen Sinn (ggf. mit leidensgerechten Anpassungen). Maßstab für die Beurteilung der Dienstunfähigkeit ist jedoch nicht das von dem Beamten zuletzt wahrgenommene Amt im konkret-funktionellen Sinn (Dienstposten), sondern das Amt im abstrakt-funktionellen Sinn (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 30.07.2014 – 2 A 281/12, juris Rn. 33), so dass das Gutachten und die angegriffenen Entscheidungen der Beklagten auch in diesem Punkt für eine verlässliche Beantwortung der Frage der Dienstunfähigkeit zu kurz greifen.

cc) Letztlich beruht das Gutachten auch auf einer unzureichenden bzw. unklaren Tatsachengrundlage, indem nicht deutlich wird, welche Anpassungsmöglichkeiten bei der angenommenen Tätigkeit an einem „leidensgerechten Arbeitsplatz“ bzw. der „Nutzung aller zur Verfügung stehenden Hilfen“ tatsächlich in den Blick genommen wurden. Insbesondere bleibt unklar, ob hierbei auch die nach der Begutachtung von der Klägerin aufgeworfene Option der Telearbeit hinreichend berücksichtigt wurde. Die Klägerin hat als schwerbehinderter Mensch Anspruch auf eine behinderungsgerechte Gestaltung ihres Arbeitsplatzes und der Arbeitsorganisation in den Grenzen der Zumutbarkeit (§ 164 Abs. 4 Nr. 4 SGB IX). Insoweit genügt die Beklagte ihren Pflichten nicht damit, sich auf die pauschalen Ausführungen des Amtsarztes zu beziehen und diese sodann auf den später gestellten Antrag auf Telearbeit zu übertragen. Jedenfalls wenn bei der Klägerin, wie hier, aus medizinischer Sicht ein noch bestehendes (Rest-)Leistungsvermögen festgestellt wurde, hätte es einer genaueren Betrachtung bedurft, inwieweit sich die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin auch unter der Ermöglichung von Telearbeit auf den Dienstbetrieb auswirken.

c) Vor diesem Hintergrund kommt eine weitere Beweisaufnahme seitens des Gerichts nicht in Betracht. Nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO obliegt den Tatsachengerichten die Pflicht, jede mögliche Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts bis zur Grenze der Zumutbarkeit zu versuchen, sofern dies für die Entscheidung des Rechtstreits erforderlich ist. Dabei entscheidet das Tatsachengericht über die Art der heranzuziehenden Beweismittel und den Umfang der Beweisaufnahme im Rahmen seiner Pflicht zur Sachverhaltsermittlung von Amts wegen nach Ermessen.

aa) Die gerichtliche Aufklärungspflicht endet aber, wenn - wie hier - eine weitere Sachverhaltsaufklärung tatsächlich unmöglich ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 05.11.2013 - 2 B 60/13, juris Rn. 8). Nach Auffassung der Kammer ist vorliegend auszuschließen, dass ein sachverständiger Gutachter die Dienstunfähigkeit der Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt des 06.12.2019 mit der gebotenen Verlässlichkeit rückwirkend zu beurteilen vermögen könnte. Hierfür wurde auch seitens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung nichts vorgetragen. Dies gilt umso mehr, als bei der Erstellung eines Gutachtens der persönliche Eindruck des Arztes von der Probandin zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt eine ausschlaggebende Rolle spielt. Eine nachholende Begutachtung kann jedoch insbesondere dann zu keinem belastbaren Ergebnis mehr führen, wenn sich der maßgebliche Gesundheitszustand der Probandin - wie vorliegend ausweislich des Gutachtens vom 15.02.2022 - im Laufe der Zeit maßgeblich verbessert hat (vgl. VG Düsseldorf, Urt. v. 12.12.2014 – 13 K 6791/13, juris Rn. 52). Dies gilt jedenfalls dann, wenn sich der Zeitpunkt der maßgeblichen Gesundheitsbesserung wie hier nicht mit der erforderlichen Gewissheit – etwa anhand medizinischer Unterlagen – bestimmen lässt. In dieser Hinsicht ist zu berücksichtigen, dass das Gutachten vom 20.08.2018 die damalige Dienstunfähigkeitsprognose im Wesentlichen auf eine „diffuse“ psychische Destabilisierungssituation der Klägerin gestützt hat. Eine nachträgliche – hinreichend verlässliche – Beurteilung der Auswirkungen der bei der Klägerin angenommenen depressiven Störung zum 06.12.2019, die sich im Kern auf eine Befragung der Klägerin zu ihrer damaligen psychischen Lage stützen müsste, hält die Kammer für ausgeschlossen. Hinzu kommt, dass ausweislich der fachärztlichen Stellungnahmen auch der Krankheitsverlauf einer Multiplen Sklerose nicht vorhersagbar ist bzw. kein Krankheitsverlauf dem anderen gleicht und die Erkrankung meist in Schüben, bei der Klägerin wellenförmig, verlief. Nach alledem ist insbesondere die für die Beurteilung der Dienstunfähigkeit zwingend notwendige Nachholung der hinreichend belastbaren Beschreibung eines positiven und negativen Leistungsbildes der Klägerin jedenfalls für einen nunmehr drei Jahre zurückliegenden Zeitpunkt als unmöglich anzusehen.

bb) Schließlich macht auch das den Grundsatz der Amtsermittlung begrenzende Verhalten der Beteiligten, hier der Beklagten, in dem vorliegenden Fall eine weitere gerichtliche Aufklärung entbehrlich. Die Beklagte hat hier zum einen durch die Nichtbearbeitung des Antrags der Klägerin auf Einrichtung eines Telearbeitsplatzes vom 21.01.2019 und zum anderen das Unterlassen einer nach § 46 Abs. 1 Satz 2 BBG gebotenen Nachbegutachtung der Klägerin jeweils gegen ihr gegenüber der Klägerin obliegende Pflichten verstoßen. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 BBG ist der Dienstherr grundsätzlich verpflichtet, in regelmäßigen Abständen das Vorliegen der Voraussetzungen der Dienstfähigkeit zu überprüfen, insbesondere ob diese weiterhin vorliegen, wobei der zeitliche Abstand der Überprüfungen in der Regel nicht mehr als zwei Jahre betragen sollte (vgl. BT-Dr. 16/7076, S. 112). Dem entsprechend hatte die Beklagte der Klägerin in ihrem Schreiben vom 18.09.2018 angekündigt, dass eine Nachuntersuchung nach zwei Jahren vorgesehen sei. Vom Zeitpunkt der Erstellung des den streitgegenständlichen Bescheiden zugrundeliegenden Gutachtens am 20.08.2018 war die Beklagte folglich zu einer erneuten Begutachtung der Dienstunfähigkeit der Klägerin ab dem 20.08.2020 verpflichtet. Eine solche erfolgte hier jedoch erst auf den Antrag der Klägerin vom 12.10.2021 am 15.02.2022 mit dem Ergebnis des Gutachtens vom 01.04.2022, dass die Klägerin aus medizinischer Sicht (wieder) dienstfähig sei. Vor diesem Hintergrund oblag es zunächst dem Pflichtenkreis der Beklagten, durch ihr Mitwirken die Frage der Dienstunfähigkeit der Klägerin bzw. die zu deren Beurteilung erforderlichen medizinischen Einschätzungen auch über den Zeitpunkt der letzten (unzureichenden) Begutachtung hinaus zu aktualisieren.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.

Referenznummer:

R/R9843


Informationsstand: 31.03.2025