Urteil
Krankheitsbedingte Kündigung wegen langanhaltender Krankheit

Gericht:

BAG


Aktenzeichen:

2 AZR 558/99


Urteil vom:

21.02.2001


Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer ordentlichen Arbeitgeberkündigung und ggf. um die Verpflichtung der Beklagten zur Wiedereinstellung des Klägers.

Der am 13. März 1964 geborene Kläger war seit 1985 bei der Beklagten, die eine Fleischwarenfabrik betreibt und dem betrieblichen Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes unterfällt, als Betriebswerker in der Schweinegrobzerlegung beschäftigt. Sein Monatsverdienst betrug zuletzt ca. 4000,00 DM brutto.

Vom 14. März 1996 bis zum 4. März 1997 war der Kläger durchgehend wegen chronischer Gastritis und Appendizitis arbeitsunfähig erkrankt. Am 12. März 1996 hatte sich der Kläger einer Blinddarmoperation unterziehen müssen. Auf Grund von Verwachsungsbeschwerden wurde am 13. Juni 1996 ein weiterer operativer Eingriff durchgeführt. In der Folgezeit stand der Kläger wegen Übelkeit und Magenschmerzen in ärztlicher Behandlung. Eine am 15. Januar 1997 durchgeführte Untersuchung des Klägers durch den Medizinischen Dienst ergab, dass voraussichtlich für absehbare Zeit weiter Arbeitsunfähigkeit bestehe, die nächste Arztanfrage wurde in zwei Wochen empfohlen. Anlässlich einer internistischen Untersuchung vom 22. Januar 1997 stellte der behandelnde Arzt ua. eine leichte Entzündung im Magenausgangsbereich fest, ferner das Bild eines colon irritabile, d.h. nervlich-seelische Störeinflüsse auf den Dickdarmbereich, durch die subjektive Beschwerden entstehen, sowie Hinweise auf Störungen im psycho-sozialen Bereich.

Am 24. Januar führte die Beklagte mit dem Kläger ein Fehlzeitengespräch. Auf die Frage, wann wieder mit seiner Arbeitskraft zu rechnen sei, erklärte der Kläger, er habe Schmerzen und müsse weiterhin zum Arzt in Behandlung gehen. Mit Schreiben vom 24. Januar 1997 hörte die Beklagte den bei ihr gebildeten Betriebsrat zu der beabsichtigten Kündigung an. Nachdem der Betriebsrat am 28. Januar 1997 widersprochen hatte, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers mit Schreiben vom 28. Januar 1997 ordentlich zum 30. April 1997

Anlässlich einer am 4. März 1997 durchgeführten erneuten Begutachtung stellte der Medizinische Dienst fest, dass der Kläger ab sofort arbeitsfähig sei, und empfahl diesem, bei ernsthaften psychischen Beschwerden einen Neurologen/Psychiater aufzusuchen, der seiner Muttersprache mächtig sei. Der Kläger arbeitete zunächst vom 5. März 1997 bis zum Ablauf der Kündigungsfrist am 30. April 1997. Nach Aufforderung durch die Beklagte nahm der Kläger seine Arbeit ab 21. Mai 1997 wieder auf und wird seither ohne wesentliche krankheitsbedingte Ausfallzeiten weiterbeschäftigt.

Vor Ausspruch der Kündigung hatte der Kläger unter dem 18. Oktober 1996 beim Versorgungsamt einen Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft gestellt. Mit Bescheid vom 31. Januar 1997 lehnte das Versorgungsamt den Antrag des Klägers ab. Innerhalb der Widerspruchsfrist ließ der Kläger die Beklagte mit Schreiben vom 17. Februar 1997 über die Antragstellung vom 18. Oktober 1996 unterrichten, nicht aber über die zwischenzeitlich erfolgte Ablehnung des Antrags. Einen Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid vom 31. Januar 1997 legte er nicht ein. Nach Ablauf der Widerspruchsfrist beantragte der Kläger mit am 4. April 1997 beim Versorgungsamt eingegangenen Schreiben vom 2. April 1997 die Rücknahme des Bescheids vom 31. Januar 1997 gemäß § 44 SGB X wegen unrichtiger Sachbehandlung. Die Beklagte erhielt hiervon auf Grund des Schriftsatzes des Klägers vom 30. April 1997 Kenntnis. Der Rücknahmeantrag wurde vom Versorgungsamt abgelehnt. Den hiergegen gerichteten Widerspruch des Klägers wies das Landesversorgungsamt zurück. Im sich anschließenden Verfahren schlossen der Kläger und das beklagte Land im November 1999 einen Vergleich, wonach sich das beklagte Land verpflichtete, über den Antrag vom 4. April 1997 neu zu entscheiden, dabei ausgehend von einem Grad der Behinderung des Klägers von 50 ab 18. Oktober 1996. In Ausführung dieses Vergleichs stellte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 16. Dezember 1999 einen Grad der Behinderung des Klägers von 50 ab 18. Oktober 1996 fest.

Mit seiner am 17. Februar 1997 beim Arbeitsgericht eingegangenen Kündigungsschutzklage hat der Kläger die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats mit Nichtwissen bestritten und die Auffassung vertreten, die Kündigung sei schon deshalb unwirksam, weil keine Zustimmung der Hauptfürsorgestelle vorliege. Sie sei aber auch sozialwidrig. Eine negative Zukunftsprognose sei nicht gerechtfertigt, nachdem er ab 5. März 1997 wieder arbeitsfähig gewesen sei. Hinsichtlich seiner oganischen Leiden, die der Arbeitsunfähigkeit zugrundegelegen hätten, habe eine positive Prognose bestanden. Der psychosomatische Anteil an seiner Erkrankung sei entgegen der Einschätzung des Gutachters für die Arbeitsunfähigkeit nicht ausschlaggebend gewesen. Zumindest könne nicht davon ausgegangen sein, seine Genesung sei völlig ungewiss gewesen. Die Beklagte habe außer den Entgeldfortzahlungskosten für die ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit zudem keine betrieblichen Beeinträchtigungen dargelegt. Schließlich hat der Kläger die Auffassung vertreten, eine etwaige negative Prognose habe sich jedenfalls noch während der Kündigungsfrist als unzutreffend erwiesen, weshalb ihm ein Anspruch auf Wiedereinstellung ab 1. Mai 1997 zustehe.

Der Kläger hat, soweit für die Revision von Bedeutung, beantragt,

1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien begründete Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 28. Januar 1997 aufgelöst worden ist,

2. hilfsweise, die Beklagte zu verurteilen, das Vertragsangebot des Klägers, gerichtet auf Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über den 30. April 1997 hinaus, anzunehmen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat unter Bezugnahme auf das Anhörungsschreiben vom 24. Januar 1997 vorgetragen, die Anhörung des Betriebsrats sei ordnungsgemäß erfolgt. Der Zustimmung der Hauptfürsorgestelle zur Kündigung habe es nicht bedurft, nachdem das Versorgungsamt den Antrag des Klägers auf Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft mit Bescheid vom 31. Januar 1997 bestandskräftig abgelehnt habe. Die Genesung des Klägers sei auf der Grundlage der festgestellten psychosomatischen Beeinflussung des Krankheitsbildes völlig ungewiss gewesen. Allein der Umstand, dass der Kläger nachträglich auf Veranlassung des Medizinischen Dienstes seine Arbeit wieder aufgenommen habe, vermöge hieran nichts zu ändern, da es auf die Verhältnisse im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung ankomme. Diese negative Prognose werde auch nicht durch das Gutachten des Medizinischen Dienstes vom 4. März 1997 widerlegt. Da die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers völlig ungewiss gewesen sei, komme es auf die Darlegung konkreter Beeinträchtigungen des Betriebsablaufs nicht an.

Der Kündigungsschutzantrag ist in erster und zweiter Instanz erfolglos geblieben. Das Landesarbeitsgericht hat dem im Berufungsrechtzug zusätzlich gestellten Hilfsantrag des Klägers auf Wiedereinstellung entsprochen. Dagegen richtet sich die vom Landesarbeitsgericht zugelassene Revision der Beklagten, während der Kläger mit seiner Anschlussrevision den Kündigungsschutzantrag weiter verfolgt.

Rechtsweg:

ArbG Herne, Urteil vom 15. September 1998 - 3 Ca 635/97
LAG Hamm, Urteil vom 24. Juni 1999 - 8 Sa 2071/98

Entscheidungsgründe:

Die Anschlussrevision des Klägers ist begründet. Die streitige Kündigung ist sozial ungerechtfertigt (§ 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG) und hat das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst. Über die Revision der Beklagten gegen ihre Verurteilung zur Wiedereinstellung des Klägers war deshalb nicht mehr zu entscheiden.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, nach der Diagnose und dem Therapieplan des behandelnden Arztes Dr. S. sei die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers im Zeitpunkt der Kündigung völlig ungewiss gewesen. Zwar könne dem eingeholten Sachverständigengutachten entnommen werden, dass bei Ausschöpfung sämtlicher objektiv zur Verfügung stehenden Therapiemöglichkeiten schon im Kündigungszeitpunkt eine Genesung keineswegs unabsehbar gewesen sei. Aus rechtlichen Gründen müsse aber auf die damalige Diagnose des behandelnden Arztes und die hieran anknüpfenden Therapiemöglichkeiten abgestellt werden. Durch das Tätigwerden des Medizinischen Dienstes sei ein neuer Kausalverlauf in Gang gesetzt worden, der bei der Beurteilung der sozialen Rechtfertigung der Kündigung unberücksichtigt bleiben müsse. Auch im übrigen seien die Voraussetzungen einer wirksamen Kündigung gegeben, allerdings sei die Beklagte zur Wiedereinstellung des Klägers verpflichtet.

II. Die Entscheidung des Berufungsgerichts hält den Angriffen der den Hauptantrag des Klägers betreffenden und deshalb vorrangig zu prüfenden Anschlussrevision nicht stand. Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts war im Kündigungszeitpunkt ein Ende der Arbeitsunfähigkeit des Klägers nicht unabsehbar und völlig ungewiss.

1. Das Landesarbeitsgericht hat die bei Zugang der Kündigung noch andauernde Erkrankung des Klägers allerdings zutreffend als langanhaltende Krankheit im Sinne der Senatsrechtsprechung beurteilt. Von einer langanhaltenden Krankheit geht nunmehr auch der Kläger aus. Die Überprüfung der sozialen Rechtfertigung einer Kündigung wegen langanhaltender Krankheit ist grundsätzlich in drei Stufen vorzunehmen (vgl. BAG 29. April 1999 - 2 AZR 431/98 - BAGE 91, 271, 276 f.), wobei in der ersten Prüfungsstufe eine negative Prognose hinsichtlich des weiteren voraussichtlichen Gesundheitszustandes erforderlich ist.

2. Der Annahme des Landesarbeitsgerichts, im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung sei die Prognose gerechtfertigt gewesen, der Kläger werde auch weiterhin auf unabsehbare Dauer krankheitsbedingt mit seiner Arbeitskraft ausfallen, folgt der Senat nicht. Der Kläger rügt die Beweiswürdigung durch das Landesarbeitsgericht zu Recht als fehlerhaft (§ 286 ZPO).

a) Maßgebliche Beurteilungsgrundlage für die Rechtmäßigkeit einer Kündigung sind die objektiven Verhältnisse im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung. Das gilt auch für die bei einer krankheitsbedingten Kündigung anzustellende Gesundheitsprognose. Die tatsächliche Entwicklung nach Kündigungsausspruch bis zum Ende der mündlichen Verhandlung kann nicht zur Bestätigung oder Korrektur der Prognose verwertet werden (BAG 29. April 1999 - 2 AZR 431/98 - aaO, 278 f.). Aus diesem Grund kann ein neuer Kausalverlauf, der nach Zugang der Kündigung eingetreten ist, nicht berücksichtigt werden. Ein neuer Kausalverlauf besagt nichts über die objektive Richtigkeit der zum Kündigungszeitpunkt erstellten Prognose. Unerheblich ist dehalb, ob der neue Kausalverlauf durch subjektiv vom Arbeitnehmer beeinflussbare Umstände ausgelöst wurde, wie z.B. eine vom Arbeitnehmer zuvor abgelehnte Operation bzw. Therapie oder eine Änderung der bisherigen Lebensführung, oder durch außerhalb seines Einflussbereichs liegende Umstände, wie z.B. die Entwicklung oder das Bekanntwerden einer neuen Heilmethode oder die Anwendung eines schon bekannten, aber vom behandelnden Arzt nicht erwogenen Heilmittels erst nach Ausspruch der Kündigung (BAG 9. April 1987 - 2 AZR 210/86 - AP KSchG 1969 Krankheit Nr. 18 = EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 18, zu B III 3 der Gründe; 6. September 1989 - 2 AZR 118/89 - AP KSchG 1969 Krankheit Nr. 22 = EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 27, zu B II 2 b bb der Gründe; 5. Juli 1990 - 2 AZR 154/90 - AP KSchG 1969 Krankheit Nr. 26 = EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 32, zu II 1 c aa der Gründe.

b) Nicht zu beanstanden ist es, dass das Landesarbeitsgericht bei der Gesundheitsprognose nicht maßgeblich auf die am 22. Januar 1997 diagnostizierte Magenentzündung, deren Ausheilung unter der medikamentösen Behandlung innerhalb von 10 Tagen zu erwarten war, sondern wesentlich auf die psychische Erkrankung abgestellt hat. Soweit es allerdings aus der Einschätzung des behandelnden Arztes Dr. S., der ausweislich seiner Stellungnahme vom 27. Januar 1999 eine Behandlung der psychischen Erkrankung als aussichtslos angesehen und im Kündigungszeitpunkt offensichtlich keine psychiatrische Therapie in Erwägung gezogen hatte, eine negative Prognose für begründet erachtet, kann dem nicht gefolgt werden.
Das Landesarbeitsgericht geht einerseits unter Bezugnahme auf die ergänzende Stellungnahme des Gutachters Dr. H. vom 22. Februar 1999 - bei der Prüfung des Wiedereinstellungsanspruchs - davon aus, dass bei der gegebenen hypochondrischen Fixierung ein mit ärztlicher Autorität vorgetragender Hinweis, die Beschwerden rechtfertigen keine dauerhafte Krankschreibung, bereits im Kündigungszeitpunkt eine Wende des Krankheitsgeschehens herbeigeführt, also ein mäßiger "therapeutischer Druck" auf den Kläger genügt hätte, die vorangegangene Arbeitsunfähigkeit zu beenden. Es beurteilt die künftige Entwicklung der Fehlzeiten des Klägers andererseits aber nur in Abhängigkeit von der Einschätzung und dem Behandlungsplan des Hausarztes Dr. S. dem Landesarbeitsgericht ist zwar zuzustimmen, dass der Arbeitnehmer grundsätzlich das Risiko einer Fehldiagnose des behandelnden Arztes trägt. Sprechen aber schon im Zeitpunkt der Kündigung objektive Umstände dafür, dass die Arbeitsunfähigkeit unabhängig von einer solchen Fehldiagnose voraussichtlich oder möglicherweise von absehbarer Dauer sein wird, kann keine negative Prognose gestellt werden. Insoweit hat das Landesarbeitsgericht den Inhalt des sozialmedizinischen Gutachtens vom 17. Januar 1997 nicht gewürdigt und deshalb rechtsfehlerhaft angenommen, durch das Tätigwerden des Medizinischen Dienstes am 4. März 1997 sei nachträglich ein neuer Kausalverlauf in Gang gesetzt worden. Aus dem Gutachten vom 17. Januar 1997 ist zu entnehmen, dass die Arbeitsunfähigkeit des Klägers voraussichtlich für absehbare Dauer weiter bestehe, wobei ausschließlich auf organische Restbeschwerden abgestellt wird; ferner wird die nächste Arztanfrage in zwei Wochen empfohlen. Daraus ist zu schließen, dass eine zeitnahe weitere von der Krankenkasse veranlasste Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit durch den Medizinischen Dienst voraussehbar war. Ebenfalls absehbar war das Abklingen der zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden organischen Restbeschwerden. Der durch das Tätigwerden des Medizinischen Dienstes am 4. März 1997 ausgeübte therapeutische Druck, durch den die psychische Erkrankung des Klägers positiv beeinflusst wurde, war daher unabhängig von der weiteren Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Klägers durch seinen Hausarzt schon im Kündigungszeitpunkt objektiv angelegt; ein neuer Kausalverlauf kann entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgericht in der Feststellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers durch den Medizinischen Dienst am 4. März 1997 nicht gesehen werden. Die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers war nach den objektiven Umständen im Zeitpunkt der Kündigung daher allenfalls bis zur nächsten Überprüfung durch den Medizinischen Dienst ungewiss.

3. Fehlt es somit schon an der erforderlichen negativen Gesundheitsprognose im Kündigungszeitpunkt, ist die streitige Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 Satz KSchG der vorherigen Zustimmung der Hauptfürsorgestelle bedurft hätte und ob die Beklagte den Betriebsrat gemäß § 102 Abs. 1 BetrAVG ordnungsgemäß angehört hatte, kommt es demnach nicht mehr an.

Referenznummer:

R/R1618


Informationsstand: 26.06.2002