Urteil
Bewilligung einer Zuwendung für die Zahlung einer Ausgleichsabgabe nach § 77 SGB IX

Gericht:

OVG Sachsen 4. Senat


Aktenzeichen:

4 A 547/15 | OVG 4 A 547/15


Urteil vom:

21.06.2016


Grundlage:

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 2. September 2015 - 1 K 764/13 - wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.
Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Berufung richtet sich gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts, mit dem eine Klage auf Verpflichtung der Beklagten zur Bewilligung einer Zuwendung für die Zahlung einer Ausgleichsabgabe nach § 77 SGB IX für das Jahr 2013 abgewiesen wurde.

Die Klägerin ist eine gemeinnützige GmbH und Trägerin der freien Jugendhilfe. Sie betreibt vier Kindertagesstätten sowie ein Kinder- und Jugendhaus. Insgesamt beschäftigt sie ungefähr 100 Arbeitnehmer. Für das Jahr 2013 beantragte sie eine Zuwendung nach § 11 SGB VIII für das Projekt Kinder- und Jugendhaus i. H. v. 193.158,32 Euro zuzüglich des streitgegenständlichen Betrags von 350, - Euro. Dieser ist ein Teil der Ausgleichsabgabe nach § 77 SGB IX, der von der Klägerin erhoben wird, weil sie nicht die gesetzlich vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen beschäftigt. Die Klägerin verteilt diese Ausgleichsabgabe rechnerisch auf ihre einzelnen Einrichtungen und Projekte. Dabei entfallen auf das Projekt 350,- Euro.

Mit Bescheid vom 22. Februar 2013 bewilligte die Beklagte eine Zuwendung für das Projekt der Jugendhilfe Kinder- und Jugendhaus i. H. v. 193.158,32 Euro in Form eines nicht rückzahlbaren Zuschusses als Festbetrag, schloss die Ausgaben der Klägerin für die Ausgleichsabgabe jedoch von der Förderung aus. Die Ausgleichsabgabe gehe zulasten der Klägerin, weil sie die gesetzlichen Vorgaben aus dem SGB IX nicht erfülle. Mit der Ausgleichsabgabe werde keine Leistung erbracht. Sie stehe auch nicht notwendig im Zusammenhang mit den geförderten Jugendhilfeprojekten und sei nicht erforderlich, um den Zuwendungszweck zu erfüllen. Der Widerspruch der Klägerin wurde insoweit mit Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 8. Mai 2013 zurückgewiesen.

Die Klägerin erhob am 6. Juni 2013 Klage vor dem Verwaltungsgericht. Sie trug vor, dass die Beklagte ihr Ermessen aus § 74 SGB VIII falsch ausgeübt habe. Dieses sei aus Gründen der Gleichbehandlung nach Art. 3 GG i. V. m. den Grundsätzen der Selbstbindung der Verwaltung auf Null reduziert. Die von der Klägerin betriebene Kindertagesstätte erhalte von der Beklagten Fördermittel, in die die Ausgleichsabgabe mit einkalkuliert sei. Die Ausgleichsabgabe sei förderfähig, weil auch im Fall der Einstellung von Schwerbehinderten sämtliche hierdurch entstehenden zusätzlichen finanziellen Belastungen, insbesondere auch die höheren Personalkosten förderfähig wären.

Die Beklagte trat der Klage entgegen. Wenn die Kommune als Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Ausgleichsabgabe als förderfähig anerkennen würde, käme dies einem Erlass gleich, was ihrer Antriebsfunktion widerspräche. Die Ausgleichsabgabe sei an
den Arbeitgeber gebunden, der sie aus eigenen Mittel leisten müsse. Die streitgegenständliche Projektförderung sei nicht der institutionellen Förderung von Kindertagesstätten gleichzusetzen.

Das Verwaltungsgericht wies mit Urteil vom 2. September 2015 - 1 K 764/13 - die Klage ab. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Auskehr von Fördermitteln für die im Jahr 2013 an das Integrationsamt gezahlte Ausgleichsabgabe nach § 77 SGB IX. Das Ermessen der Beklagten sei nicht auf Null reduziert. Die von der Klägerin betriebenen Kindertagesstätten stellten keine gleichartigen Maßnahmen nach § 74 Abs. 5 SGB VIII dar, weil sie einer institutionellen Förderung i. S. einer Globalförderung nach § 74a SGB VIII unterlägen. Die Ermessenentscheidung der Beklagten, bei der Projektförderung die Ausgleichsabgabe nicht als förderfähig einzustufen, um die Klägerin als Arbeitgeberin nicht durch die Verwendung öffentlicher Fördermittel von der hiermit verbundenen Antriebsfunktion zu entlasten, sei sachgerecht. Es fehle an einem sachlichen Zusammenhang zwischen der Durchführung des Projektes und der Ausgleichsabgabe.

Das Verwaltungsgericht ließ in seinem Urteil die Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zu. Die Klägerin legte gegen das ihr am 18. September 2015 zugestellte Urteil am 15. Oktober 2015 Berufung ein, die sie nach gewährter Fristverlängerung am 3. Dezember 2015 begründete.

Die Klägerin trägt vor, dass die Ausgleichsabgabe und ihre Förderfähigkeit in einem sachlichen Zusammenhang mit dem Projekt stünden. Wegen der Einheitlichkeit ihres Unternehmens müsse die Förderfähigkeit sowohl für die Kindertageseinrichtungen als auch für den elementaren und strukturellen Bestandteil des Kinder- und Jugendhauses anerkannt werden. Im Übrigen hätten der Klägerin nur in ganz seltenen Fällen Bewerbungen schwerbehinderter Menschen vorgelegen. Eine Bewerbung für eine Betreuerstelle im Kinder- und Jugendhaus habe es bisher noch nicht gegeben.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 2. September 2015 - 1 K 764/13 - zu ändern und die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Zuwendungsbescheids vom 22. Februar 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Mai 2013 zu verpflichten, ihr für das Jahr 2013 eine weitere Zuwendung für die Ausgleichsabgabe i. H. v. 350,00 Euro für das Projekt Kinder- und Jugendhaus zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte wiederholt und vertieft ihr Vorbringen vor dem Verwaltungsgericht. Bei der Ausgleichsabgabe handle es sich um eine projektfremde Ausgabe. Eine Anerkennung der Förderfähigkeit würde dazu führen, dass die Bereitschaft zur Einstellung Schwerbehinderter sänke. Grundsätzlich sei jedes Unternehmen unabhängig von seiner Größe, seiner Struktur oder seinem Gegenstand in der Lage, schwerbehinderte Menschen einzustellen. Die pauschale Abrechnungsmethode der 7 Klägerin belege, dass sie die erforderliche Einzelfallbetrachtung im Rahmen der Projektförderung nicht vorgenommen habe.

Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht und des Berufungsverfahrens sowie die beigezogenen Behördenakten verwiesen.

Rechtsweg:

VG Dresden, Urteil vom 02.09.2015 - VG 1 K 764/13
BVerwG, Urteil vom 28.09.2017 - 5 C 13.16

Quelle:

Justiz Sachsen

Entscheidungsgründe:

Die Berufung hat keinen Erfolg.

I. Zwar ist die Berufung zulässig. Insbesondere ist sie innerhalb der nach § 124 a Abs. 3 Satz 3 VwGO bis zum 3. Dezember 2015 verlängerten Frist begründet worden.

II. Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 22. Februar 2013 und ihr Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 2013 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO). Sie hat keinen Anspruch aus § 74 SGB VIII auf eine Zuwendung von 350,- Euro für die von ihr im Jahr 2013 entrichtete Ausgleichsabgabe nach § 77 SGB IX.

1. Die Klägerin hat aus § 74 Abs. 3 SGB VIII keinen Anspruch darauf, dass die Förderung ihres Kinder- und Jugendhauses die Erstattung der Ausgleichsabgabe umfasst. Nach § 74 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII entscheidet der Träger der öffentlichen Jugendhilfe im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel nach pflichtgemäßem Ermessen über die Art und Höhe der Förderung. Für eine Ermessensreduzierung auf Null bestehen keine Anhaltspunkte. Auch ist ein Ermessensfehlgebrauch der Beklagten nicht ersichtlich.

a) Nach § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB IX entrichten Arbeitgeber, welche die vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen nicht beschäftigen, für jeden unbesetzten Pflichtarbeitsplatz eine Ausgleichsabgabe. Diese Regelung ist verfassungsgemäß (BVerfG, Beschl., v. 1. Oktober 2004 - 1 BvR 2221/03 -, juris, Orientierungssätze 1a, 1b, 2 zu der Vorschrift in der damaligen Fassung im Schwerbehindertengesetz.)

b) Die Beklagte ist zutreffend davon ausgegangen, dass eine Übernahme der Ausgleichsabgabe dem Sinn und Zweck des § 77 SGB IX zuwider liefe. Nach § 71 Abs. 1 SGB IX besteht eine gesetzliche Verpflichtung zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen. Die Ausgleichsabgabe soll die Arbeitgeber anhalten, Schwerbehinderte einzustellen (Antriebsfunktion). Ferner sollen die Belastungen zwischen denjenigen Arbeitgebern, die dieser Verpflichtung genügen, und denjenigen, die diese Verpflichtung - aus welchen Gründen auch immer - nicht erfüllen, ausgeglichen werden (Ausgleichsfunktion) (vgl. BVerfG, Urt. v. 26. Mai 1981 - 1 BvL 56/78 u.a. -, juris Rn. 100, zu den Vorschriften des Schwerbehindertengesetzes). Die Antriebsfunktion wäre jedoch wirkungslos, wenn ein Unternehmen auf die Einstellung der vorgeschriebenen Zahl schwerbehinderter Arbeitnehmer verzichten könnte und dennoch letztlich nicht mit einer Ausgleichsabgabe belastet würde, weil ihm diese im Rahmen der Zuwendung von Fördermitteln erstattet würde.

c) Dem steht nicht der Umstand entgegen, dass bei der Beschäftigung Schwerbehinderter der Klägerin möglicherweise höhere Personalkosten entstünden, die dann in die Förderung der Beklagten einzubeziehen wären. In diesem Fall wären die Antriebsfunktion des § 77 SGB IX gewahrt und der Gesetzeszweck erreicht.

d) Auch ist es für die Ermessensausübung nicht relevant, ob und in welchem Umfang sich Schwerbehinderte bei der Klägerin bewerben. Die Verpflichtung aus § 77 SGB IX betrifft das allgemeine unternehmerische Risiko. Sie gilt für sämtliche Arbeitgeber und unabhängig davon, ob die fehlende Beschäftigung Schwerbehinderter auf deren Verschulden zurückzuführen ist.

e) In die Ermessensausübung war nicht einzustellen, dass für das Projekt Kinder- und Jugendhaus bei gesonderter Betrachtung keine Ausgleichsabgabe zu entrichten wäre. Die Pflicht aus § 77 SGB IX ist unternehmensbezogen. Dementsprechend zahlt die Klägerin die Ausgleichsabgabe für ihr gesamtes Unternehmen und legt die Kosten anteilig auf die einzelnen Angebote um.

f) Da die Ausgleichsabgabe nicht zu den generell erstattungsfähigen Kosten zählt, hat die Beklagte in ihrer Ermessensentscheidung zutreffend geprüft, ob ein Zusammenhang mit dem geförderten Jugendhilfeprojekt vorliegt, und dies mit richtigen Erwägungen verneint. Es handelt sich um Kosten, die wegen der Nichterfüllung der Verpflichtung der Klägerin aus § 71 Abs. 1 SGB IX entstanden sind und die ihre Ursache nicht in dem Betrieb des Kinder- und Jugendhauses haben.

2. Ein Anspruch auf Erstattung der Ausgleichsabgabe steht der Klägerin nicht aus § 74 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 5 SGB VIII zu. Zwar ist das Ermessen des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe aus § 74 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII dahin gebunden, dass bei der Förderung gleichartiger Maßnahmen mehrerer Träger unter Berücksichtigung ihrer Eigenleistungen gleiche Grundsätze und Maßstäbe anzulegen sind. Dies gilt ebenfalls für die Förderung gleichartiger Maßnahmen desselben Trägers der freien Jugendhilfe. Das Projekt Kinder- und Jugendhaus einerseits und die von der Klägerin betriebenen Kindertageseinrichtungen nach § 22 SGB VIII andererseits stellen aber keine gleichartigen Maßnahmen dar, weil Rechtsgrundlagen und Voraussetzungen einer Förderung unterschiedlich ausgestaltet sind.

a) Die Finanzierung von Kindertageseinrichtungen richtet sich gemäß § 74a SGB VIII nach Landesrecht. Nach den landesrechtlichen Vorgaben steht der Beklagten kein Ermessen zu. Die Personal- und Sachkosten einer Kindertageseinrichtung eines Trägers der freien Jugendhilfe werden nach § 14 Abs. 4 SächsKitaG aufgebracht durch die Gemeinde, einschließlich des Landeszuschusses, durch Elternbeiträge und durch den Eigenanteil des Trägers. Die Elternbeiträge werden nach § 15 Abs. 1 Satz 1 SächsKitaG von der Gemeinde in Abstimmung mit dem Träger der Kindertageseinrichtung und dem örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe festgesetzt; sie sollen nach § 15 Abs. 2 SächsKitaG bei Krippen 20% bis 23% und bei Kindergärten und Horten 20% bis 30% betragen. Nach § 14 Abs. 1 SächsKitaG sind Personal- und Sachkosten solche, die für den ordnungsgemäßen Betrieb einer Kindertageseinrichtung erforderlich sind. Hieraus folgt, dass die Beklagte - und zwar als Kommune und nicht als örtlicher Träger der öffentlichen Jugendhilfe - verpflichtet ist, einen Teil der Personal- und Sachkosten zu tragen.

b) Hingegen unterliegt ein Projekt der Jugendarbeit nach § 11 SGB VIII der Förderung nach § 74 SGB VIII. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe hat ein weites Ermessen, in welchem Umfang eine Förderung erfolgt. Anders als im Fall des § 24 SGB VIII, der einen Anspruch auf Förderung in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege statuiert, steht einem Kind oder Jugendlichen kein Anspruch darauf zu, dass eine konkrete Maßnahme der Jugendarbeit durchgeführt wird.

c) Zudem ist eine Gleichbehandlung nicht geboten, weil es zweifelhaft erscheint, ob es überhaupt rechtmäßig ist, den Kindertageseinrichtungen nach § 14 Abs. 1 SächsKitaG die Kosten für die Ausgleichsabgabe nach § 77 SGB IX zu erstatten. Diese Kosten sind nicht für den ordnungsgemäßen Betrieb der Kindertageseinrichtung erforderlich, sondern vielmehr auf eine Verletzung der Pflicht zur Beschäftigung Schwerbehinderter aus § 71 Abs. 1 SGB IX zurückzuführen. Es ist nicht erkennbar, dass es der Klägerin unmöglich war, schwerbehinderte Mitarbeiter einzustellen. Ihr Hinweis darauf, dass sich bei ihr nur selten Schwerbehinderte bewerben, und ihre Schilderung einzelner praktischer Schwierigkeiten bei einem beruflichen Einsatz Schwerbehinderter reichen insoweit nicht aus. Im Übrigen hat die Vertreterin der Beklagten in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass auch für den Bereich der Kindertageseinrichtungen die Ausgleichsabgabe nicht pauschal gewährt wird.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist nach § 188 VwGO gerichtskostenfrei.

Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Die Klärung der Frage, ob und inwieweit eine Förderpraxis zulässig ist, die auch Ausgleichsabgaben nach § 77 Abs. 1 SGB IX erstattet, hat wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung und Auslegung des Rechts.

Rechtsmittelbelehrung
Gegen das Urteil steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu.

Referenznummer:

R/R7716


Informationsstand: 08.05.2018